"Jeder hat das
Recht, sich die Aszendenz zuzuschreiben, die ihm
genehm ist, die ihn in seinen Augen ERKLÄRT. Wie oft habe ich
nicht meine Vorfahren gewechselt!" (E. M. Cioran)
Jeden
Morgen schon aufwachend – wenn überhaupt aufwachend – mit den Widersprüchen.
Wenn ich nicht aufstehen will, dann, weil ich nicht sogleich mit diesen
Widersprüchen in mir mich auseinandersetzen möchte. Es ist die tägliche
Sisyphos-Arbeit. "Nicht schon wieder!" Aber sie sind da, diese Dämonen der
Morgendämmerung. Wäre es doch erst die Morgendämmerung! Den
Morgen müsste ich mir schnappen können, erobern, durch den alles
verschmutzenden und beschwerenden Gürtel der Widersprüche hindurch!
Es sind nicht
nur meine Widersprüche, sondern die Widersprüche unserer Zeit, sich
in jenem kleinen Tropfen, der ich bin, spiegelnd. Es sind – wie die
Marxisten gerne sag(t)en – die "gesellschaftlichen Widersprüche". Viele
andere sind in einem viel ärgeren Elend als ich, auch hier in Berlin. Sie
haben nicht einmal den Spielraum für Betrachtungen, für Nachdenklichkeit,
Distanznahme, Erwägen.
Heute morgen:
saß ich da und wollte, nein konnte kein Buch aus meinen Regalen
herausgreifen. Mich hatte die Sinnlosigkeit durchdrungen – nicht gepackt
(wie ich zuerst schreiben wollte) –, sondern durchdrungen. Sie ist
schon lange in mir. Inzwischen füllt sie mich derart aus, dass ich in der
ganzen Streberei, zu der man mich erzogen hatte, innehalten kann, diese
stoppen kann. Hiatus, Kluft. Ich kann ihr ins Auge sehen, obwohl sie keine
Augen hat – nicht einmal eines, etwa das "Auge Gottes". Ein metallenes Kreuz
mit einem goldenen Dreieck, darin ein wachendes sogenanntes "Auge Gottes"
stand bei uns im Garten des Elternhauses, ganz unauffällig an die Hauswand
gelehnt, umrankt mit Wicken und ähnlichem. Der Vater, dieser
Antiquitätensammler, hatte einmal zur Abwechslung auch einmal eine solche
Antiquität in den Garten gestellt – oder genauer: zum Garten hin, aus
"Auge-Gottes"-Sicht in Blickweite des Gartens. Es war vielleicht
keine dezidierte Absicht des Vaters dahinter … Allzu gerne würde mir eine
"paranoide Methode" zu Hilfe kommen, die Dinge zu vereinfachen. Meinem Vater
etwas anzudichten. Das würde die Sache leichter machen, es mir erleichtern,
sie abzutun, sie zu belächeln.
Doch
frage ich: Hatte der Vater das "Auge Gottes" im Garten platziert, um
eventuelle
Orgien seiner Söhne zu bannen? Auch auf "Adam und Eva" warf Gott ja
seinen gestrengen Blick. Gleichwohl, wir hatten kein Obst im Garten, keinen
Apfelbaum. Dazu waren sich die Meinen zu schade – es gab nur Zier-,
keine Nutzpflanzen. Die Nachbarn, die in wirtschaftlich schwierigen Zeiten
allerdings verhältnismäßig billig diese gerade erst gerodeten Waldgründe
erworben hatten – Grundstücke, die heute Raritäten sind und Millionenbeträge
erzielen –, pflanzten teilweise noch Obstbäume, Gemüse. Diese sogenannten
Nutzgärten waren für mich als Kind nicht langweilig, dort hielt ich mich
gerne auf und spielte mit den Kindern der Nachbarschaft. Dort wo es
Nutzgärten gab, waren die Spiele halbwegs – ein Kind begnügt sich mit
bescheidenen Anregungen und vermag viel daraus zu machen! –
abenteuerlich. Während in den Ziergärten Langeweile herrschte, Öde. Eine
Gepflegtheit, die nicht weiter, zu nichts Weiterem führte. Ein solcher
Hausherr, der um nicht wenig Geld einen Ziergarten angelegt hatte, pflegte
mit Gästen auf die Veranda zu treten und die Namen der ziergärtnerischen
Neuanschaffungen, womöglich sogar mit den entsprechenden lateinischen Namen,
zu nennen. Man blickte hin oder ließ eine Ziergartenführung geduldig über
sich ergehen, das gebot die Höflichkeit. Aber weiter war da nichts. Drinnen
dann wurden ernstere Dinge verhandelt, die Dinge des Ernstes, die
ernsten Dinge, wobei man die Fenster vorsorglich schloss. Es wurden dann
Speisen aufgetragen. Bei uns nur von der Frau des Hauses, die
offiziell meine Mutter, inoffiziell meine Großmutter, mütterlicherseits,
war. Ihre Kreationen, obwohl sie nicht zu bewundern waren, wirklich nicht
bewundernswert waren, mussten von den nur wenigen Gästen, die uns besuchen
kamen, bestaunt werden, obwohl es da nichts zu bestaunen gab. Damals war das
sogenannte Wohnzimmer noch hell, licht- und luftdurchflutet. Als Kind saß
man zu Füßen der Großen, auf dem Perserteppich, die Großen dagegen thronten
auf schweren Möbeln. Eine Öde stank einen dort förmlich an, es war niemals
lustig. Wir Kinder waren die Zierkinder, Belustigungs- und viel mehr
noch Ermahnungsobjekte. Waren Gäste da, tat die Mutter mit uns nachsichtig,
ziemlich schnell wurde mit Blicken, auch mit Worten abgemahnt, bis sich die
Lage wieder beruhigte – Ohrfeigen gab es erst, nachdem die Gäste weg waren.
Lange konnte ein Kind es dort, wenn Gäste da waren, nicht aushalten. Die
Gespräche, die die Großen führten, bezogen die Kinder überhaupt nicht ein,
obwohl dann wieder so getan wurde, als würde sich um die Kinder alles
drehen, vor allem um deren Bravheit. Drei Brüder waren wir, und
anfangs mussten wir, wenn Gäste kamen, uns aufreihen wie die Orgelpfeifen.
Wir waren kaum mehr als Ornamente dieser licht- und luftdurchfluteten Öde.
Es ist nötig,
dies alles klar, beschönigungslos zu sehen. Man sagt zwar – gedankenlos,
eine Phrase nachplappernd – die Eltern hätten einem "das Leben geschenkt",
und "einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul", bekanntlich, aber
wenn man selber dieser Gaul ist, kann man doch nicht umhin, ihm gelegentlich
ins Maul zu schauen.
Der
Blick in den Spiegel war lange Jahre unmöglich bzw. sich selbst, mich
selbst zu erblicken, war mir so gut wie unmöglich. Mit dem sogenannten
Spiegelstadium meinte Lacan wahrscheinlich nicht dieses, wo man sich mit
seinem Spiegelbild – wie Narziss – auseinandersetzt. Narziss im Mythos hätte
sich ja selber geliebt; es wird nicht davon berichtet, dass Narziss
wahre Spiegelfechtereien mit dem Spiegel trieb. Er spiegelte sich ja auch im
Wasser, und selten ist solch Wasser gänzlich unbewegt, auch spiegeln sich in
ihm die Wolken, auch der Untergrund, etwa Steine am Grund, spielen mit,
reden ihr Wörtchen mit. Wellt sich das Wasser im Winde und umspielt dieser
Wind zusätzlich das sich betrachtende Gesicht, dann kann es ja sein, dass
der Mensch, sofern jung und schön, geneigt ist, diese Wasser-Oberfläche mit
einem zarten, andeutenden Kuss zu benetzen. Könnte es aber auch einen
Narziss der Selbstentzweiung geben, einen Narziss, der gegen sein Gesicht,
das er nicht als eine gelungene Einheit wahrzunehmen vermag, wütet?
Anschließend in einem kruden Gedicht es beschreibend – und doch nicht
treffend –, wie die Augen auseinanderstreben, die Nase hereinhängt wie eine
geschwürige Gurke, der Mund nichts als ein unsinnlicher gerader Strich ist?
Wenn es einen solchen negativen Narziss geben kann, dann bin ich einer
gewesen – bis in meine Dreißigerjahre hinein.
Wir – Kinder
damals, später Jugendliche – wurden niemals schön fotografiert;
anfangs waren es diese gezwungenen, in der Reihenfolge ihrer Größe
gestellten Orgelpfeifen in Lederhosen und Strickjankern. Es gäbe ja nicht
nur den blankpolierten Spiegel, auf dem sich kein Stäubchen gefangen hat, um
sich zu gewinnen, ein Bild von sich zu gewinnen, sondern auch die
Möglichkeit der Fotografie, des Films, einer Zeichnung, eines Gemäldes. Es
war ein eigensinniger Fehler, vom blanken Spiegel sich die Selbsterkenntnis
zu erhoffen. Vor dem Spiegel sich, sein Gesicht zusammenzunehmen, ein
entsprechend annehmbares Gesicht zu ziehen. "Ich und der Spiegel" –
das ist keine intelligente Methode, um sich zu gewinnen, um irgendetwas
außer Zerknirschung zu erlernen. Und im wiederholten Anlauf der
Zerknirschung wieder nichts anderes sich einzuhandeln als abermalige
Zerknirschung. Lediglich die Sorge, nicht dem Vater zu gleichen, der
allerdings bei mir schon alt war – und wer möchte einem alten Mann gleichen,
wenn man gerade erst zwanzig geworden ist? Einem alten Mann, der, wie sich
nachträglich herausstellte, so alt gar nicht war, aber sich alt verhielt. In
einer abstoßenden Weise alt, mit sich nichts anfangen könnend, ständig in
den Leben der andern herumstänkernd, ständig sich über gewisse Wehwehchen
beklagend oder über den Lauf der Welt schimpfend, über den sogenannten
Sittenverfall. Diesem Vater nicht gleichen zu wollen, war eine
Hauptaufgabe; alles musste getan werden, um der Verwandlung in diesen Vater
zu widerstehen, vor allem: alles musste gelesen werden, so dachte ich
(ich dachte also nicht: müsste in Bewegung gesetzt, erwandert,
erklettert, erfickt, erschwommen usw. werden) –
erlesen also, durchs Bücherstudieren die Verwandlung-in-den-Vater
unterlaufen, es vereiteln, zu seinem Ebenbild zu gerinnen.
Nachträglich, so scheint es, wäre schnellstmögliches Geldverdienen
der Weg gewesen, den Eltern als Beeinflussern der Adoleszenz zu
entkommen. Aus zwei Gründen: erstens, sich materiell einen eigenen Spielraum
zu schaffen; zweitens, infolge der Konzentration, der Ablenkung durch die
Arbeit die durchgreifen wollenden, den Wesensgrund erfassen und nicht mehr
freigeben wollenden Sätze der Eltern weitgehend unwirksam zu machen, sie zu
neutralisieren, sie mit anderen Problemen – und solchen, die einen
weiterführen (von den Eltern weg) – zu überlagern. "Man strebt danach, eine
Arbeit zu haben, um das Recht zu haben, sich auszuruhen", schrieb überdies
Cesare Pavese. Um dann eine Ruhe zu haben, ein Eigengewicht von
solcher Schwere und Berechtigung, dass Einsprüche, Ratschläge,
Beschimpfungen, das Persuasive nicht mehr so leicht eindringen und die
Widersprüche des eigenen Inneren vermehren können.
Andere
waren viel wirklicher als ich – ich war hingegen einer, über dessen
Wirklichkeit man reden, das heißt, sie ihm abstreiten hatte können. Andere
setzten sich mit mir an einen Tisch, um mich mir selber wegzuziehen oder
mich mir selber abzusprechen; wo blieb ich nachher dann? Ich durfte nicht in
die Falle ihrer sogenannten "guten Ratschläge" gehen, denn es waren keine
mir angemessenen, für mich nicht brauchbare, gänzlich abstrakte Ratschläge,
die mich nur mit mir entzweit zurückließen – kein einziger wäre auch nur für
mich
befolgbar gewesen.
Sehr brauchbar
ist übrigens Spinozas Definition des Leidens als Passivität – als
gehemmte Aktion, Aktivität. Und ich füge hinzu: die Widersprüche, in die
wir uns verstrickt sehen (Niederschlag gesellschaftlicher Widersprüche),
sind Hauptursache jener Hemmung. Die persuasiven Stimmen der andern
sind in uns eingedrungen, haben sich in die Tiefe versenkt, die andern haben
ihre Anker in uns geworfen, uns in den immer perfekter wandernden, uns immer
besser aufspürenden Lichtkegel ihrer Erwartung geraten lassen – und
wir sind keineswegs gewillt, ja sperren uns, dieser Erwartung stattzugeben,
ohne aber uns gänzlich daraus emanzipieren zu können. Die andern haben
Macht über uns; sie haben eine Definitionsgewalt über uns – sie texten
uns mit Vorwürfen zu, weil wir ihren Erwartungen nicht entsprechen, und wir
versuchen, dagegenzutexten. Es ist ein Wettkampf der Texte. Ein Gewirre der
Zeilen. Sie versuchen über meinen Lebenstext darüberzuschreiben, ich
schreibe erneut über das von fremden Händen Darübergeschriebene … Auf einmal
erkenne ich, dass sie genau genommen ja nicht darübergeschrieben haben,
sondern das Meine, sobald es aufkam, durchgestrichen haben. Ich setze
an zu schreiben, schon streichen sie es durch, ich schreibe es erneut,
kraftvoller, trotziger, sie streichen es noch stärker, noch unerbittlicher
durch, in der Hoffnung, einmal würde ich ermüden, es aufgeben, mir die
Hörner, wie sie manchmal sagen, an ihnen abstoßen. Sie wissen von vornherein
über mich Bescheid, ich erst allmählich, ich erkunde sie erst, ich suche
ihnen teilweise gerecht zu werden, obwohl sie ja mir, muss ich jetzt
konsterniert sagen, niemals und in keinem Punkt je
rechtgegeben haben. Sie gehen von vornherein davon aus, dass sie die
Instanz sind, sie hegen diesbezüglich nicht den geringsten Zweifel. Sie
sagen zwar den Satz: "Jeder möge nach seiner Façon glücklich werden", aber
dieser Satz ist nichts wert, auf ihn kann ich mich gar nicht berufen, er ist
ganz leer hingesprochen und wird im nächsten Moment schon wieder von ihnen
dementiert, sobald ich ihn auf mich anwenden möchte. Er ist von ihnen gar
nicht zu mir gesprochen.
Sie sprechen
nicht zu mir. Wie sie auch nicht mit mir schimpfen, sondern
mich beschimpfen.
Und
sie denken noch, dass ich sie lieben müsste, ihnen dankbar sein
müsste. Sie meinen, es gäbe eine Pflicht zu Gefühlen (wie z.B.
die
Pflicht, "vaterländisch" zu fühlen) – sie fassen das Gefühl also
ganz mechanisch auf, ihre Gefühle sind mechanisch verankert,
einstudiert, anerzogen – sie nennen es übrigens auch gar nicht gerne
"Gefühl", weil sie ahnen, dass Gefühle etwas Individuelles, Spontanes sind.
Sie kommen sich sogar edler als andere Menschen vor, wenn sie es ihr
"Empfinden" nennen. In ihrem "Empfinden" fühlen sie sich von der Äußerung
meiner Gefühle verletzt … Nicht sie sind verletzt, sondern ihr
Empfinden, nein das Empfinden, das jeder "anständige Mensch" haben
müsste. Nie sagt ein solcher frontal: "Du hast mich verletzt!" Und
gänzlich unbekümmert darum, wie oft, ja nachgerade ständig sie mich
verletzt haben und verletzen, fühlen sie sich in ihrem betucht-beschissenen
"Empfinden" angegriffen, wenn ich
es
einmal hinausplatze, wie sie mich jahrelang verletzt haben und weiter
verletzen, wie sie mich fortwährend negieren – also nicht lieben. Lieblos
sind sie. Unfähig zu lieben. Total normiert, Prägehämmer abstrakter Normen,
Vollstrecker der Vorurteile, Verfolger alles Abweichenden, Verleugner der
Differenz, des Unterschiedes zwischen Dir und Mir. Ich habe ihr "Empfinden"
gar nicht – genau das ist der Skandal für sie. Stattdessen individualisierte
Gefühle, Fühler, die entweder sich vorwärtstasten oder zurückzucken. Eine
vielleicht sogar extreme Verletzlichkeit. Gerade, dass sie nicht gleich
sagen: "Du verletzt das 'gesunde Volksempfinden'!" (Bei diesem Empfinden
empfindet jeder gleich – oder sollte ihrer Ansicht nach gleich
empfinden. – Normiertes steht gegen Individuelles, Individuelles gegen
Normiertes.)
Sie sind immer
glücklich gewesen damit, wie sie sind (obwohl sie ein Bild des Unglücks
bieten, jeder unbefangene Beobachter sogleich sagen muss: "Es sind
unglückliche Leute!"), ich bin fast immer unglücklich mit mir, aber auch mit
diesen unglücklichen Leuten gewesen (und hauptsächlich deswegen
unglücklich, weil ich mein Leben in das ihre als hineinverstrickt erkennen
muss), ich stelle mich ja durchaus in Frage, sie niemals. Deshalb nenne ich
sie Selbstgerechte.
Wir
sind mit lauter Innereien beschäftigt, mit Eltern und Geschwistern, die man
einmal im Jahr sieht, sogar mit Toten, mit Vergangenem. Anstatt endlich die
Leere leer sein zu lassen, füllen wir sie aus einem seltsamen "horror vacui"
lückenlos mit dem Staub der Toten an, der uns in die Augen beißt und uns die
Sicht aufs Leere benimmt. Die, die da in uns mitsprechen, sprechen ja gar
nicht mehr oder sind inzwischen weit weg. Was wissen wir denn aus der
zeitlichen wie räumlichen Ferne, was sie genau sprechen – und ob überhaupt
im Moment sie über uns sprechen? Sie dichten sich etwas über mich zusammen,
wie auch ich über sie etwas mir zusammendichte. Sie kennen mich gar nicht,
wie ich heute bin, aber auch ich will sie gar nicht näher kennen. Sie haben
mich immer hauptsächlich gelangweilt. Doch sind sie da. Es ist
beunruhigend, beschämend, dass sie da sind, auch und gerade, wenn sie in
Wirklichkeit gar nicht da sind. Und nach ihrem Tod – werden sie so
weiterleben? Ist das das berühmte "Weiterleben nach dem Tode"? Dass das
Familientheater imaginär fortgesetzt wird, ja bis zur inneren Stupidität?
Und das ist nicht eine individuelle Schrulle von mir. Wenn Urenkel etwa auf
die Straße gehen und für die im Krieg gefallenen Urgroßväter demonstrieren,
dass deren "Ehre" durch Aufklärung der damaligen Kriegsgräuel "beschmutzt"
worden wäre, was ist es anderes als ein Ausagieren eines solchen imaginären
Familientheaters? Sie haben diejenigen ja gar nicht gekannt, für die sie auf
die Straße gehen … Und wer könnte ihnen garantieren, dass es nettere
Menschen als ihre eigenen Eltern waren, für die sie sich da – und ganz
vergeblich, selbst wenn sie manchmal nette Menschen gewesen wären –
einsetzen? Hätten jene Gefallenen, denen in vielen Fällen wahrscheinlich
noch ein Licht aufgegangen war über die Unfähigkeit der Heeresleitung, die
den Krieg inzwischen schon verfluchten, überhaupt gestattet, dass da diese
jungen Tröpfe in ihrem Namen sprechen? Kann überhaupt irgendjemand in
irgendjemandes Namen sprechen?
Mit welchem
Recht ist in der Kronen-Zeitung die Rubrik der Todesfälle mit "Unsere
Toten" überschrieben? Wem gehören die Toten? Der Krone? Mir
und dir? Der sogenannten Gemeinschaft? Heißt Sterben Eingemeindetwerden?
Schließt sich über den Toten, die sich dagegen nicht mehr zur Wehr setzen
können – selbst wenn sie die größten Außenseiter gewesen wären und
Opponenten gegen die sogenannte "Gemeinschaft", die ihnen auch regelmäßig
übel mitspielte –, die alles "befriedende" und ruhigstellende, sie zum
Schweigen bringende Gruftplatte der Gemeinschaft? Hat die Gesellschaft (oder
Gemeinschaft, nennen wir es, wie wir wollen) ein Recht auf die Toten, ja auf
unseren Tod (wie im Kriegsfall die Pflicht, zu kämpfen bis zum Tod)?
Erlischt mit dem Tod das Recht auf Individualität? Werden wir mit unserem
Tod endgültig sozialisiert?
Professor
Greif hatte in seiner uns vorgetragenen
Philosophie einige konstante
Bügelfalten, die aber irrational angebracht waren, nicht auf dem Wege
eines vernünftigen, lockeren Diskurses mitteilbar, sondern nur durch
Vor-den-Kopf-Stoßen, Mit-dem-Kopf-Hinstoßen. Er, der immer so tolerant und
studierendenfreundlich tat, der jede Form von Wahrheitserkenntnis leugnete,
verkündete gleichwohl einige Dogmen. Und zwar mit einer Schroffheit
ohnegleichen, es waren seine Privat-Wahrheiten, die er uns aufzwingen
wollte, Dinge, die nicht zur Diskussion gestellt werden durften, Tabus. Aber
statt dass das Tabu sich verhüllen würde, sein Gesicht sozusagen in der Toga
verbergen, wurde es uns als unverdaulicher Brocken vorgeworfen, den wir
anstandslos zu schlucken gehabt hätten. Einer dieser von Zeit zu Zeit – und
auch über die Jahre wiederkehrenden – Brocken war, dass der Tod vom
Sterbenden nicht erlebt werden könne. Dass es folglich auch keinen
eigenen Tod geben könne. Ich dachte aber an die verschiedenen
Todeskämpfe von Sterbenden, von denen ich gehört hatte. Interessanterweise
war der betreffende Professor ein rigoroser Verfechter des sogenannten
Freitodes – er verbot uns, von Selbstmord oder Suizid zu
sprechen, wie es ansonsten ja alle Welt tat; wir mussten "Freitod"
dazu sagen, obwohl wir Zweifel hatten, ob ein solcher Freitod in allen
Fällen wirklich frei und nicht durch unerträgliche Umstände erzwungen war.
Der akademische Lehrer ließ darüber keine Diskussion zu, er fuhr über jeden
Einwand drüber. Es gibt kein "Erleben" des Todes – er musste es uns
einhämmern. Und die meisten nahmen diese Doktrin gleichwohl nicht an. Ich
sehe übrigens keinen Grund, in solchen Fragen derart brutal – und noch dazu
als Philosoph – vorgehen zu müssen. Bis heute leuchtet mir dieses Vorgehen
keineswegs ein.
Es handelt sich
um irrationale Bügelfalten, wie ich sagte, etwas in seiner Heftigkeit
Wahnsinniges kam da zum Vorschein. Auch zwang uns dieser Mensch bzw.
Unmensch, statt von Leichnam von Kadaver zu sprechen; er zwang eine
Dissertantin dazu, dieses abstoßende Wort in ihre Doktorarbeit über den
Tod als soziologisches Problem hineinzuschreiben, als würde es sich bei
"Kadaver" um einen wissenschaftlichen Ausdruck handeln.
Er klagte
manchmal darüber, seinerzeit im humanistischen Gymnasium von Lehrern
schikaniert worden zu sein, die vormals Angehörige der Waffen-SS gewesen
waren. Gab Greif da etwas weiter an uns? Es war nicht nur tief
problematisch, sondern ganz nachhaltig verletzend. Er hatte seine dummen
Bügelfalten in uns weiter hineingebügelt. Ein autoritärer Trottel.