Wie
in hellblauen Kaffee gegossene, lauwarme Milch hängen die weißen Wolken am
Sommerhimmel. Die Vögel zwitschern lustlos, nur die Grillen zirpen
ohrenbetäubend und irgendwo mäht jemand den Rasen. Und das bei dieser
Julihitze. Ich sitze auf der Fensterbank, den Kopf an die Mauer gelehnt. Ich
habe nichts zu tun. Ich habe ja eigentlich nie etwas zu tun, doch heute ist
einer dieser Tage, an denen man vergeblich nach irgendeiner Beschäftigung
sucht, die einen auch nur im Entferntesten zu fesseln vermag.
Antriebslosigkeit. Gedankenverlorenheit. Unendlich träges Verstreichen der
sonst so zielstrebigen Zeit.
Ich stecke mir eine
Zigarette zwischen die Lippen, zünde sie an. Mechanisch. Es ist längst
Gewohnheit. Man gewöhnt sich an so vieles. An das Nichtstun. An die
Nutzlosigkeit. An die Einsamkeit. Die Leere.
Und irgendwann findet man
sich am Fensterbrett sitzend wieder, man lässt Zigarettenrauch lustlos
zwischen halb geöffneten Lippen ausströmen, von morgens bis abends, und
längst hat man jede Hoffnung verloren, je wieder so etwas wie Sinn erkennen
zu können in all dem, denke ich und rauche.
Gut
vierzig Meter unter mir schleppt sich der um diese Jahreszeit schmutzig
grüne Fluss dahin. Der Hang fällt steil zum Ufer hin ab. Wenn ich so sitze,
trennt mich nur der schmale Weg, der zur Haustüre und ums Haus herum in den
Garten führt, vom struppig mit Dornengeäst überwucherten Abgrund. Zwischen
den quadratischen grauen Pflastersteinen steht büschelweise Gras, das bei
dieser Hitze langsam verdorrt. Anfangs, ich hatte das Haus gerade erst
gekauft, erschien mir der Anblick, das energische Wuchern wie eine bewusste
Herausforderung. Es kam mir vor, als wollte das Unkraut mich provozieren. Es
war mir gleichgültig. Und schon bald wichen die Disteln friedlichem Gras.
Auch im Garten gedieh
alles üppig. Die Efeuranken an der Hausmauer ließen sich irgendwann einfach
nicht mehr bändigen. Anfangs stutzte ich das Gewächs zweimal jährlich, denn
es drohte mir gänzlich die Sicht aus meinem Arbeitszimmer in den Garten zu
versperren. Doch mit der Hoffnung, jemals wieder eine herausragende Arbeit
zu vollbringen, gab ich auch den Versuch auf, die Natur in ihre Schranken zu
weisen.
Außer hohem Gras gibt es
nur rote Rosen im Garten. Rosen. Nichts als Rosen. In allen Variationen und
mit den unterschiedlichsten Gerüchen. Nicht, dass ich irgendwann einmal,
mich hingebend an einen plötzlich Anfall von Gefühlsduselei, an einer von
ihnen gerochen hätte. Doch besonders wenn die Sonne um die Mittagszeit auf
die fetten, blutroten Köpfe im dunkelgrünen Blätterwerk knallt, hängt der
ganze Garten voll von ihrem schweren, süßen Duft. Ein letztes Aufbäumen
bevor die unvermeidbare Verwesung einsetzt, die Farbe stumpf wird und der
Geruch dünn und fad.
Ich
schnippe die Asche aus dem Fenster, sie fällt beinahe senkrecht zu Boden. Es
ist windstill und schwül. Ich nehme einen tiefen Zug. Kein Genuss, keine
Genugtuung, kein berauschendes Gefühl mehr wie damals, als ich nachts
heimlich aus dem Dachbodenfenster meines Elternhauses kletterte, um dort
oben unterm endlos hohen, sternenvollen Schwarz meine erste Zigarette zu
rauchen. Damals war das Leben noch groß gewesen an kleinen Dingen, für die
es sich lohnte, um Worte zu kämpfen. Heute habe ich Worte, aber nichts mehr,
worüber ich mich wundern kann. Ja, damals ...
Ich schließe die Augen,
sie schmerzen vom aggressiven Licht dieses Sommertages. Das
Rasenmähergeräusch erstirbt, der Grasschnitt wird auf den Kompost geworfen
und der Motor von Neuem gestartet. Momente absoluter Stille sind selten.
Nicht mal nachts wird es wirklich ruhig, denn dann beginnt der Garten in
seiner fremden Sprache von Dingen zu sprechen, die ich nicht verstehe und
die mir unheimlich sind. Dinge, die tiefer gehen, die ursprünglicher sind,
als dass ein Mensch, so ernüchtert wie ich, sie verstehen könnte; dass ein
Mensch sie begreifen könnte, dessen Leben angesichts der Zeit nicht mal die
Größe einer lästigen Obstfliege hat, von denen es so viele gibt, dass man
sie ohne jede Reue und Ekel zwischen Daumen und Zeigefinger zerdrückt. Als
ich noch nachts heimlich rauchte, während rot und grün blinkende
Flugzeugsterne lautlos über mich hinweg glitten und ich eine Sehnsucht
verspürte, die mich bis über meine Grenzen erfüllte – damals war diese
unfassbare, brutale Gewalt des Existierens noch nicht beängstigend gewesen.
Vielmehr wollte ich mich ihr ganz hingeben, verschwenderisch
leidenschaftlich und mit ganzer Überzeugung.
Ich nehme noch einen
tiefen Zug. Ohne das zeitweilige Kratzen im Hals und den dumpfen Schwindel
im Kopf von damals. Damals ...
Ich
streiche mir mit der Linken über die schmerzenden Lider, massiere mit zwei
Fingern die Nasenwurzel, über der sich häufig ein starker Schmerz
ausgebreitet hat, als mich die innere Leere, die Wort- und Gedankenlosigkeit
noch frustrierte. Jetzt überfällt er mich nur mehr, wenn ich abends zu viel
Whisky gegen die Schlaflosigkeit trinke. Einen Augenblick glaube ich, tief
drinnen in mir ein Schluchzen zu spüren, einen heißen Strom von Tränen. Doch
es ist nur die Erinnerung an so etwas wie Gefühl, denn mit meinem Leben
scheine ich längst alle Tränen verschwendet zu haben. Ich atme tief durch,
ohne jedoch das plötzliche Bedürfnis loszuwerden, etwas in mir losbrechen,
ausbrechen lassen zu müssen, um Schlimmeres zu vermeiden.
Ein Stück flussabwärts
verbindet eine breite Betonbrücke die beiden bewaldeten Flussufer. Auf der
mir gegenüberliegenden Seite erstrecken sich hinter den Bäumen weitläufige
Felder, ab und zu ragt ein Kirchturm aus einem der kleinen, verstreuten
Häufchen Häuser. Auf meiner Seite steigt das Gelände steil an. Zwei Autos,
ein dunkelblaues und ein weißer Lieferwagen, überqueren knapp hintereinander
den Fluss in meine Richtung und verschwinden zwischen den Bäumen weit unter
mir aus meinem Blickfeld. Eine Frau in einem roten Trägerkleid, das sich um
ihre Knie sanft wellt, steht auf dem Gehweg und blickt an der Brüstung
stehend flussabwärts. Einige Radfahrer in gelben Trikots und mit gelben
Fahrradhelmen haben angehalten, um einen Schluck aus ihren Wasserflaschen zu
nehmen. Wie auf eine Schnur aufgefädelte, zitronengelbe Perlen stehen sie
dicht hintereinander.
Ich
seufze abermals und schnippe den heruntergebrannten Zigarettenstummel
ungefähr in die Richtung, in der zuvor das blaue Auto und der weiße
Lieferwagen zwischen den Bäumen verschwunden sind. Ich stelle mir vor, wie
der Zigarettenstummel im dürren Dornengestrüpp ein Feuer entfacht, stelle
mir vor, wie die Flammen langsam und nach Nahrung lechzend den Berg herauf
kriechen bis unter mein Fenster – ich hätte wohl weder die Kraft noch die
Lust zu fliehen. Die Zitronengelben fahren weiter.
Ich schließe das Fenster
und mit einem Mal ist es völlig still. Keine Vögel. Keine Grillen. Kein
Rasenmäher. Nichts. Nur die unerträgliche Gedankenlosigkeit in meinem Kopf.
Ich ziehe mit einem Ruck
die Vorhänge vor, als könnte die eilige Bewegung die lahme Leere in mir
zumindest für einen Augenblick vertreiben. Es wird kaum merklich dunkler,
die weißen, transparenten Vorhänge, die mehr vor dem Fenster zu schweben
scheinen als hübsch gerafft auf den Boden zu fallen, können das Licht nicht
aussperren. Ich lege mich auf das rote Sofa an der gegenüberliegenden Wand
des Fensters. Ich drehe dem Licht den Rücken zu und der Welt auf der anderen
Seite der Glasscheibe, die viel zu dünn und durchsichtig, viel zu
zerbrechlich ist, um mich für immer zu bewahren vor allem, was da draußen
ist. Ich bin nicht müde, dennoch döse ich sofort ein. Man gewöhnt sich
irgendwann daran und kann den Körper dazu bringen, müde zu sein, wenn es der
Kopf auch ist. Und mein Kopf ist es immer.
Ich bin wach, doch die
Gedanken liegen weiter reglos. Es ist dämmrig geworden im Zimmer. Ich
versuche zu erraten wie spät es wohl ist. Aber Zeit ist ohnehin irrelevant.
Ich habe genug Zeit, denke ich. Doch in Wirklichkeit habe ich zu viel Zeit.
Noch
immer ist es still im Zimmer. Ich glaube ein leises Surren zu hören und
denke, dass es wahrscheinlich vom Fernseher kommt und der Stereoanlage. Oder
daran, dass du langsam verrückt wirst, denke ich bitter. Früher plagte mich
diese Angst manchmal. Nachts, wenn mir so viel durch den Kopf ging, dass ich
nicht schlafen konnte. Früher ...
Ich wälze mich
schwerfällig herum. Hinter den weißen Vorhängen sieht man ein verwaschen
blaues Viereck, den Himmel. Doch es kommt mir mehr vor wie eine Wand, die
von hinten dezent beleuchtet wird. Ein vorgetäuschter Himmel. Ein
Bühnenbild. Und ich fühle mich wie in einem schuhkartongroßen
Aufnahmestudio. Unzählige Kameras sind auf mich gerichtet, über meinem Kopf
schweben Mikrofone und alles wartet darauf, dass der einzige Schauspieler in
diesem eigenartigen, traumgleichen Film seine Rolle spielt. Doch ich habe
den Text vergessen.
Ich richte mich auf, lege
die Hände flach auf die Knie und biege mein Kreuz gerade. Meine nackten,
madenweißen Zehen betrachtend denke ich, dass sie etwas Befremdliches haben.
Ich
stehe auf, durchquere den Raum und versuche, die Geschwindigkeit zu schätzen
mit der ich mich bewege. Es scheinen Stunden zu vergehen bis ich unten in
der Küche ankomme. Die Jalousien sind halb heruntergelassen und als ich die
Kühlschranktür öffne, kneife ich geblendet die Augen zu. Unentschlossen
blinzle ich in das grelle Licht. Der Kühlschrank summt. Eigentlich habe ich
überhaupt keinen Hunger. Eine verrunzelte Gurke. Ein paar Tomaten. Ein Stück
Parmesan in dicker, rot bedruckter Plastikumwicklung. Joghurt, dessen Deckel
ich mich nicht öffnen traue, seit ich vor einigen Tagen auf das Ablaufdatum
gesehen habe. Milch. Butter. Erdbeermarmelade. Ich lege zwei Scheiben
Vollkornbrot auf einen Teller, bestreiche sie so dick mit Butter und
Marmelade, dass mir schon beim Anblick übel wird.
Mit dem Teller in der
Rechten schlurfe ich in den ersten Stock zurück, setze mich auf den
schwarzen Sessel, der seitlich des Fensters neben der Couch steht, und
schalte den Fernseher an. Sogleich erscheint ein grellbuntes Bild, das
tonlos flimmert. Ich suche nach einem einigermaßen ansprechenden Programm –
vergeblich –,
beiße von dem kleineren der beiden Brote ab und kaue.
Auf dem Bildschirm
diskutieren gerade stumm zwei dicke Frauen in Leopardenfell gemusterten
Minikleidern und hochhackigen Schuhen, die so schreiend rot sind wie ihre
aufgeklebten Fingernägel. Der Talkmaster der Show trägt eine Perücke, die
mich an das abwaschwasserbraune Meerschwein erinnert, das mein Banknachbar
in der zweiten Klasse hatte. Das Lächeln des schmierigen Talkmasters widert
mich noch mehr an als die Zehen, von denen ich gerne behaupten würde, sie
gehörten nicht zu mir. Im Gegensatz zu mir war mein Banknachbar beliebt
gewesen. Er war zum Spießer geboren. Und ich zum Versager. Manches ändert
sich nie.
Ich wundere mich darüber,
wie jemand so einen wabbeligen, unförmigen Körper haben kann, und denke wie
so oft, dass der Mensch mit Abstand die hässlichste Existenzform ist. Schon
alleine wegen der Zehen.
Lustlos
esse ich die beiden Brote, ohne wirklich darauf zu achten, und stelle dann
den Teller vor mich auf die blanke Glasplatte des Couchtisches. Ich schalte
den Fernseher ab. Die wabbeligen Frauen und der Meerschweinmensch
verschwinden mit leisem Knistern. Ich betrachte mein Spiegelbild auf dem nun
schwarzen Bildschirm.
Ratlos, was ich als
nächstes tun könnte, runzle ich die Stirn ein wenig, starre weiter auf den
stummen, reglosen Menschen im Fernseher. Der Mensch ist schlank, es sieht
aus, als wäre er gut trainiert, aber das täuscht. In Wahrheit hat er bloß
nie Hunger. Ich finde diesen Menschen ziemlich hässlich. Doch wenigstens
trägt er kein Leopardenfellimitat und hohe rote Hacken, denke ich. Es könnte
also schlimmer sein. Der Mensch trägt ein weißes, zerknittertes, aber
ansonsten sauberes Hemd, eine dunkelblaue Stoffhose und keine Schuhe. Seine
Füße liegen wie abgetrennt unter dem Couchtisch, als bestünde keinerlei
Verbindung mehr zum restlichen Körper, als hätte nie eine Verbindung
bestanden. Doch das ist nur der unerfüllte Wunsch des Menschen auf dem toten
Bildschirm, der seine madenweißen Zehen nicht leiden kann. Der Mensch sitzt
einfach nur da, die fein geschnittenen Hände mit den langen Fingern ruhen
auf der Lehne des schwarzen, abgewetzten Ledersessels.
Außer meinem Körper sehe
ich nichts. Außer meinem Körper gibt es auch nichts zu sehen.
Vollkommene Leere.
Ich
stehe auf und trage den Teller hinunter in die Küche. Ich lasse das Wasser
laufen, bis es eiskalt ist. Ich trinke das Glas in einem Zug aus und fülle
es aufs Neue.
Während ich in den zweiten
Stock hinaufgehe, das Wasserglas in der Hand, knöpfe ich bereits mein Hemd
und meine Hose auf. Im Badezimmer lege ich alles über den Hocker unter dem
Frisiertisch. Nachdem ich mir
–
gedankenverloren ins Waschbecken starrend und ausgiebig
– die Zähne geputzt habe, wasche ich
mir das Gesicht und die Hände mit Seife. Danach trockne ich mich ab und
schalte das Licht aus.
Im Dunkeln tappe ich ins
Schlafzimmer, das Wasserglas stelle ich auf das Nachtkästchen nahe ans Bett,
ich schlage die leichte Seidendecke zurück und schüttle den Kopfpolster auf.
Ich gehe zum Fenster, öffne es. Die Handflächen auf das äußere Fensterbrett
gestützt lehne ich mich weit hinaus, um flussabwärts den orange beleuchteten
Kirchenturm des Nachbarortes zu sehen und tief die Abendluft einzuatmen, die
noch immer schwül und reglos ist. Ich sehe auch die Brücke. Und dasselbe
rote Kleid mit dem tiefen Rückenausschnitt. Dieselbe unbewegliche Haltung.
Ich werde mir mit einem Mal peinlich berührt meiner Nacktheit bewusst.
Hastig ziehe ich die schweren roten Vorhänge vor das geöffnete Fenster. Nur
einen spaltbreit noch kriecht das bläuliche Dämmerlicht ins Schlafzimmer.
Eine Weile starre ich noch
unter der Bettdecke liegend an den Plafond, starre in die Dunkelheit, durch
den Vorhangspalt hinaus aus dem Fenster zu meinen Füßen. Ich habe mit einem
Mal das Gefühl, das Bett finge an sich zu drehen, langsam zuerst, dann immer
schneller. Das Zimmer wiegt zuerst nur leicht mit, dann schließt es sich dem
seltsamen, taktlosen Tanz an. Gerade als ich denke, ohnmächtig zu werden,
schlafe ich ein.
Ich
habe die Arme unter dem Kopf verschränkt. Seit ich aufgewacht bin, habe ich
mich nicht bewegt, noch immer liege ich auf dem Rücken, die Bettdecke, unter
der es unangenehm feuchtwarm ist, bis über die Brust gezogen. Das Kopfkissen
ist flach zusammengedrückt, mein Nacken steif. Trotz des geöffneten Fensters
ist die Luft abgestanden und schwül. Ein ausdrucksloses Licht hängt
unentschlossen im Raum.
Seufzend schlage ich die
Bettdecke zurück, stehe auf und ziehe die Vorhänge zurück. Der Himmel ist
bewölkt und draußen ist es so feucht-heiß wie in meinem Zimmer.
Ich schüttle Polster und
Decke auf und schlurfe hinunter in die Küche. Mein Magen verkrampft sich,
als verlange er nach Essbarem. Dabei ist mir überhaupt nicht nach Essen
zumute.
Das Stück Brot, das noch
in der Frischhaltebox liegt, ist trocken und steinhart und ich bin mir nicht
sicher, ob der grünbräunliche Fleck auf der Schnittfläche nicht vielleicht
Schimmel ist. Ich schließe die Brotbox mit angeekelt gerunzelter Stirn.
Auch der Kühlschrank gibt
nicht wirklich viel her und ich muss mir eingestehen, dass mir nichts
anderes übrig bleibt, als einkaufen zu gehen. Einen Moment überlege ich, ob
ich mich wieder ins Bett legen und weiterschlafen, den verkrampften Magen
ignorieren soll. Doch eins wie das andere erscheint mir wenig reizvoll.
Im
Badezimmer wasche ich mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser und putze mir die
Zähne. Mit der flachen Hand fahre ich mir über das raue Kinn und die Wangen
– kratzig –, habe aber keine Lust mich zu rasieren. Ich ziehe das Hemd und
die Hose an, die über dem mit rotem Leder bezogenen Hocker unter dem
Frisiertisch liegen. Im Schlafzimmer mache ich das Bett und schließe das
Fenster, die Geldtasche liegt auf dem Nachttisch neben einer leeren Flasche
Whisky. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich sie ausgetrunken habe.
Vor der Haustüre liegt
eine Zeitung mit einigen nüchtern-weißen Briefkuverts obenauf. Der Postbote
ignoriert grundsätzlich die Tatsache, dass einen halben Meter rechts von der
Tür ein Briefkasten hängt und ich habe längst aufgehört, mich über die
Dummheit der Menschen zu ärgern. Da ich die Tür bereits hinter mir
abgeschlossen habe, lasse ich die Post einfach liegen, sie wird auch später
noch da liegen, und ob ich sie jetzt zum Altpapier werfe oder erst in einer
halben Stunde, macht nicht sonderlich viel Unterschied.
Ich
zünde mir eine Zigarette an und blicke hinunter auf den Fluss, die Brücke
ist stärker befahren als gestern. Ich gehe ums Haus herum, den Schotterweg
am Gartenzaun entlang bis zur Hauptstraße. Es ist nicht viel los. Wenn Autos
vorbeifahren, blicke ich zur Seite und lasse den Zigarettenrauch möglichst
gleichgültig ausströmen. Ich fühle das Starren der Fahrer, bilde es mir
zumindest ein. Ich gehe schneller. Bald ist meine Haut überzogen von einer
dünnen Schweißschicht und als ich die Eingangstür des kleinen Supermarktes
aufstoße und mich klimatisierte Luft umgibt, fröstle ich beinahe wohlig.
Die Besitzerin, eine
untersetzte ältere Frau mit bernsteinfarben getönter Dauerwelle und Brille
sitzt an der Kassa und grüßt säuerlich lächelnd über ein halbhohes Regal mit
Fertigsuppen zu mir herüber. Die junge Frau, die gerade dabei ist, Gurken
und Kartoffeln auf das Förderband zu packen und gleichzeitig ihren kleinen
Sohn davon abzuhalten, alle Süßigkeiten aus dem Ständer neben ihm zu räumen,
hebt den Kopf, nickt aber nur knapp und widmet sich wieder ihren
Diätcolaflaschen. Sonst sind keine Kunden im Laden. Grußlos, mit gesenktem
Kopf, flüchte ich mich hinter Fruchtsäfte und Dosentomaten, komme dann aber
drauf, dass ich für meinen Großeinkauf einen Einkaufswagen benötigen werde
und muss noch mal zurück. Die bernsteinfarbene Dauerwelle zieht gemächlich
die Einkäufe übers Lesegerät, die junge Frau hebt abermals den Kopf, sieht
mich diesmal länger an. Ausdruckslos. Ich bekomme den Einkaufswagen nicht
los, er hat sich mit dem anderen verkeilt. Ich rüttle. Mir wird heiß. Ich
habe das Einkaufen satt und bereue, mich nicht wieder ins Bett gelegt zu
haben. Die Frau sieht mich noch immer an. Mittlerweile verständnislos. Ich
zerre, rüttle und schwitze. Der Kleine im Einkaufswagen beginnt zu jammern.
Doch die junge Frau stiert weiterhin zu mir herüber. So lange, bis ihr der
Zwerg seine Zwergenfaust, mit der er
entschlossen
einen Schokoriegel umklammert, von der
Seite in den Bauch rammt. Wenn du wüsstest, kleiner Schreihals, denke ich
und frage mich, wann ich aufgehört habe, ernsthaft eine Revolution in
Betracht zu ziehen.
Die
Frau dreht sich mit erhobenem Zeigefinger zu ihm hin. Steile Stirnfalten,
wegen denen man früher oder später seine Vorsätze verwirft, wenn man ohnehin
zum Versager geboren ist. Der Einkaufswagen löst sich. Erleichterung. Hinter
dem schützend hohen Regal mit Fruchtsäften und Dosentomaten atme ich tief
durch, doch das Gefühl der Aufgewühltheit in meinem vor Hunger bodenlosen
Bauch will nicht weichen. Eines der Vorderräder des Einkaufswagens klemmt,
ich lenke und fahre angestrengt. Obst. Gemüse. Milchprodukte. Wurst- und
Käseabteilung. Die Bedienung fühlt sich in der Unterhaltung mit dem
Brotfräulein gestört und bemüht sich vergeblich zu einem höflichen "Ja,
bitte?" Die Metallringe in ihren Ohren und der rechten Augenbraue irritieren
mich. Sie erinnern mich an die kleinen Metallklammern an den Frankfurter
Würsteln, die ich bei meiner Großmutter öfters bekommen habe, wenn ich sie
samstags besuchte.
Die Verkäuferin ist
ziemlich dick und ziemlich rosa, mir geht das Frankfurter Würstel-Bild nicht
mehr aus dem Kopf. Das Angebot an Aufschnitten und Fleisch verunsichert
mich. Die Bedienung wird ungeduldig, pappt die unappetitlichen Finger –
meine madenweißen Zehen erscheinen mir mit einem mal viel ansehnlicher
– platt auf die Theke neben das große
Fleischermesser. Sie beginnt zu zappeln, das blonde Brotfräulein räuspert
sich und verschränkt die Arme vor den reizlos flachen Brüsten.
Ich entscheide mich für
etwas Beinschinken, eine halbe Salamistange und den abgepackten Käse mit der
roten Wachshaut. Und sonst? Ich schüttle den Kopf. Sie schiebt mir die zig
Mal in Papier und Plastik verpackte Wurst über den Tresen, den Käse
hinterher, und nickt, was wohl eine Verabschiedung sein soll. Ich nicke
zurück, was mehr Erleichterung als eine Verabschiedung ausdrücken soll. Ich
werfe Wurst und Käse in den Einkaufswagen und schiebe hastig weiter. Vorbei
am Brotfräulein, dessen hochgezogenen Augenbrauen ich möglichst nicht mit
Blicken zu begegnen versuche. Sie ist wirklich ziemlich blond. Und ziemlich
dünn. Wie ein halbfertig gebackenes Baguette. Als ich schon fast bei der
Tiefkühlabteilung bin, stecken die beiden wieder die Köpfe zusammen. Ich
versichere mir nicht sehr glaubhaft, dass sie nicht über mich sprechen.
Ich
packe noch ein paar Tiefkühlpizzen, Spinat, Eiernudeln, Dampfnudeln und
gemischtes Gemüse zu den übrigen Einkäufen und trete mit einem kurzen Umweg
über die Spirituosenabteilung den Weg zur Kassa an. Die bernsteinfarbene
Dauerwelle lächelt süßsauer. Mein Magen knurrt sehr laut und sie lächelt
noch säuerlicher. Magensäuresauer. Mir ist schwindlig, der Hunger steigt mir
zu Kopf. Gelassen sieht sie dabei zu, wie ich hastig meine Einkäufe aufs
Förderband lege. Kalter Schweiß steht mir in kleinen Tröpfchen auf der
Oberlippe, aber ich traue mich nicht, ihn wegzuwischen mit meinen zitternden
Händen.
"Schwül heute, nicht
wahr?", sagt sie mit einem boshaften dünnen Lächeln, wobei sie meine
Oberlippe fixiert und die Äuglein zusammen kneift hinter ihrer dicken
Brille. Ich beschränke mich auf ein halbherziges Nicken. Und ihre fahlen
Lippen werden noch dünner und ihr Lächeln noch boshafter.
Ich reiche ihr einige
große Scheine, setze mich bewusst nicht der Peinlichkeit aus, beim Kleingeld
herauszählen mit zittrigen Händen alles zu verstreuen. Die riesige
Papiertüte halb vorm Gesicht manövriere ich den Einkaufswagen mit dem
klemmenden Vorderreifen in die Metallvorrichtung, stemme mich mit dem Rücken
gegen die Ausgangstür und verlasse voll bepackt und so fluchtartig wie
irgend möglich den Laden.
Sie
hat die Hand schon an der Eingangstür, als mir im Vorbeihasten das gemischte
Gemüse aus der randvollen Tüte direkt vor ihre Füße fällt. Herzstillstand.
Sie trägt rote Sandalen mit hohen Absätzen und Riemchen um die schlanken
Fesseln, sie hat bezaubernde Knöchel und einen verwirrenden Moment lang bin
ich gefesselt von dieser kleinen, nackten, knöchrigen Rundung. Ihre Knöchel
und die volle Tüte – ich gerate aus dem Gleichgewicht. Sie bückt sich nach
dem Gemüse zu ihren Füßen. Das knielange, rote Kleid hat vorne und hinten
einen tiefen Ausschnitt und ich weiß nicht, was ich schöner finden soll –
den zarten Rücken oder ihre vollen Brüste. Herzrasen. Ihre Haut ist blass
und muttermallos. Ihr Haar schneewittchenschwarz. Mit einem Lächeln reicht
sie mir das Gemüse. Ich schwanke keuchend auf schmelzenden Beinen. Die
eiskalte Packung, die sie mir reicht, ist von einer weißen Tröpfchenschicht
überzogen. Sie lächelt immer noch, als ich ihr endlich das Gemüse aus der
Hand nehme. Ihre Handgelenke sind schmal, so zerbrechlich, dass ich mich
nicht traue, ihre feinen Finger wie zufällig zu berühren. Ich will mich
bedanken. Bekomme keinen Ton heraus. Sie lächelt. Ich räuspere mich, bedanke
mich nochmals. Diesmal mit Ton. Ich schwitze, fühle mich klebrig und zäh.
"Schwül heute, nicht
wahr?" Sie hat große grüne Augen, einen kleinen Mund, der so blutrot ist wie
die von fettgrünen Blättern umgebenen Rosen in meinem Garten. Ihr stiller
Blick brodelt lebhaft, die Lippen voll, der Hals so zierlich und wie die
kleinen Ohren schmucklos.
Ich
nicke schwach. Mit surrendem Kopf und größer werdenden schwarzen Flächen vor
Augen halte ich das Gemüse noch immer in der Hand, die immer kälter wird,
während ich mich wie in einem Fiebertraum fühle. Bitte Gott, lass mich nicht
träumen!, flehe ich und kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt an
Übersinnliches geglaubt habe. Ich bereue, kein frisches Hemd angezogen zu
haben. Rasiert habe ich mich auch nicht mehr ...
Ich weiß nicht, ob es
daran liegt, dass mir die Knie versagen und ich, die Einkäufe auf dem
Gehsteig verstreuend, langsam vornüber kippe, oder daran, dass ich nicht
anders kann, dass ich ihren blutroten Lippen plötzlich so nah bin ...
Schlagartig bin ich wach,
so schlagartig, dass ich beinahe von der Couch falle. Ich eile ans Fenster,
reiße es auf. Das Sonnenlicht schmerzt in den Augen, das Rasenmähergeräusch,
das Grillenzirpen in den Ohren und die plötzliche Traumlosigkeit macht mein
Herz rasend. Taumelnd klammere ich mich ans Fensterbrett, suche die Brücke
mit hastigen Blicken ab. Doch nichts.
Ich
weiß nicht, wie mir wird. Falle die Treppe hinunter, über meine eigenen
Beine, die nicht mithalten können mit meinen sich überschlagenden Gedanken,
stolpere aus der Tür, über die Zeitung und ein paar Kuverts auf der Matte
den Abhang hinunter. Schwindel erregend steil. Erregend auch ihr Rücken,
diese Brüste. Dornen überall. Blut. Blutrote Lippen. Das Sonnenlicht viel zu
grell. Weiße Flächen vor Augen. Weiße Knöchel, atemberaubend. Stolpernd
fallen, immer wieder. Vor ihre Füße. Dieser Schmerz. Diese plötzliche Flut
an Bildern. An Worten. Woher diese Worte? Und doch – unerträglich
schmerzhaft
–
keine Worte für dieses Bild. Diesen Traum. Ihre Lippen so nah – denke ich
und sehe noch durch die schmutzig grünen Fluten über mir, dass die weißen
Wolken wie lauwarme, in hellblauen Kaffee gegossene Milch am Sommerhimmel
hängen. Nie mehr Leere.