
(c) Wojciech Gajtkowski
Lothar Quinkenstein
lquink@web.de
geboren 1967 in Bayreuth, Studium
der Germanistik und Ethnologie in Freiburg
im Breisgau. Arbeit als
Deutschlehrer, u.a. in St. Petersburg. Lebt seit 1994
in Polen, zur Zeit tätig am
Institut für Germanische Philologie der Adam Mickiewicz Universität in
Poznań.
2005 und 2006 Stipendiat der Kulturstiftung der Länder,
Berlin (Villa Decius, Krakau). Im Frühjahr 2007 Stipendiat im Künstlerhaus
Schloss Wiepersdorf.
Veröffentlichungen

Beim Stimmen der
Saiten.
Gedichte.
Geistkirch
Verlag, 2007.
ISBN: 978-3-938889-52-7
Nervenharfe.
Erzählungen.
Gollenstein Verlag,
Blieskastel 1998.
ISBN: 3930008661
Lyrik
In mehreren Nummern
der Zeitschrift "Krautgarten"
(seit 1998)
Hofkonzert.
Gedichte für Kinder.
Selbstverlag. Poznań 2005.
Schnaps.
Schöner Lesen Nr. 50.
Hg. v. Marc Degens.
SuKuLTuR,
Berlin 2006.
Übersetzungen ins Polnische Kurzprosa und Lyrik -
in der Zeitschrift AKANT (Bydgoszcz).
Zwei Romane – Tellurium
und Das Gipfelbuch
beschäftigen sich mit
deutsch-
polnischen Erfahrungen
(beide bislang unveröffentlicht).
Krajobraz z ptakiem kurowatym
(Lyrisches Beiheft der Gazeta Malarzy i Poetów, Poznań, 1/2007)
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"Indessen, ich fahre fort."
Fjodor Dostojewskij, Der Idiot
V errückt, sag ich
dir, verrückt, was ich hier gefunden habe. Janinas Stimme klang aufgeregt.
Das musst du sehen, sonst glaubst du es mir wieder nicht.
Und alles Deutsch. Ich versteh kein Wort davon. Schaus dir an, dann haben
wir es wenigstens beide geträumt.
Die gute Janina, vor Freude weithin Strahlende. Seit ich einmal Zweifel
geäußert hatte an den nächtlichen Spaziergängen eines Herrn mit Reitstiefeln
und mottenzerfressenen Jabots, den sie von ihrer Gaube aus auf den Dächern
gegenüber beobachtet haben will, verdächtigt sie mich bei jeder Gelegenheit
haltloser Zweifelsucht. Dabei bin ich keineswegs übertrieben skeptisch, ich
suche lediglich einen Mittelweg zwischen Agnostizismus und Lourdes-Wasser in
Muttergottespuppen mit abschraubbarem Kopf. Wo auf dieser Skala
melancholisch anmutende Herren auf nächtlichen Dachfirsten anzusiedeln
wären, weiß ich aus dem Stegreif nicht zu sagen. Daher meine Zurückhaltung,
fern jeder bösen Absicht, doch kann sich Janina seitdem manch kleine Spitze
nicht verkneifen.
Da ich mir ohnehin noch die Beine hatte vertreten wollen, kam ihr Anruf
gerade recht. Ich schlüpfte in die Jacke und verließ die Wohnung.
Eigentlich
ist Janina Malerin. Gezwungen jedoch von der ökonomischen Not, die derlei
Eigentlichkeit häufig mit sich bringt, musste sie eine regelmäßiger
entlohnte Arbeit sich suchen, die sie als Bedienung im Lokal "Zur Krone"
fand, einem Treffpunkt gerade von solcher Eigentlichkeit geplagter Menschen,
die dort Erholung suchen von den Fährnissen des Daseins. Und in diesem Lokal
– genauer gesagt: im Vertiko in der Chambre séparée – hatte Janina, die
weithin Strahlende, einen Packen Bierdeckel gefunden, die sie eben, da alle
reichlich mitgenommen und nicht mehr zu verwenden waren, in den Abfalleimer
befördern wollte, als sie stutzig wurde. Was sich dann im helleren Licht der
Thekenlampen zeigte, veranlasste sie, zum Hörer zu greifen und mich
anzurufen.
Während ich vor mich hin schritt durch den ruhiger werdenden Feierabend
unseres beschaulichen Städtchens, fragte ich mich (und bass überrascht, dass
mir das hier und jetzt zum ersten Mal in den Sinn kam), ob ich denn auch
befugt sei, ein solches Eigentlich als Schlüssel meines Lebens zu
verwenden?
S tudiert, aber
nicht zu Ende, weder die so genannte germanische Philologie noch die
Musikwissenschaft. Gearbeitet, aber selten lange am selben Ort. Unter
anderem auf Erdbeerfeldern in einem recht angenehmen Winkel Deutschlands
unweit der französischen Grenze. Später, während die Kommilitonen mit
Beiträgen zur Stereoptypenforschung ihren Magister bosselten, bei einer
Spedition in der Nähe von Stuttgart. Und gegenwärtig, da die alten
Kommilitonen Visitenkarten mit Doktortitel aushändigen, Betreiber eines
Kopierkabuffs, dem die Universitätsbibliothek einmal im Quartal mit
Kündigung droht, um den Vertrag dann gnädig zu verlängern. Aber eigentlich?
Was war ich eigentlich? Existierte ich eigentlichlos? War das ein Glück? Ein
Fluch? Wie sollte man den Plunderhaufen Halbheiten denn nennen? Alles
Abgetragene, Schicht um Schicht, zu welchem Urgestein hinunter?
Sanftmütige Geister erachten den aller Titel und Ämter Ledigen als
besonders geadelt. Menschsein als Eigentliches. Das Scheitern in allen
Disziplinen als Gipfel der Humanität? Hehre Verdunkelung des Unvermögens.
Dann lieber Faulpelz und Tagedieb. Das wenigstens verpflichtet zu nichts.
J anina fächerte
die Pappscheiben auf die Theke.
Deutsch, wahrhaftig. Dazwischen Zeichnungen, Gekritzeltes. Manches sah aus
wie Schemaskizzen, anderes schien Augenblicken gedankenverlorener
Abwesenheit geschuldet. Schraffurfiguren, Fluchtpunktfächer, verdichtet bis
zur Tilgung der bedruckten Oberfläche.
Gott (K), las ich.
Ist Gott nicht Bóg? fragte Janina.
Ich nickte.
Und das hier?
Barmherzigkeit … Grund … Majestät ...
Was soll das heißen? Aber guck dir das erst an!
Janina gab mir einen Bierdeckel, auf dem – jedem regelmäßigen Gast der
"Krone" bestens vertraut, denn nächtliche Debatten am Thekeneck stießen sich
die Ellbogen daran – der seltsame Kasten erkennbar war, der hinter uns an
der Wand hing. Ich drehte mich um, warf einen Blick auf das Gebilde unklarer
Herkunft, das irgendwann sein Plätzchen als Dekorstück gefunden hatte.
Janina bestätigte es.
Das komische Dingens hier, ich wollte es auch nicht glauben. Und da steht
noch etwas …
Sefiroth, las ich und wusste nichts damit anzufangen.
Schriftrollen, Wasserspeier, Motorenzylinder … entzifferte ich auf dem
nächsten Stückchen Pappe. So fragmentarisch es mich anwehte, das wenigstens
leuchtete auf Anhieb ein, denn die zehn in mattem Messingschimmer glänzenden
Schnutenschnäbel, Schnabelschnuten – je nach Gusto – die den Kasten zierten,
konnten an alles Mögliche erinnern.
A ls nächstes sah
ich ein Gebilde aus Kreisen, die in symmetrischer Anordnung verteilt waren,
von Strichen zu einer Art Atommodell verbunden. Zehn Kronen, stand daneben.
En-Sof/mystischer Anthropos – Urmensch, Urtage, Licht … Zeit das Glas
getrübt ... das Rätsel versiegelt ...
Was immer die Stichworte bedeuten mochten, die letzten entsprachen
abermals dem, was wir sahen, denn die kleinen Fensterchen über den Schnuten
waren blind. Von Staub, von Zeit – das soll dann jeder halten, wie er will.
Siehst du, dass ich es nicht erfunden habe, fasste Janina, der mein
ratloses Grimassieren sichtlich gut tat, ihren Triumph in Worte. Und während
ich noch an einer Antwort nuschelte, strahlte sie kometenhaft auf.
Eustachy!
N atürlich,
Eustachy! Dass ich nicht selbst auf ihn gekommen war! Niemand anderer als er
wäre in der Lage, obskure Splitter zum Brennspiegel zu fügen, auf dass ein
Funke zünde, sie zu erhellen. Eustachy, ebenfalls Maler und kein seltener
Gast in der "Krone" – jenseits des Eigentlichen, wohlgemerkt, denn sowohl
das eine wie das andere war er mit Haut und Haar – verfügte über ein
unschätzbares Wissen, gleich ob es sich um ästhetische Fragen handelte, um
die Aufzucht aus dem Nest gefallener Jungvögel oder um Grenzgebiete des
Denkens, welch letztere hier womöglich mehr als nur gestreift wurden.
Allerdings wussten wir auch, dass Gespräche mit Eustachy Fingerspitzengefühl
erforderten. Es gibt Tage, an denen eine an ihn gerichtete Frage der
sicherste Weg ist, keinen Deut zu erfahren. An anderen Tagen wird man durch
ein halbes Dutzend europäischer Museen geschleift, dass man nicht weiß, wie
einem geschieht.
Einen erstaunlich guten Draht zu Eustachy, und das trotz des
Altersunterschiedes, hat Jarek, der wiederum Maler im Sinne des Eigentlichen
ist, und außerdem mit Janina liiert. Dass Eustachy, (der Jareks Bilder
durchaus in Grund und Boden kritisieren kann), nächtelang mit ihm am Tisch
sitzt, muss mit ihrer beider Herkunft zusammenhängen. Beide nämlich stammen
aus dem Osten. Nun liegen zwar zwischen Krasnystaw und Velyki Mosty noch
gute hundertdreißig Kilometer, doch rechnet man im Osten Entfernungen
bekanntlich anders. Dort zählt man nicht mit schnöden Meilensteinen, dort
vermisst man das Land mit dem Herzen.
B edauerlicherweise
hatte die Zweisamkeit von Jarek und Janina eine empfindliche Quetschung
erfahren, und ich wusste nicht, in welchem Stadium der Heilung sie sich
befand. Ob Jarek vermittelnd tätig werden könnte oder nicht – das wusste im
Augenblick allein Janina.
Auslöser der Missstimmung war, so weit sich das verfolgen ließ, ein
Musikus gewesen, der, eigentlich (da ist es wieder, das quicklebendige
Wörtchen …) auf der Durchreise, infolge eines verpassten Busses auf einer
Vernissage auftauchte, wo er sich erstaunlich ausdauernd (für einen
Durchreisenden zumal) mit Janina unterhalten hatte. So ausdauernd, dass von
Durchreise plötzlich keine Rede mehr war. Er kroch bei einem Bekannten
unter, trieb sich Abend für Abend in zahllosen Kneipen herum, und als er
Janina das zweite Lied widmete, ersuchte Jarek seine Freunde um Rat.
Dagegenhalten, meinten die einen. Wäre doch gelacht, wenn du nicht
schneller malst als dieser Hansel komponiert. Ab die Post, sagten die
anderen, ohne Abschied, ohne Zettel, ahoi! Und in drei Tagen spätestens wird
sie Plakate kleben lassen: Jareczku, komm zurück!
D a die einen wie
die anderen Ratschläge in der "Krone" erteilt wurden, ging es mit dem Malen
nicht ganz so zügig, und auch das Ahoi wollte nicht gelingen. Einen Frühzug,
der alles Hadern einer langen Nacht in Entschlossenheit verwandeln sollte,
verschlief Jareczek in der Chambre séparée.
Schließlich setzte der Musikus die unterbrochene Reise fort, doch gab es
noch allerlei E-Mails und eine CD mit Balladen im Briefkasten, (die Jarek
mit dem Korkenzieher ruinierte) – genug an Misshelligkeiten also, und dass
Janina jetzt von ihm schwieg, mochte einiges heißen.
Trinkst du ein Bier?
Ein Kleines.
Janina zapfte es, und ich ließ mich auf meinem Lieblingsplatz nieder, dem
Sünderbänkchen am Windfang, mit Blick auf die Abendgasse.
W ährend ich das
Bier trank, fielen mir die Handwerker wieder ein, die ich vergessen hatte
anzurufen wegen der Terminabsprache für morgen. Es ging um einen
Wasserzähler, den ich installieren lassen wollte, da mir die
Pauschalabrechnungen der Hausverwalterin in den letzten Monaten zunehmend
undurchsichtig erschienen waren. Ein sprunghafter Anstieg des
Wasserverbrauchs, zu erreichen allein durch ein geplatztes Rohr oder
Badeorgien rund um die Uhr, wurde von ihr auf erhöhten Gießwasserbedarf
infolge des trockenen Sommers zurückgeführt. Angesichts der welk vor sich
hin kümmernden zweieinhalb Quadratmeter Blumentrauer im Hinterhof eine
zweifelhafte Erklärung. Als ich dann die Hausverwalterin über mein Vorhaben
informierte, wurde ich scharf zurechtgewiesen, dass eine solche Installation
ausgeschlossen sei, beziehungsweise ungerecht gegenüber den übrigen
Mietparteien. Und überhaupt habe der Hausbesitzer – wohnhaft seit Jahren in
Chicago und demnach unerreichbar – weitere Wasseruhren kategorisch verboten.
Im Erdgeschoss seien seinerzeit in zwei Wohnungen Wasseruhren angebracht
worden, und es sei ein einziger Ärger damit. So blieb mir nichts anderes
übrig, als vollendete Tatsachen zu schaffen, die ohne weiteres nicht mehr
rückgängig zu machen waren, und von Chicago aus schon gar nicht.
Ich fragte Janina nach einem Telefonbuch. Leider besaß die "Krone" keins.
Ob Eustachy überhaupt im Telefonbuch steht? Sie sah mich zweifelnd an.
Außerdem würde er sich bedanken, wenn man ihn einfach so anruft.
Nicht wegen Eustachy, erklärte ich, wegen der Handwerker morgen ...
Das Seufzen der Tür, vom Windfang gedämpft, das Kratzen der Innentür, die
ein Stück über den Boden schabt, wir sehen auf, und wie aufs Stichwort steht
er da, das weiße Haar im Dämmerschein gleich einer Mütze aus Licht auf dem
von kräftigen Händen modellierten Schädel. Er geht zur Thekenecke, juckt
sich die Schläfe, schnickt gegen einen der Schnutenschnäbel, tüpfelt einen
Rhythmus aufs Tresenholz. Janina sieht ihn wie eine Erscheinung an. Aber da
ist alles wie sonst. Und ganz wie sonst sagt er:
Ein Großes.
Während es ins Glas läuft, blickt er sich im Gastraum um. Am Tisch der
Kunststudenten verstummt das Gelächter. Jemand zeigt verstohlen in seine
Richtung. Eustachy drohte mit dem Finger.
Er nahm sein Glas entgegen, ging in die Chambre séparée, ließ sich auf
dem Sofa nieder, auf dem Jarek den Zug nach Krakau verschlafen hatte. Zog
ein Buch aus der Jackentasche, schlug es auf. Sog Schaum. Strich die Seiten
glatt, die sich wölben wollten. Trank einen Dreiklangschluck. Lehnte sich
zurück, begann zu lesen.
Man hätte ihn malen können, wie er dort saß im warmen Schimmer – Blick
durch zwei Türen, über den Flur hinweg, gleichsam im Doppelrahmen, der das
Kanapee anschnitt, das Vertiko halbierte, und noch der Besen, links an der
ersten Tür postiert, stand, als gehöre er zum Bild.
Janina lugte um die Ecke. Lebhaft ging ihr Mienenspiel. Was machen wir
jetzt?
Ich hob die Schultern, hielt in den Händen Luft ratlosen Wägens für und
wider. Sie deutete auf die Uhr über der Kredenz, gab mit den Fingern
Zeichen, die ich nicht entschlüsseln konnte.
D er Klingelton,
ein scharfer Schnitt, dem mit Verzögerung der Schmerz erst folgt, ein
zweites Mal, ein drittes, ich stolperte über hingeworfene Kleider, der Hörer
der Sprechanlage glitt mir aus der Hand, federte wie ein Bungeespringer,
ließ sich endlich einfangen. Die Installateure! krachte es mir mit einer
Woge Straßenlärm entgegen. Ich drückte den Türöffner.
Drei Stockwerke steile Altbautreppen. Gerade Zeit genug, sich anzuziehen.
Panie, Panie, Panie, sagte der ältere der beiden und schabte sich die
Wangen. Das wird ne Mörderei, das sag ich Ihnen. Allein im Bad zwei
Steigleitungen, das schon mal vorneweg, und in der Küche vielleicht ne
dritte. Was meinst du, Stachu, wo hängt der Thron mit dran? Am Ende an der
Spüle, quer durch die Wand, oder ham die das mit der Wanne verwurstelt?
Stach krümmte sich in die Ecke, in der die Toilette unter die Dachschräge
gequetscht war, rüttelte an dem Kachelimitat aus Pressspan, das keinen
nennenswerten Widerstand leistete, tauchte bis zum Gürtel in den sich
öffnenden Hohlraum hinab, beklopfte, was er dort vorfand, tauchte auf und
schüttelte den Kopf: Weiß der Deibel.
F olgender
Vorschlag, ergriff wieder der ältere das Wort. Wir fangen mit der Wanne an,
da ham wir dann wahrscheinlich auch die Waschmaschine mit drin, wursteln den
ersten Zähler dran, und dann stochern wir mal am Waschbecken, ob wir da was
finden. Bisschen Dreck wirds leider geben, das is nich zu vermeiden, aber
keine Angst, so wild wirds schon nich werden. Die Küche lassen wir noch in
Ruhe, bevor wir nich wissen, wies hier im Bad aussieht. Wenn das Waschbecken
ne eigene Leitung hat, hängt der Thron wahrscheinlich an der Spüle. Wenn
nich, zerwursteln wir uns morgen den Kopf darüber.
Gerne hätte ich noch meine Blase entleert, doch öffneten die beiden schon
ihre Werkzeugkisten, legten Utensilien zurecht. Stach wurde noch einmal
hinunter zum Wagen geschickt, den Schlagbohrer zu holen und einen Satz
Rohrknie. So wollte ich die Arbeit nicht unnötig verzögern.
Moment noch, Panie, der Haupthahn! Der Haupthahn, natürlich! Daran hatte
ich, blutiger Laie, der ich war, überhaupt nicht gedacht. Irgendwo im
Keller. Aber wo? Vermutlich in jenem verriegelten Gelass, in dem die
Hausverwalterin von ihrem ominösen Zentralzähler den infolge der Sommerhitze
gestiegenen Gießwasserverbrauch ablas.
Die Künstlerfamilie, deren Untermieter ich war, hatte mir nicht nur
einige imposante Möbelstücke zur Nutzung hinterlassen, sondern in diesen
auch noch jenen Trödelmarkt eines Künstlerlebens, der eben dort, in den
Schubladen schlachtschiffgroßer Kommoden, am besten aufgehoben ist. Das Bild
eines Schlüsselbundes vor Augen, der einem Gerwazy alle Ehre gemacht hätte,
zog ich die unterste Lade auf. Wer sagt es denn!
Und einer der Schlüssel passte.
Wir stiegen hinunter ins modrige Schummerlicht. Der Meister, den Spürsinn
geschärft in Hunderten solcher Keller, fand auf Anhieb den Hahn. Vom Zahn
der Zeit beknabbert, doch ließ er sich knarzend drehen, und als er zugedreht
war, lief unterm Dach kein Wasser mehr.
Bis 16 Uhr, so meinten sie, wären sie mindestens beschäftigt. Ich
versprach, rechtzeitig zurück zu sein, und eilte auf den Altmarkt, mir den
Luxus eines Café-Frühstücks zu gönnen, vor allem auch, den Blasendruck
loszuwerden, der dringend wurde.
Während ich, entsprechend erleichtert, ein Speck-Baguette aß und einen
Milchkaffee trank, kehrten meine Gedanken zum gestrigen Abend zurück.
D ass Jarek zu
später Stunde noch aufgetaucht war, hatte hinsichtlich meiner vagen
Vermittlungsidee nicht im Geringsten genutzt. Mit Freunden war er
eingelaufen, nach einer Tour durch mehrere Lokale, und seine Stimmung
entsprach dem seelischen Landunter, welches allein die Wendung „kurewska
melancholia" annähernd zu bezeichnen vermag. In rascher Folge stürzte er
mehrere Portionen Wodka hinunter, gab bittere Sentenzen zum Besten, die
einem Handbuch der Misogynie entnommen waren, und Janina, die weithin
Strahlende, tat mir von Herzen leid.
Eustachy, von dem berauschten Treiben in seiner Lektüre gestört, schloss
sich demonstrativ in der Chambre séparée ein.
In einem Anfall wüster Zerknirschung wollte Jarek dann partout unter vier
Augen mit ihr sprechen, was erstens an der Theke und zweitens bei dem
lebhaften Betrieb denkbar ungünstig vonstatten ging. Die Einsicht in das
Misslingen dieses Unterfangens schlug wiederum heikel zu Buche, denn
befeuert von männerbündlerischen Genien im Chorus seiner Trunkenheit, mühte
er sich eifrig, mich als Komplizen zu gewinnen, und meine Befangenheit
beflügelte ihn nur umso prekärer.
Als Eustachy sein Kabinett verließ, um den Heimweg anzutreten, saß Jarek
allein am Tisch, las stieren Auges aus der Neige.
Jareczku, Jareczku, Dummheit frisst, Intelligenz säuft, und klüger wird
keiner davon. Lasciate ogni speranza … Er winkte dem hilflos Brummenden zum
Abschied mit dem Buch.
Janina packte die Bierdeckel in eine Tüte.
Nimmst du sie mit? Nicht dass sie morgen jemand von der Mittagsschicht
wegwirft.
Sie sah mich an, versuchte ein Lächeln.
Dann komm gut heim.
Ihr auch, wollte ich sagen, Macht der Gewohnheit, und als ich zögerte,
tat es mir doppelt leid.
V erlassen der Altmarkt. Gassen
und Fenster und Giebel. Über den Dächern das alte Spiel – die Schiefertafel,
ein Wolkenschwamm, die Tüpfelchen ohne i – und nun, im Morgenrauch
eines Cafés, saß ich vor Krümeln auf dem Teller und geleerter Tasse, und ein
Zampano im lokalen Radiosender sagte die Lieder an, als gelte es sein Leben.
Ich zahlte, setzte meinen Weg fort Richtung Arbeitsplatz.
Auf der Paderewski-Straße war ein Streit mit den Parklotsen im Gange. Ein
Herr, eben einer importierten Limousine entstiegen, weigerte sich, den
Obolus zu entrichten, der nach umsichtiger Zuweisung der Lücke üblich war.
Lautstark ging es zu, denn er entfernte sich, taub gegen alles Bitten,
beschimpfte gar die dienstfertigen Mannen in einer Weise, die in keinem
Verhältnis stand zu seinem Anzug und den ziegenledernen Galanschuhen. Die
Freunde und Geschäftsteilhaber, die auf den Stufen des Antiquariates
gelagert hatten, rappelten sich solidarisch hoch, schüttelten die Fäuste, er
winkte nur unwillig ab, und das Klappern seiner Absätze entfernte sich auf
dem Pflaster.
Es ist doch immer wieder traurig zu sehen, wie rasch die Erfolgreichen,
einmal Höhenluft atmend, die Mühsal des Aufstiegs vergessen. Kaum ein paar
Jahre ist es her, dass sie selbst gestolpert sind auf den tückischen Pfaden
des freien Marktes – und heute solcher Hochmut gegenüber den tapferen
Anfängen privater Initiativen.
Unschöne Stüber unschöner Szenen. Glücklicherweise hält mein Weg auch
Linderung bereit. Zwei Ecken weiter nämlich befindet sich die Buchhandlung
"Zum Heiligen Adalbert", und gleich daneben liegt die Milchbar "Caritas".
Und sowohl die bärtigen Gesichter der Pröpste, Päpste und Propheten, die von
Buchdeckeln herab den Vorübergehenden Trost und Zuversicht spenden, als auch
die Güte der gleichfalls bärtigen Gesichter, die hinter der nächsten Scheibe
Pfannkuchen mümmeln, bestärken mich tagtäglich in meinem Glauben, zwar
wiederum nicht an Lourdes-Wasser in Madonnenflaschen, sondern vielmehr in
einem Glauben an das Unberechenbare, das stets von neuem Funken schlägt aus
der stupenden Nachbarschaft von Güte und Gemeinheit.
Wahrscheinlich verhält es sich auch hier nicht anders als auf dem freien
Markt – wenn die Mildbärtigen erst einmal Bücher über die caritas proximi
schreiben, wollen sie von Milchbars nichts mehr wissen und speisen mit ihren
Verlegern in Edelpinten. Doch sei es, wie es sei, für Momente tröstet es
trotzdem.
Und solcherart getröstet, kehren meine Gedanken immer wieder zu Eustachy
zurück, der im 16. Stock eines Hochhauses wohnt, umgeben von Hochhäusern,
die wiederum umgeben sind von weiteren Hochhausumgebungen, und dass dieses
betongraue Wohnpferchlabyrinth Eustachys Bilder enthält, ist eines der
wenigen Wunder, die der Funken-Glaube bereit wäre anzuerkennen.
I n einem
Lebensmittelladen besorgte ich mir eine Flasche Mineralwasser und betrat den
wuchtigen, seinerzeit von einem gewissen Karl Hinckeldeyn entworfenen
Bombastizismus-Schuppen in der Ratajczak-Straße, grüßte den Pförtner,
erklomm die Treppen. Bibliotheca caput omnium. Soll mir recht sein. Und ich
kopiere, was man mir bringt.
Heute zuerst ein Schwung Gesetzestexte. Offenbar stand eine Juraprüfung
bevor. Später seitenweise Lexika. Germanistikstudentinnen schleppten sie an,
vollendetere Engel in Paillettenblusen, flamboyantes Gold auf rosenfarbenen
Hosen, und während ich die Seiten wendete und das Licht blitzen ließ,
klagten sie über einen Stundenplan, der jedes menschliche Maß überstieg.
Nach der üblichen Mittagsflaute hatte ich einen netten Plausch mit einem
alten Herrn, der bröselnde Zeitungen entfaltete und vergilbte Polemiken von
Anno Tobak kopiert haben wollte, die schon im Original kaum noch zu lesen
waren. Solche Käuze können mir den Tag versilbern. Unverwüstliches
Schuhwerk, mehrfach gerissene und wieder verknotete Schnürbänder, eine
Hornbrille, durch die der Herr vermutlich schon Gomułkas Leitartikel
missbilligt hat, mit zittriger Schrift bedeckte Zettel, aus den Taschen
eines priemfarbenen Jacketts geklaubt.
Mit dem Kopieren ist es dann auch selten getan. Ich werde auf wichtige
Literatur hingewiesen, auf bahnbrechende Publikationen, die bis heute kein
Mensch wahrgenommen hat, auf Publikationen, die zu Unrecht (da von Fehlern
wimmelnd) zu Ehren kamen. Erfahre, was nur einem kleinen Kreis von
Eingeweihten zu wissen vergönnt ist, höre von Glanz und Elend großer
Gelehrter, von Intrigen, die zu Rang und Namen verhalfen, von Intrigen, an
denen eine Karriere zerbrach.
Ich höre die faltige Stimme, sehe die dürren Hände, die aus zerfransten
Manschetten ragen, die gelb gerauchten Fingerkuppen, bläuliche Adern unter
pergamentener Haut. Sehe ihn an der Garderobe einen verschossenen Mantel
entgegennehmen, seine Papiere in einer Plastiktüte verstauen, deren einst
grelle Werbefarben bis zur Unleserlichkeit zerrieben sind. Sehe ihn die
Bibliothek verlassen, um in der Milchbar "Caritas" ein bescheidenes
Abendmahl einzunehmen. Und könnte den Menschen in die Arme schließen.
Da das schlecht möglich ist bei einem Fremden, biete ich dem Herrn einen
Tee an. Und wir plaudern, bis es Zeit wird, mein Kabuff zu schließen.
Eine
Spur weißer Stapfen führte hinaus in den Hof. Auf halber Treppe kam mir
Stach mit einem Eimer Mörtelputz entgegen.
Panie, Panie, keuchte er schwitzend, der Deibel soll den Künstler holen,
der hier die Installation gemacht hat.
Von bösen Ahnungen gedrückt wie von einem schlecht gepackten Rucksack,
betrat ich die Wohnung.
Mehlfeiner Staub bedeckte jeden Quadratzentimeter. Die Wanne stand im
Flur, im Bad klafften drei Löcher in der Wand. Das eine, eine Elle unter den
Armaturen, enthielt nur Mauerwerk, im zweiten, einen geschätzten Meter
daneben, schimmerte ein waagrechtes Stück Rohr, im dritten führte eine
Biegung – die Fortsetzung des Rohres wohl – in die Senkrechte, und eine
Abzweigung setzte sich Richtung Waschmaschine fort. Kurz vor der Biegung
glänzte eine fabrikneue Wasseruhr.
Auf dem Boden Zangen, Klemmen, Sägen, Schraubenschlüssel. Kupferfarbene
Späne, Büschel von Hanfwolle, es roch nach erhitztem Metall.
Das also ham wer, sagte der Meister und deutete auf den installierten
Zähler. Aber jetzt kuckense sich mal an, wie die die Rohre gelegt haben. Die
müssen voll gewesen sein wie tausend Mann. Nochn Riesenglück, dass wir das
überhaupt so schnell gefunden haben.
Ich nickte sorgenvoll.
Dauert jetzt natürlich alles länger als geplant. Morgen wursteln wir
Ihnen das erstmal zu, bisschen Schaum rein, Gipsplatte drüber, verspachteln,
is ja nur Optik, und dann …
Stach, der um die Ecke schnaufte, schob mir die Tür ins Kreuz.
Oh, `tschulljung, wusst nich, dass Sie da stehen … Tja, hats der Meister
Ihnen erzählt?
Ich nickte abermals.
Deibel, Deibel, so was ham wir auch noch nich gesehn.
… und dann ran an den nächsten Speck. Müssen aber morgen n bisschen
früher loslegen, sonst kommn wer mit der Zeit ganz bös in die Bredullje. So
um sieben, wär das recht?
N achdem sie
eingepackt hatten und gegangen waren, befiel mich eine Müdigkeit, die nicht
allein von der kurzen Nacht herrührte. Ich trug das Plumeau auf den Balkon,
schüttelte es leidlich aus und legte mich in Kleidern, wie ich war, ins
Bett. Ein halbes Stündchen nur, dann würde ich in der Lage sein, den Staub
in Angriff zu nehmen.
Als ich nach drei halben Stündchen, einigermaßen wieder bei Kräften, eben
den Wischmopp ins Wasser senken wollte, klingelte das Telefon.
Janina sprach so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte.
Ob etwas passiert sei? fragte ich beunruhigt.
Nein, nein, passiert ist nichts ...
Warum sie denn …?
Geht jetzt nicht lauter. Sie sitzen hier.
In der Krone?
Ja. Komm schnell und bring die Bierdeckel mit.
D ie Disputation
war in herrlichster Blüte. Jarek hatte die gestrige Krise überwunden, brach
flammende Lanzen für Utrillo. Eustachy stärkte Soutine den Rücken.
Transzendenz ist Menschenleere, rief Jarek und breitete die Arme aus. Die
verlassenen Asyle der Kultur, Barmherzigkeit brüchiger Mühlen,
Barmherzigkeit brüchiger Kirchen!
Transzendenz ist nicht am Arsch der Welt, parierte Eustachy, Transzendenz
ist im Porträt.
Metaphysik verwehender Spuren, reckte Jarek umso kühner sich ins
Grenzenlose, Requiem des Staubs, Agnus Dei verlassener Plätze im ewigen
Vorstadtlicht … (Requiem des Staubs. Der hatte gut reden.) Geh mir weg mit
verlassenen Plätzen! brauste Eustachy erneut dazwischen, da scheißt doch
kein lahmer Hund mehr hin! Den Menschen gepackt und hingestellt! Verratzt,
wie er ist, und trotzdem groß!
Den Menschen? Jarek will es nicht fassen. Und trotzdem groß? Mit einer
Galerie von Chorbuben und Ministrantenmuckern?
Hört, hört! Der Anticlericus zum Spartarif. So ein Allerseelenbajazzo hat
ja bestenfalls Glück oder Schwein gehabt, aber von Gnade noch nie was läuten
hören.
Und mehr als einmal läuten hören! Die Glocken von Picpus! Wo die Irren
die Strippen ziehen und nicht irgendwelche halbgaren Apostel.
Deine Gesundheit, Jareczku! Dass du nicht eines Tages läuten helfen
musst!
Und deine erst!
Und eine Maulschelle mit Rückschein für die halbgaren Apostel!
Ausgetrunken!
Ausgetrunken!
Janina schob mich näher an den Tisch. Setz dich dazu, flüsterte sie, das
ist die Gelegenheit …
Ehe ich etwas erwidern konnte, war Jarek aufgesprungen, hatte mich
umarmt, wir sanken gemeinsam auf den Sitz.
Bajkarz, alter Trauerkloß, lass dich ans Herz drücken, ich geb einen aus!
Ich befreite mich, rückte auf den Stuhl daneben. Eustachy musterte mich
unter seiner Mütze aus Licht.
Dich kenn ich auch irgendwoher.
Den Bajkarz, klar kennste den, der hängt doch jeden zweiten Abend hier
rum und schielt den Musen unter die Wäsche.
Will ich meinen, sagte Eustachy und prostete mir zu.
Auf den Knien hielt ich die Tüte mit den Bierdeckeln. Janina brachte mir
ein Kleines.
Janinchen, Zeit für den Wodka, beschied Eustachy sotto voce.
Ein Wooodka uuund ein Gürk-chen dazu ... hei-len verstauchte Seee-len im
Nu! intonierte Jarek und klatschte den Takt. Ich legte wie von ungefähr die
Tüte auf den Tisch. Jetzt galt es, höchste Vorsicht walten zu lassen. Der
kleinste Fehltritt, und alles war verpatzt.
Ein Journalist hatte einmal wochenlang Eustachys Aquatintablätter
studiert, die kauernden Häuser unter düsteren Himmeln, in denen Fische und
Menschen schweben. Richtstätten mit Leiter, Rad und Raben. Mann und Frau,
nackt vor brennenden Gesetzestafeln. Kindheitsbeschwörungen? fragte er dann
im Interview, nickte sich selbst die Antwort, da Eustachy schwieg, und
präsentierte seine mutigste Notiz: postdiskursiver Chagall. Eustachy bekam
einen Wutausbruch. Ihr Rotztrottel im Dummharnisch der Windelhose! Bloß weil
man herkommt, wo man herkommt? Als müsste man gefickt haben, um zu
begreifen, was Liebe ist!
Als er seine späteren Bilder zeigte, Hiob und Satan, Noah in
der Arche mit einer Ziege nach der Sintflut, in tiefem Blau gehalten,
schrieb der Kritiker einen Artikel, der um den heißen Brei herumschlich,
dass es eine Art hatte. Ein paar Tage nach der Ausstellungseröffnung saßen
sie in der "Krone", nicht am selben Tisch, versteht sich, doch zwangsläufig
in Rufweite. Prost, Schlotterarsch! ließ Eustachy sich vernehmen und hob
sein Gläschen Premium in Richtung der Journalistenrunde. Auf den
pflaumenweichen Dünnpfiff, den du dir da vom Hintern gewischt hast!
Höchste Vorsicht also.
Valadon! rief Jarek von einem kühn eröffneten Nebenschauplatz aus.
Vallotton! übertönte ihn Eustachy, und sie kippten den Wodka, bissen
unisono in die Gurken.
D as Kratzen der
Innentür ließ mich aufsehen. Ein Mann kam herein, auf eine Krücke gestützt,
steuerte unseren Tisch an. Eine Hose, die Schauerliches erlebt haben musste,
ein schmutzstarrendes Hemd, eine speckige Baseballmütze. Er reckte mir eine
flachovale, etikettlose Konserve unter die Nase. Raunzte:
Hering in Tomatensoße. Nur 50 Groschen. Haltbar bis nächsten Winter.
Er drehte die Konserve um, zeigte das gestanzte Datum.
Ich runzelte die Stirn.
Oder das hier?
Er hob sein Hemd hoch, zeigte mir ein Gerät zum Abknipsen von Finger-
oder Fußnägeln, das mit einem Kettchen an einer Gürtelschlaufe befestigt
war.
Komm, er beugte sich vertraulich herab, 50 Groschen fehlen zu ner Pulle.
Sei ein Mensch.
Ich gab ihm einen Złoty. Nun wusste er nicht recht. Is schon gut, sagte
ich, nimm den Fisch wieder mit und lass dirs schmecken.
Im Überschwang der Dankbarkeit rückte er uns umso näher auf die Pelle,
wollte Hände schütteln, Namen wissen. Wir sind incognito hier, sagte Jarek,
an dessen Stuhllehne er ruckte, weil es mit dem Gleichgewicht nicht zum
Besten stand.
Versündige dich nicht, mahnte der Unglücksrabe.
Wie kämen wir dazu, beruhigte ihn Eustachy. Nun nimm auch diesen
Zehrpfennig noch, er kramte ebenfalls eine Münze aus der Hosentasche,
drückte sie dem Schwankenden in die Hand, und geh mit Gottes Segen deiner
Wege.
Vom ungewohnten Klang solch archaischer Rede überrumpelt, vielleicht, wer
weiß, auch eingeschüchtert, ließ er die Stuhllehne los, deutete eine letzte
Verbeugung an und humpelte zur Tür.
Vallotton, griff Eustachy unverzüglich den Faden auf, schau dir seine
Frauen an, bis dir die Tränen kommen. Und schau sie dir an, bis dir die
Tränen wieder trocknen … Janinchen, noch einmal für alle! Eustachy winkte
zur Theke. Auf die Nabisten! rief Jarek und nahm es mit den Fronten offenbar
nicht mehr so genau. Prompt erhielt er einen Rüffel. So ists recht, die
Herren Scharlatane! Krakeelen von Propheten, wie der Wind grad weht.
Vallotton war Protestant, vergiss das nicht, mein Freund und Kupferstecher!
Ich knautschte die Tüte. Wie das um alles in der Welt jetzt an den Mann
bringen? Unterschieben? Einflechten? Auftrumpfen?
Und Hélène Chatenay hatte er auch einiges zu verdanken, wandte Janina
zaghaft strahlend ein, als sie die Gläschen vom Tablett hob und vor uns
niedersetzte.
Hörst dus wohl? bedeutete Eustachy und wiegte den Kopf. Zwirbelte eine
Strähne Weißhaar. Um unversehens auf mich einzufahren: Sag du was, Bajkarz!
Sitzt da wie an Karfreitag vor der Beichte. Deine Gesundheit! In Worten und
Taten!
Wir tranken, und mit der Schärfe des Gebrannten in der Kehle, krächzte
ich aufs Geratewohl: Sefiroth!
Eustachy blitzte schmalen Blick.
Wo haben wir das denn aufgeschnappt?
Gefunden, gab ich kleinlaut zu und schob die Tüte über den Tisch. Er nahm
den erstbesten Bierdeckel, betrachtete das wunderliche Atommodell.
Ja, da schau an, Kabbala ...
Kabbala?
Hast du die Ohren grad im Pfandhaus? herrschte er mich an und wandte
sich, ungleich milder, abermals zur Theke: Janinchen, Herzkaninchen, die
Gläser sind schon wieder eitle Form. Kannst du ein wenig Inhalt ... per
favor?
Zeig mal, beugte sich Jarek herüber, griff die Tüte, schüttelte die
Bierdeckel auf den Tisch.
Is ja irre … Heh, ich wird verrückt, das is das Dingens hier!
Er hielt das Papprund hoch, warf prüfende Blicke auf den Kasten an der
Wand. Dann sah er Eustachy an: Sag mal, hast du nicht auch mal so was
gemalt?
Was gemalt?
So was mit Kabbala oder so …
Mein lieber Freund und Zwetschgenröster, Eustachy trank den Wodka vom
Tablett weg, ehe Janinchen ihn auf den Tisch stellen konnte. Sein Kehlkopf
hüpfte. Das leere Gläschen verschwand in der Faust. Erstens male ich nicht
so was mit, zweitens nicht oder so. Und drittens lässt sich
Kabbala nicht malen.
Sorry, war nicht so gemeint, entschuldigte sich Jarek kleinlaut, der den
Fauxpas im selben Augenblick schon eingesehen hatte. Und: Frieden, legte er
nach, und Janinchen eilte erneut hinter die Theke, Versöhnung einzuschenken,
ehe es zu spät war.
U nd siehe, es kam
ein Wind von Mitternacht, der blähte die Kronenmaschine, dass sie mit
Donnerkrachen von der Wand sprang, zu Rädern schlangen gleißend sich die
Schnuten, an jeder Ecke zwei, und zwei in ihrer Mitte. Die Tür flog auf,
torweit, Tische und Stühle wirbelten, als sauge sie ein Schlund, hoch über
die Dächer in tosende Himmel davon.
Eustachy hieß uns einsteigen.
Wer aber blöde und verzagt ist, der kehre um!
Und tausendäugig Funken schlagend, brausten wir fort in die Nacht.
Einen Klumpen Eisen haut mir aufs Grab, wenns so weit ist! rief Eustachy
in die wilde Fahrt.
Eisen? fragte Jarek, der Janinchen an sich presste und seine andere Hand
in meinen Rücken krallte.
Eisenhimmelarsch! bestätigte Eustachy, und sein Weißhaar loderte.
Warum denn Eisen? wimmerte Janinchen.
Damits verrostet, Scheißenocheins! Warum denn sonst?
Wir schlugen an Häusermauern an, rumpelten gegen Prellsteine, Hydranten,
knirschten, schrammten mit schrillem Kreischen, Schrillemeischen,
schrillemei schrilleischrillei …
Wir sinds! rief Stach in die Sprechanlage. Mir wurde schwarz vor Augen,
mein Magen krampfte, am Türstock ging ich in die Knie.
Oj, Panie, Panie! Auf ner Hochzeit gewesen, mitten in der Woche?
Schlimmer Leichtsinn, aber wissense, was da hilft? N Gläschen Gurkenbrühe
ex, n kaltes Bier, Viertelstündchen warten. Wenns drin bleibt, Rührei mit
Blutwurst hinterher, scharf gebraten, orndlich Pfeffer dran.
Ich dankte für den Therapiehinweis, und sie waren taktvoll genug, mir
noch ein Weilchen im Bad zu gönnen, ehe sie zu Werke schritten.
Mit einer Tasse Tee und einer Scheibe Weißbrot kehrte ich ins Bett
zurück, dämmerte zwischen Herzrasen und Schlagbohrer dahin, bis es Zeit
wurde für mein Kabuff.
D er Schweiß floss
mir in Strömen. Drehschwindel plagte mich. Erstickungsangst. Ich wählte aus
meinem Sortiment den Zettel "Technischer Defekt", pappte ihn an die Tür und
ging an die frische Luft.
Anstelle von Gurkenbrühe und Bier versuchte ich es mit Zitronenlimonade,
überstand auf einer Parkbank die Krise, kehrte in die Bibliothek zurück.
Doch war an längeres Stehen immer noch nicht zu denken. Ich rettete mich in
den kühleren Lesesaal.
Kabbala, hatte Eustachy gesagt.
Ich nahm mir das Jüdische Lexikon. Blätterte unter "S".
Sefira, im Plural Sefiroth – die zehn mystischen Qualitäten Gottes,
göttliche Potenzen, Emanationen, auch "mystische Kronen" oder "Gesichter des
heiligen Königs" genannt … Die Schrift verschwamm, die Schläfen pochten.
Taub lag mir die pelzige Zunge im Mund. Ich schloss die Augen, wischte die
Bilder der Nacht von der Stirn. Tastete mich in die Zeilen zurück.
Las vom Ursprung der theosophischen Lehre der Sefiroth. Vom Buch Sohar,
dem "Buch des Glanzes", geschrieben Ende des 13. Jahrhunderts in Kastilien.
Las von Moses de Leon, der möglicherweise sein Verfasser war.
Isaak ben Samuel aus Akko berichtet von einem längeren Gespräch mit ihm.
Wie glaubhaft aber ist dieser Bericht? Vor allem: Was hat Moses de Leon ihm
damals in Valladolid wirklich erzählt? War die Geschichte von dem "uralten
Buch" des Rabbi Simon ben Jochai, das er angeblich besitze, Erfindung?
Wollte Moses de Leon mit einer Legende seine Autorschaft verschleiern, damit
ihm niemand vorwerfen könne, er habe sich alle Weisheit des Buches nur
ausgedacht?
Von Verweisen kreuz und quer durchs Alphabet gescheucht, vergaß ich Zeit
und Herzklabastern. Was für eine Welt tat sich hier auf, mir bislang kaum
das dürftigste Hörensagen! Kether Eloj, die höchste Krone der Gottheit …
Rachamim, Barmherzigkeit, die sechste… Hod, Majestät, die achte … Malchuth,
mystisches Urbild der Gemeinde Israels, die zehnte … Meine Gedanken
überschlugen sich. "Gott (K)" – Kether Eloj! Und was konnte Idee (K) anderes
sein als der Übergang zwischen Kether und En-Sof, dem Unendlichen des reinen
Geistes jenseits der Sefiroth, jene rätselvolle Schwelle, an der der frei
von aller Bedingung ruhende Bezirk Gottes die erste Bewegung vollzieht, die
ihr Echo fortsetzt bis hinab in die Materie unserer Gefilde?!
Nun hieß es, Detail für Detail zu entschlüsseln! Ich stellte die Bände
ins Regal zurück, eilte ins Erdgeschoss, rief vom Münztelefon aus Janina an.
Niemand hob ab. Um diese Zeit war sie wahrscheinlich im Atelier.
Ich machte mich sofort auf den Weg.
J aninas Atelier,
früher ein Kebab-Imbiss, befindet sich zu ebener Erde im Arkadengang neben
der Erlöserkirche. In den Scheiben, hinter denen sich früher der Bratspieß
gedreht hatte, kleben jetzt Illustriertenfotos, die Janina bei der Arbeit
vor neugierigen Blicken schützen.
Es brannte kein Licht, die Tür war verschlossen. Jeanne Moreau und
Agnieszka Osiecka sahen mich an.
Ich klopfte, ratlos eher, denn auf Antwort hoffend. Zu meinem Erstaunen
hörte ich Rumoren im Innern, ein Schlüssel wurde gedreht, und eine völlig
verschlafene Janina spähte durch den Türspalt.
Du bists ... Komm rein ... hier is noch totales Chaos …
Während ich behutsame Schritte machte zwischen Bildern, Malutensilien,
Büchern, Kleidungsstücken und Gurkengläsern mit schwefligem Pinselwasser,
tauchte über dem Harmonium (Geschenk eines stadtbekannten Mäzens, der seit
Jahren rührend um Janinas seelisches Gleichgewicht besorgt ist) Jareks
verknitterter Kopf auf, um mit einem Seufzen wieder zu verschwinden. Janina
bot mir die Reisekiste an, selbst nahm sie auf dem Hocker vor der Staffelei
Platz. Ein furchterregendes Gähnen ertönte. Jarek erschien ein zweites Mal,
auf allen Vieren, in eine Decke verwickelt, aus der er sich unbeholfen zu
befreien versuchte.
Ich hab was gefunden, verkündete ich nicht ohne Stolz. Eustachy hatte
recht. Kabbala.
Eustachy wollte uns umbringen, ächzte Jarek, krabbelte näher und sank
Janina zu Füßen.
Habt ihr die Bierdeckel mitgenommen?
Hast du die nicht mitgenommen?
Ich dachte, ihr?
Janina schüttelte den Kopf.
Jareks Rucksack ist auch weg. Den müssen wir irgendwo vergessen haben.
Ich traute meinen Ohren nicht.
Im "Irrtum", tönte Jarek dumpf an Janinas Bein, oder im "Fleischcafé",
weiß der Henker …
Im Fleischcafé?
Du hattest wohl auch nen Filmriss, sagte Janina mitfühlend. Weißt du
nicht mehr, wo wir noch überall waren?
Ich dachte, Eustachy hätte uns gleich aus der Krone nach Hause … ich
meine, wir wären da alle gleich …
Schön wärs gewesen, seufzte Jarek.
Die Rekonstruktion, an der wir uns versuchten, maßgeblich geleistet von
Janina, die wie üblich die verlässlichsten Reste von Umsicht bewahrt hatte,
war nichts anderes als erschreckend.
Verbarg sich unter der Pracht der Gärten, von deren Blühen die trockenen
Lexikonblätter mir, dem gänzlich Unwissenden, einen winzigen Funken nur
vermitteln konnten, der Morast solcher Nacht? Oder lag in Wahrheit dem
Morast die Ordnung der Gärten zugrunde? Was aber war Ordnung, Wahrheit,
Garten, Nacht?
Gedanken, die mir durch den Kopf kollerten und schmerzhaft zu verstehen
gaben, wo sie an seine Grenzen stießen.
Ich such den Rucksack, raffte ich mich auf, weil von den beiden im
Augenblick kaum Unterstützung zu erwarten war.
Danke, sagte Janina. Und sei nicht böse, bitte. War alles ein bisschen
viel letztens.
Lass mal, ist schon in Ordnung, beruhigte ich sie.
Maladjetz, ächzte Jarek und kroch zurück aufs Lager.
Z erschlagen kam
ich nach Hause. In keinem der Lokale auch nur die Spur eines Rucksacks, in
dem, vage Hoffnung, vielleicht die Bierdeckel gewesen wären. Nicht im
"Irrtum" und nicht im "Fleischcafé". Im "Vorwand" nicht und nicht in der
"Hypokrisie". (So weit Janinas Rekonstruktion.) Auf gut Glück klapperte ich
außerdem "Cherub" und "Chimäre" ab. Das "Chamäleon" hatte noch geschlossen,
aber dort verkehrten wir ohnehin nur im Notfall. Ob derselbe eingetreten war
am gestrigen Abend? Einiges sprach dafür. Andererseits – was Janina und
Jarek betraf, schien eher sein Gegenteil geschehen. Und angesichts dessen
war der Verlust von zwei Dutzend bekritzelten Pappscheiben womöglich kaum
der Mühe des Chronisten wert. Zu schweigen ganz von meinem Wandern kreuz und
quer durch die Stadt.
Auf der Treppe traf ich wieder Stach mit einem Eimer.
Gehnse da am besten gar nich erst rein. Den Meister hat schon drei Mal
fast der Schlag getroffen.
Im Bad fand ich die gestrigen Löcher strahlend weiß verspachtelt, dafür
zwei weitere Öffnungen in der Wand. In der einen glänzte, unweit des
Waschbeckens, die nächste Wasseruhr. Durch die zweite sah ich den Meister in
der Küche knien.
Das ging hier plötzlich rein wie in Butter, und ich sach noch, Stachu,
lass mal mit dem Böller, das is Mörtel aus Piłsudskis Zeiten, der reinste
Mürbekuchen, das machen wir ma schön von Hand und sachte, sachte. Und kaum
sach ichs, hols der Butz – kucken wir schon in die Küche. Und die olle
Steigleitung hamwer immer noch nich. Die dösige Wurst muss da irgendwo nochn
Knick machen. Der Künstler, der das hier aufm Gewissen hat – wennse die
Deutlichkeit verzeihn – n gesalzner Arschtritt wär das Mindeste.
Vor solchen Staubwüsten musste ich kapitulieren.
Ich duschte, immerhin mit der Gewissheit, dieses Wasser jetzt auf eigene
Rechnung zu verbrauchen, schüttelte das Bettzeug aus und fiel in steinernen
Schlaf.
Im Traum sah ich Eustachy in der Chambre séparée, doppelt gerahmt, mit
der Mütze aus Licht, und er winkte, ich möge kommen. Auf dem Tisch lagen die
Bierdeckel ausgebreitet. Eustachy schob sie hin und her, sprach tonlose
Worte, deutete, nahm Maß mit Spanne und Daumensprung. Nicht hier, wollte ich
sagen, als er mir den Korkenzieher reichte, nicht hier, bei mir zu Hause,
doch er nickte nur, wies mir eine Stelle an der Wand. Und kaum hatte ich sie
berührt, lag schimmerndes Kupfer blank, und als flösse ein Strom, fuhr es
mir heiß in die Glieder, stieg eine Flut, die die Sinne benahm.
A m nächsten Morgen
erwachte ich ausgeruht wie schon lange nicht mehr.
Stach und der Meister waren gerührt, als sie die Rosinenbrötchen sahen.
Aber nicht doch, wehrten sie verlegen ab. Aber gewiss doch, ermunterte ich
sie zuzugreifen und dachte an Jarek und Janina, die nun hoffentlich auch
wieder gemeinsam beim Frühstück saßen.
Was wäre denn, wenn wir es ganz einfach gut sein ließen, fragte ich in
einem Anflug von Übermut, dass ich mich selbst wunderte über meine Chuzpe.
No, das müssen Sie wissen, meinte der Meister und stippte sein Brötchen
in den Kaffee.
Eigentlich … wenn mans genau überlegt, bemerkte Stach, kommt doch
wahrscheinlich nichmal n Kubik im Monat bei raus. Und das bleibt eh hinterm
Komma, so gesehn.
So gesehn, schon, nickte der Meister, nur gehts halt so rund nich immer
auf.
Nachdem wir der Form halber noch diese und jene Eventualität erwogen
hatten, kamen wir überein, dass selbst auf lange Sicht der kleine Betrug der
geringere Schaden wäre. Und die beiden, sichtlich erleichtert, die
fruchtlosen Abbrucharbeiten beenden zu dürfen, machten sich nach dem
Frühstück gleich daran, das Loch zu verblenden.
Mit bewundernswertem Geschick tilgten sie die Spuren der Destruktion, ich
entlohnte sie, gab einen Aufschlag für die zusätzlich entstandenen Mühen,
sie dankten von Herzen, empfahlen sich für zukünftige Projekte, und wir
schieden im besten Einvernehmen.
A bends in der
"Krone" durfte ich mich erleichtert davon überzeugen, dass die Versöhnung
hinter dem Harmonium keine Laune des Augenblicks gewesen war. Janina und
Jarek planten nämlich, den Rest des Sommers in Czarnoziem bei Krasnystaw zu
verbringen, im Haus von Jareks Großeltern.
Von dem verlorenen Rucksack war nicht mehr die Rede, und meine Erwähnung
der Bierdeckel überhörten sie. Stattdessen fragte Janina, ob ich sie nicht
in dieser Zeit vertreten könne? Adaś, den Kronenpächter, der ihr gegenüber
immer sehr großzügig gewesen war, einfach hängen zu lassen – das brächte sie
nicht fertig.
Bis sie so weit waren, sich verabschieden zu können, vergingen noch ein
paar Tage. Dann standen wir unwiderruflich auf der Kramarska.
Wir umarmten und beklopften uns, drückten ein letztes Mal die Hände, und
ich sah ihnen nach, wie sie in der Sommerdämmerung davongingen, die
Wroniecka überquerten, um Arm in Arm in der Żydowska zu verschwinden.
A ls ich mich gegen
Ende der Woche noch einmal in den Lesesaal begab, die jüngst ausfindig
gemachten Spuren weiter zu verfolgen, fand ich den Regalplatz leer. Das
Jüdische Lexikon war in der Buchbinderei. Auf meine Frage, wann es
voraussichtlich zurückkehre, zuckte die Aufsicht mit den Schultern.
Mehrfach nahm ich mir vor, andere Bibliotheken aufzusuchen, doch war ich
derart erschöpft vom zusätzlichen Kronendienst, dass ich nach geleisteter
Kopierarbeit ein mageres Stündchen Schlaf jeder weiteren Anstrengung vorzog.
Das mag, wer will, kleinmütig nennen – mea culpa, ich gebe es zu.
Eine besonders anstrengende Nacht bescherte mir übrigens Eustachy, der
eines Abends mit einem Dutzend Freunde auftauchte und Sliwowitz auftischen
ließ.
Aber nicht das Konvertitenweihwasser, wenn ich bitten darf! Den
70-Prozentigen! Damit euch wenigstens vom Schnaps die Tränen kommen, ihr
Heuchler!
Auch hier ging es, wie ich bald erfuhr, um einen Abschied. Ein Sammler
hatte vom Fleck weg eine halbe Ausstellung gekauft, und nun wollte Eustachy
sich einen alten Traum erfüllen: noch einmal Toledo sehen, den Himmel El
Grecos. Kastilien.
Unter großem Hallo wurde die erste Runde verzehrt, ich schmierte
Schmalzbrote, brachte saure Gurken.
Eins noch! bremste Eustachy mit wie zum Segen erhobenen Armen den
aufsiedenden Festestaumel. Solange wir noch wissen, wie wir heißen … Falls
ich da unten verrecken sollte, macht bloß kein Gedöns von wegen Überführung.
Der erstbeste Dorffriedhof, nen Klumpen Eisen drauf, und fertig ist der
Lack.
Eisen? fragte jemand aus der Runde.
Eisen, bestätigte Eustachy.
Warum denn Eisen?
Damits verrostet, Scheißenocheins, warum denn sonst, sprach ich in
Gedanken seine Worte mit und entkorkte die nächste Flasche.
In einer Pause des Hantierens fiel mein Blick auf das Sammelsurium an den
Wänden. Die alten Postkarten, die alten Fotografien. Das Bockgehörn, die
Kuckucksuhr. Vergilbte Plakate und Plattenhüllen. Verbeulte Reklameschilder.
Welcher Schelm war es gewesen, der hier gesessen, getrunken, gesonnen hatte
– um eines Abends den Schnabelkasten zu zeichnen als Zaubermöbel? Zu welchem
Zweck? Mit welchem Ziel? Im Rausch der vertriebenen Zeit – war das des
Rätsels Lösung?
Aber das Lexikon wusste die Begriffe! War der Schelm am Ende der Nacht
also doch auf höhere Bahnen geraten? Oder hatte er die Segel nur gesetzt, um
mit Jucheirassa sein Schifflein in den Grund der Narretei zu steuern? Damit,
wer nach ihm käme, die Wrackteile hervorzöge und sich den Kopf zerbräche, wo
der Rausch sei, wo das Höhere?
Eustachy rief nach der nächsten Runde, verlangte weitere Zukost.
Während ich das Tablett richtete, dachte ich, die wirren Gedanken zu
beruhigen, an Janina und Jarek, die vielleicht gerade am Katenfenster saßen
und Sterne zählten. Um morgen und an jedem weiteren Tag, den der unendliche
Himmel des Ostens über Felder und Wiesen breitet, mit Vorkriegsfahrrädern an
das Flüsschen Uherka zu fahren. Dort lägen sie unter Trauerweiden, sähen dem
trägen Kreiseln zu, ein Zuckelzossen zöge die Fuhre der Stunden durchs
wehende Gras, und während sie einschlummerten, schläfrig von der Hitze und
dem Schrillen der Heupferdchen, flöße das Kreiseln fort in den Wieprz, in
die Weichsel, in die Ostsee, und ich würde unterdessen das Kopierlicht
blitzen lassen und das Wasserwerk beschummeln mit einem zählerlosen
Spülklosett.
W enige Tage nach diesem Abend
tauchte ein junger Mann auf, der Jareks Rucksack auf die Theke stellte.
Er arbeite in der Kneipe "Hinter den Kulissen", erklärte er, und den
Rucksack habe er morgens beim Aufräumen unter einer der Bänke entdeckt. Habe
sich erlaubt ihn zu öffnen, zwar keine Adresse gefunden, dafür einige
Porträtskizzen, in denen er die Frau wiedererkannt habe, die seit einiger
Zeit hier in der "Krone" arbeite. Entschuldigen wolle er sich vor allem,
dass er nicht früher gekommen sei, aber wie das halt manchmal so gehe – für
die nächsten Wege brauche man am längsten.
Ich bedankte mich in Jareks Namen, fragte, ob er denn auch Maler sei.
Student an der Kunstakademie, sagte er, und ein wenig verlegen fügte er
hinzu: gerade angefangen, das erste Jahr vorbei. Ich sagte ihm, er solle
doch in zwei Monaten einmal wiederkommen, dann könne er sie kennen lernen,
die Paten des Rucksacks sozusagen. Das wolle er gerne machen, erwiderte er.
Ich bot ihm noch etwas zu trinken an, doch er musste zu seiner Theke.
Dann einen schönen Abend. Und irgendwann auch Feierabend.
Allerdings, nickte er. Vielleicht mal ausnahmsweise, ehe es hell wird ...
Da hielt ich sie also wieder in der Hand, die Worte und Zeichen, und ich
hätte mir das scharfe Auge des Studenten wünschen wollen, um ihr Geheimnis
zu entschlüsseln. Dass er auf Jareks Porträtskizzen Janina erkannt hat – Hut
ab, kann ich nur sagen. (Witkacy sieht daneben wie Fotorealismus aus.)
Ich ging ich in die Chambre séparée, verstaute die Tüte im Vertiko.
Vielleicht, dass sich noch einmal eine Gelegenheit böte, Eustachy zu fragen,
nach seiner Rückkehr irgendwann. Bis dahin sollte das Päckchen liegen, wo es
zuvor gelegen hatte. Das war wohl der sicherste Platz.
Nun
fehlte noch der Musikus. Auf ihn musste ich etwas länger warten.
Er kam an einem Samstagabend, als die Tage schon merklich kürzer waren.
Ich sagte ihm, dass Janina nicht da sei.
Wann kommt sie denn wieder? fragte er.
Ende September, Anfang Oktober.
Aha, dann ist sie also richtig weggefahren? Ins Ausland?
So könnte man sagen.
Ist sie irgendwie erreichbar, mailmäßig oder so?
Das wohl nicht.
Und Telefon?
Er spreizte Daumen und kleinen Finger der Rechten, wackelte mit der
gehörnten Faust in Höhe des Ohres. Offenbar hielt er mich für
begriffsstutzig und wollte mir das Verständnis erleichtern.
Ich schüttelte den Kopf.
Er schürzte die Lippen. Kann man nix machen. Grüß sie mal, wenn sie
wiederkommt. Vom Barden. Sie weiß dann schon Bescheid.
Da er durchaus ernst blieb, verzog auch ich keine Miene.
D urch die Scheibe sah ich ihn
die Straße überqueren und in der Tür des Lebensmittelladens verschwinden.
Mit einer Dose "Tatra" in der Hand kam er wieder heraus. Er knackte sie,
trank lange, die Augen geschlossen. Setzte ab. Schob die Dose in die
Brusttasche seiner Jacke. Ein Aufstoßen blähte die Backen. Er schritt aus
meinem Blickfeld.
Ich zapfte mir ein Kleines, setzte mich auf meinen Lieblingsplatz. Pulte
den ertrunkenen Kerzendocht frei. Das Flämmchen knisterte, spritzte winzige
Funken. Wuchs in die Höhe, bauchte die blaue Mitte. Spann einen brüchigen
Faden.
Ich hörte das Seufzen der Tür, Stimmen und Gelächter. Der Abend begann.
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