Gerade
gastierte hier vier Wochen lang die Zauberflöte in der Bearbeitung von Peter
Brook aus den Pariser Bouffes du Nord. Nun also La
Variante di Lüneburg. Eine fabula in musica, eine musikalische
Fabel. Musik von Valter Sivilotti, der am Abend vom Pianoforte aus
die musikalische Leitung übernimmt, Text von Paolo Maurensig, nach seinem
internationalen Bestseller "Die Lüneburg-Variante" aus dem Jahr 1993. Ein
Mann liegt tot im Park seiner Villa. Selbstmord oder Mord? Schachzug um
Schachzug entfaltet sich eine Geschichte, die in das dunkelste Kapitel der
deutschen Geschichte zielt.
Doch der Abend steht unter
einem anderen Vorzeichen. Milva torna al Piccolo. Maria Ilva
Biolcati, 71, vermeldet im letzten Jahr ihren Rückzug von der Live-Bühne und
lässt ihre Fangemeinde zumindest in der Hoffnung zurück, der eben
erschienenen Studioaufnahme "Non conosco nessun Patrizio" mit zehn Liedern
von Franco Battiato mögen noch viele folgen. Ein halbes Jahr später nun vier
Abende am Piccolo –
live.
Der
Ort lässt sie nicht los. Vor 40 Jahren formt Giorgio Strehler hier die
Brecht-Interpretin Milva, die später von Lotte Lenya gepriesen wird. Die
Haare färben sich rot. La rossa ist geboren. Videomaterial mit dem
Theater-Genie zeigt eine Probenarbeit, die intensiver nicht sein kann. Eine
zweite Geburt. Bühnenpräsenz und intellektuelles Durchdringen der Stoffe
vereinen sich mit der Naturgewalt einer einzigartigen Stimme. Danach klingt
auch das, was in Deutschland Schlager heißt, anders, sieht anders aus,
bewegt sich anders. Und gleichzeitig verschieben sich die Grenzen. Von
Theodorakis ("Zusammenleben") bis zu den Tangos von Piazzolla, von Battiato
bis Berio, dessen Oper "La vera storia" (1981) sie letztmals im Jahr 2002
als
Cantastorie an die Hamburger Oper führt. Eine Bandbreite undenkbar ohne
den Maestro, den Lehrmeister Strehler.
Am Abend erscheint sie:
Die Haare immer noch rot, doch streng zurückgekämmt, zum Pferdeschwanz
gebunden. Hosenanzug, weiße Bluse, flache weiße Schuhe. Wer sie im letzten
Jahr in der Brecht-Gala am Theater Augsburg gesehen hat oder 2009 in
Reichenau als Claire Zachanassian im "Besuch der alten Dame" von Friedrich
Dürrenmatt, erlebt sie in Mailand kleiner und zerbrechlicher. Doch als sich
die Stimme erhebt wünscht man sich noch viele Rückzüge vom Rückzug von der
Bühne. Sie forciert nicht, was nicht mehr da ist, die Technik versucht keine
Kompensation und Tiefe und auch stellenweise Brüchigkeit verleihen ihrer
Stimme einen reifen Ausdruck, gegen den man keine Jugend eintauschen möchte.
Einer
Adaption seines Werkes für das Theater hat sich Maurensig lange verwehrt.
Die Idee einer
fabula in musica überzeugt ihn dann so sehr, dass er selbst die Arbeit
am Text inklusive der zehn Lieder übernimmt. Tatsächlich transportieren und
verstärken die Abfolge und das stellenweise Ineinandergreifen von Rezitation
(Walter Mramor), Gesang (Milva, Franca Drioli
–
Sopran, Ensemble Magnificat di Caravaggio, Bergamo) und Musik (Alex
Sebastianutto am Saxophon) die Dramatik des Stoffes. Licht und Ton werden
dezent eingesetzt, eine kurze Videosequenz unterstützt das Geschehen.
Musikalisch erleben wir,
was Italien in seiner Volksmusik, allen voran den napoletanischen Liedern,
seinen Opern bis hin zum Festival di San Remo bietet: Mut zur Melodie.
Zielgenau ins Ohr und Herz der Zuhörerinnen und Zuhörer. Bei der
nachgelagerten Lektüre des Programmheftes erstaunt es nicht, dass Sivilotti
angibt, musikalische Einfälle, nuclei melodici, seien der
Ausgangspunkt für die Arbeit am Gesamtwerk gewesen. Melodie transportiert
Theater für alle. Es ist zu hoffen, dass die aufklärerische Wirkung auf das
vornehmlich junge Publikum nicht ausbleibt. Was geht in ihnen vor, wenn von
der Bühne ohrenbetäubend "Arbeit macht frei" skandiert wird? Der Abend
jedenfalls steht im Dienste eines humanen und demokratischen Italiens, wie
es die Inschrift am Gründungsort des Piccolo Teatro als Vermächtnis aufgibt.
Und
für diejenigen, die in Mailand nicht dabei sein konnten: Die "Variante di
Lüneburg" ist unter Mitwirkung des Orchesters I Virtuosi Italiani und des
Ensembles Vocale Continuum in Auszügen auf CD erschienen (bei artesuono
Milano).