Die
Laborratte und die freie Ratte. Ging eine freie Ratte am Laborrattenkäfig
vorüber, sprach die Laborratte 1 zur freien Ratte: "Du Drückeberger! Wir
leiden, leiden zum Tode, und du gehst frei!", hingegen die Laborratte 2:
"Lauf, was deine Beinchen tragen! Schnell weg von hier!" Die freie Ratte
befolgte naturgemäß letzteren Rat.
Danach bekriegten sich
Laborratte 1 und Laborratte 2 aufs Heftigste. Es ging wieder einmal um
Grundsatzfragen. Laborratte 1 meinte, ihr Opfer sei gerechtfertigt, weil sie
so – als Laborratten – am meisten dem Wohl aller Wesen dienen würden,
während die freie Ratte nichts als ein Ratz sei, der durch die Kanäle husche
und sich von Abfällen ernähre, sogar, genau betrachtet, ein Schädling.
Laborratte 2 hingegen zweifelte am Sinn aller dieser Opfer, sie fand auch
die Verköstigung im Versuchslabor zusehends eintönig, und dieses Fressen sei
zusehends ein Speisen geworden, denn Laborratte 1 hatte sich das Stück einer
Papierserviette umgebunden und Laborratte 2 aufgefordert, sich das andere
Stück umzubinden. Durch das bevorstehende Opfer sei man auch als Ratte
nunmehr geweiht, etwas Sinn- und Wertvolles geworden – wenngleich in nur
bescheidenem Maße, aber doch! –, und deshalb habe man auch ein Anrecht, ja
die Pflicht, auf sich zu halten und fortan zu speisen, so wie es der König
der Tiere mache, der Mensch. Laborratte 2 hatte daraufhin das ihm
zubemessene Serviettenstück ganz einfach zernagt und hinuntergeschlungen,
statt es sich wie Laborratte 1 umzubinden. Seither stritten die beiden nur
noch. Laborratte 1 (ein Weibchen) jedenfalls gab sich opferbereit.
Laborratte 2 (ein Männchen) weigerte sich zunehmend, einen höheren Sinn für
diese Gefangensetzung und abschließende Todesfolter zu glauben. Laborratte 2
träumte von dem Leben als freie Ratte. Und rief jeder freien Ratte, die
vorbeihuschte, um kurz in den Käfig hineinzuschnuppern, zu, so schnell wie
möglich fort zu huschen.
"Schämen
muss man sich mit dir!" sagte Laborratte 1 zu Laborratte 2. Da wurde eine
Laborratte 3 in ihren Käfig hineingehoben. Sie hatte Soziologie studiert.
Sie ging mit einer anderen Taktik vor als das plumpe opferbereite Weibchen.
Sie gab zwar auch vor, dass es einen höheren Sinn gäbe, dass das Leiden
einen Sinn hätte, weil durch dieses Leiden die Ratten gesellschaftlich
konkret würden. Das Ideal wäre, dass alle Ratten in einen riesigen Käfig
eingesperrt würden und dann zusammen den Käfig wegfressen würden – ob mit
umgebundener Serviette oder ohne, sei eine bürgerliche Nebensächlichkeit.
Ja, man könne sich dann sogar zu Recht auch als progressive Ratte die
Serviette umbinden, denn dieses große Fressen, das dem Käfig selber gälte,
wäre dann ein wahres Festmahl. "Aber all diese Metallteile dann zu
verdauen!" seufzte Laborratte 2 auf. Und seine Partnerin, Laborratte 1, war
auch nicht von den ihr zu komplizierten Darlegungen des dialektischen
Aufrührers zu begeistern. "Ich opfere mich lieber ganz individuell!" fiepte
sie mit ihrem zarten Stimmchen. "Ich möchte in meinem Opfer einzig sein!
Einzig und einmalig! Jede Ratte muss ihr Opfer ganz alleine bringen, ihr
Körperchen alleine darbringen – und mit der größtmöglichen Eleganz." Müsse
willig sein, sich eigens herausputzen die ganze Nacht vor der Todesfolter
hindurch, um sich manierlich darzubringen. Nicht einfach wie eine Sau bis
zum Tag der Schlachtung sich mästen, schmatzen und sich gleichgültig in den
Dreck fläzen. "Denn wir Ratten haben auf uns zu halten", legte sie ihren
Standpunkt dar, "sind wir doch gleich unter dem Menschen, unserem Gott, die
intelligentesten Tiere."
Eine behandschuhte Hand
griff in den Käfig, um Laborratte 3 am Schwanz aufzuhängen, sie baumelte
kopfunter von der Decke des Käfigs und setzte ihre Schulungsversuche
unverdrossen fort. Es gehe darum, dozierte sie, den Opfergedanken vom Kopf
auf die Füße zu stellen. "Wir leben in einer verkehrten Welt", sagte sie.
"Seit ich hier kopfunter hänge, merke ich erst so wirklich konkret, was es
bedeutet, in einer verkehrten Welt leben zu müssen. Von Stunde zu Stunde bin
ich von der Notwendigkeit einer Revolution überzeugter."
Ein
letztes Mal war Ratz, die freie Ratte, hier vorbeigekommen, äugte in den
Käfig und dachte, als sie die neue dritte Ratte dort baumeln sah, für einen
Moment verdattert, sie selber sei gegriffen worden und baumle dort. Es
packte sie ein Schauder.
"Ratz, hau ab!" schrie
Laborratte 2, und schon griff die behandschuhte Hand hinein und hob
Laborratte 2 heraus, sie wurde zur Todesfolter abgeführt.
"Ich werde dich nie
vergessen", rief Ratz dem Abgeführten nach, der es noch gehört hatte, und
machte sich für immer davon. |