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Rattus Liber
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Eine behandschuhte Hand griff in den Käfig, um Laborratte 3 am Schwanz
aufzuhängen, sie baumelte kopfunter von der Decke des Käfigs und setzte ihre Schulungs-
versuche unverdrossen fort. Es gehe darum, dozierte sie, den Opfergedanken vom Kopf auf die Füße
zu stellen. "Wir leben in einer verkehrten Welt", sagte sie. "Seit ich hier kopfunter hänge, merke
ich erst so wirklich konkret, was es bedeutet, in einer verkehrten Welt leben zu müssen.
Von Stunde zu Stunde bin ich von der Notwendigkeit einer Revolution überzeugter."


V
on Peter Hodina
(01. 06. 2007)

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Peter Hodina
peterhodina@hotmail.com

geboren 1963 in Salzburg.
Studium der Theologie,
Philosophie, Politikwissenschaft
und Publizistik in Salzburg.
Lebt und arbeitet als freier
Autor in Gallneukirchen
(Österreich) und Berlin.

Preise

Harder Literaturpreis
(2000). Förderpreis der
Rauriser Literaturtage (2004).

Veröffentlichungen

Die Meuterei der Lemminge,
Essay (Hecht-Druck, 2001).

Aurora-Homepage
Peter Hodina

 

 

 

 

 

 

   Die Laborratte und die freie Ratte. Ging eine freie Ratte am Laborrattenkäfig vorüber, sprach die Laborratte 1 zur freien Ratte: "Du Drückeberger! Wir leiden, leiden zum Tode, und du gehst frei!", hingegen die Laborratte 2: "Lauf, was deine Beinchen tragen! Schnell weg von hier!" Die freie Ratte befolgte naturgemäß letzteren Rat.

Danach bekriegten sich Laborratte 1 und Laborratte 2 aufs Heftigste. Es ging wieder einmal um Grundsatzfragen. Laborratte 1 meinte, ihr Opfer sei gerechtfertigt, weil sie so – als Laborratten – am meisten dem Wohl aller Wesen dienen würden, während die freie Ratte nichts als ein Ratz sei, der durch die Kanäle husche und sich von Abfällen ernähre, sogar, genau betrachtet, ein Schädling. Laborratte 2 hingegen zweifelte am Sinn aller dieser Opfer, sie fand auch die Verköstigung im Versuchslabor zusehends eintönig, und dieses Fressen sei zusehends ein Speisen geworden, denn Laborratte 1 hatte sich das Stück einer Papierserviette umgebunden und Laborratte 2 aufgefordert, sich das andere Stück umzubinden. Durch das bevorstehende Opfer sei man auch als Ratte nunmehr geweiht, etwas Sinn- und Wertvolles geworden – wenngleich in nur bescheidenem Maße, aber doch! –, und deshalb habe man auch ein Anrecht, ja die Pflicht, auf sich zu halten und fortan zu speisen, so wie es der König der Tiere mache, der Mensch. Laborratte 2 hatte daraufhin das ihm zubemessene Serviettenstück ganz einfach zernagt und hinuntergeschlungen, statt es sich wie Laborratte 1 umzubinden. Seither stritten die beiden nur noch. Laborratte 1 (ein Weibchen) jedenfalls gab sich opferbereit. Laborratte 2 (ein Männchen) weigerte sich zunehmend, einen höheren Sinn für diese Gefangensetzung und abschließende Todesfolter zu glauben. Laborratte 2 träumte von dem Leben als freie Ratte. Und rief jeder freien Ratte, die vorbeihuschte, um kurz in den Käfig hineinzuschnuppern, zu, so schnell wie möglich fort zu huschen.

   "Schämen muss man sich mit dir!" sagte Laborratte 1 zu Laborratte 2. Da wurde eine Laborratte 3 in ihren Käfig hineingehoben. Sie hatte Soziologie studiert. Sie ging mit einer anderen Taktik vor als das plumpe opferbereite Weibchen. Sie gab zwar auch vor, dass es einen höheren Sinn gäbe, dass das Leiden einen Sinn hätte, weil durch dieses Leiden die Ratten gesellschaftlich konkret würden. Das Ideal wäre, dass alle Ratten in einen riesigen Käfig eingesperrt würden und dann zusammen den Käfig wegfressen würden – ob mit umgebundener Serviette oder ohne, sei eine bürgerliche Nebensächlichkeit. Ja, man könne sich dann sogar zu Recht auch als progressive Ratte die Serviette umbinden, denn dieses große Fressen, das dem Käfig selber gälte, wäre dann ein wahres Festmahl. "Aber all diese Metallteile dann zu verdauen!" seufzte Laborratte 2 auf. Und seine Partnerin, Laborratte 1, war auch nicht von den ihr zu komplizierten Darlegungen des dialektischen Aufrührers zu begeistern. "Ich opfere mich lieber ganz individuell!" fiepte sie mit ihrem zarten Stimmchen. "Ich möchte in meinem Opfer einzig sein! Einzig und einmalig! Jede Ratte muss ihr Opfer ganz alleine bringen, ihr Körperchen alleine darbringen – und mit der größtmöglichen Eleganz." Müsse willig sein, sich eigens herausputzen die ganze Nacht vor der Todesfolter hindurch, um sich manierlich darzubringen. Nicht einfach wie eine Sau bis zum Tag der Schlachtung sich mästen, schmatzen und sich gleichgültig in den Dreck fläzen. "Denn wir Ratten haben auf uns zu halten", legte sie ihren Standpunkt dar, "sind wir doch gleich unter dem Menschen, unserem Gott, die intelligentesten Tiere."

Eine behandschuhte Hand griff in den Käfig, um Laborratte 3 am Schwanz aufzuhängen, sie baumelte kopfunter von der Decke des Käfigs und setzte ihre Schulungsversuche unverdrossen fort. Es gehe darum, dozierte sie, den Opfergedanken vom Kopf auf die Füße zu stellen. "Wir leben in einer verkehrten Welt", sagte sie. "Seit ich hier kopfunter hänge, merke ich erst so wirklich konkret, was es bedeutet, in einer verkehrten Welt leben zu müssen. Von Stunde zu Stunde bin ich von der Notwendigkeit einer Revolution überzeugter."

   Ein letztes Mal war Ratz, die freie Ratte, hier vorbeigekommen, äugte in den Käfig und dachte, als sie die neue dritte Ratte dort baumeln sah, für einen Moment verdattert, sie selber sei gegriffen worden und baumle dort. Es packte sie ein Schauder.

"Ratz, hau ab!" schrie Laborratte 2, und schon griff die behandschuhte Hand hinein und hob Laborratte 2 heraus, sie wurde zur Todesfolter abgeführt.

"Ich werde dich nie vergessen", rief Ratz dem Abgeführten nach, der es noch gehört hatte, und machte sich für immer davon.

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