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Milva torna al Piccolo
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Mailand, Piccolo Teatro, März 2011. Italien feiert 150 Jahre Einheit. Kulturelle Einheit,
das ist das Programm des Piccolo. Das Programm seines Mitgründers, des verstorbenen
Theatermagiers Italiens, Giorgio Strehler. Un teatro d'arte per tutti, Theater für alle, aufklärerisch,
emanzipatorisch, kritisch. Der Gegenentwurf zu der zeitgenössischen Form von Brot
und Spielen, die Berlusconis Privatfernsehen bereit hält.

Von Lars Castellucci
(27. 05. 2011)

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Lars Castellucci
mail [at] lars-castellucci.de

Dr. phil., geboren
1974 in
Heidelberg, Politikwissen-schaftler, Sozialdemokrat,
Italienliebhaber.

Homepage
 www.lars-castellucci.de

 




(c) Piccolo Teatro

Milva
(Gesang)

 

 

Musikalisch erleben wir,
was Italien in seiner Volks-
musik, allen voran den
napoletanischen Liedern,
seinen Opern bis hin zum
Festival di San Remo
bietet: Mut zur Melodie.
Zielgenau ins Ohr und
Herz der Zuhörerinnen
und Zuhörer.

 


 


(c) Piccolo Teatro

Walter Mramor
(Rezitation)
 

 

Linktipp
www.piccoloteatro.org

   Gerade gastierte hier vier Wochen lang die Zauberflöte in der Bearbeitung von Peter Brook aus den Pariser Bouffes du Nord. Nun also La Variante di Lüneburg. Eine fabula in musica, eine musikalische Fabel. Musik von Valter Sivilotti, der am Abend vom Pianoforte aus die musikalische Leitung übernimmt, Text von Paolo Maurensig, nach seinem internationalen Bestseller "Die Lüneburg-Variante" aus dem Jahr 1993. Ein Mann liegt tot im Park seiner Villa. Selbstmord oder Mord? Schachzug um Schachzug entfaltet sich eine Geschichte, die in das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte zielt.

Doch der Abend steht unter einem anderen Vorzeichen. Milva torna al Piccolo. Maria Ilva Biolcati, 71, vermeldet im letzten Jahr ihren Rückzug von der Live-Bühne und lässt ihre Fangemeinde zumindest in der Hoffnung zurück, der eben erschienenen Studioaufnahme "Non conosco nessun Patrizio" mit zehn Liedern von Franco Battiato mögen noch viele folgen. Ein halbes Jahr später nun vier Abende am Piccolo live.

   Der Ort lässt sie nicht los. Vor 40 Jahren formt Giorgio Strehler hier die Brecht-Interpretin Milva, die später von Lotte Lenya gepriesen wird. Die Haare färben sich rot. La rossa ist geboren. Videomaterial mit dem Theater-Genie zeigt eine Probenarbeit, die intensiver nicht sein kann. Eine zweite Geburt. Bühnenpräsenz und intellektuelles Durchdringen der Stoffe vereinen sich mit der Naturgewalt einer einzigartigen Stimme. Danach klingt auch das, was in Deutschland Schlager heißt, anders, sieht anders aus, bewegt sich anders. Und gleichzeitig verschieben sich die Grenzen. Von Theodorakis ("Zusammenleben") bis zu den Tangos von Piazzolla, von Battiato bis Berio, dessen Oper "La vera storia" (1981) sie letztmals im Jahr 2002 als Cantastorie an die Hamburger Oper führt. Eine Bandbreite undenkbar ohne den Maestro, den Lehrmeister Strehler.

Am Abend erscheint sie: Die Haare immer noch rot, doch streng zurückgekämmt, zum Pferdeschwanz gebunden. Hosenanzug, weiße Bluse, flache weiße Schuhe. Wer sie im letzten Jahr in der Brecht-Gala am Theater Augsburg gesehen hat oder 2009 in Reichenau als Claire Zachanassian im "Besuch der alten Dame" von Friedrich Dürrenmatt, erlebt sie in Mailand kleiner und zerbrechlicher. Doch als sich die Stimme erhebt wünscht man sich noch viele Rückzüge vom Rückzug von der Bühne. Sie forciert nicht, was nicht mehr da ist, die Technik versucht keine Kompensation und Tiefe und auch stellenweise Brüchigkeit verleihen ihrer Stimme einen reifen Ausdruck, gegen den man keine Jugend eintauschen möchte.

   Einer Adaption seines Werkes für das Theater hat sich Maurensig lange verwehrt. Die Idee einer fabula in musica überzeugt ihn dann so sehr, dass er selbst die Arbeit am Text inklusive der zehn Lieder übernimmt. Tatsächlich transportieren und verstärken die Abfolge und das stellenweise Ineinandergreifen von Rezitation (Walter Mramor), Gesang (Milva, Franca Drioli Sopran, Ensemble Magnificat di Caravaggio, Bergamo) und Musik (Alex Sebastianutto am Saxophon) die Dramatik des Stoffes. Licht und Ton werden dezent eingesetzt, eine kurze Videosequenz unterstützt das Geschehen.

Musikalisch erleben wir, was Italien in seiner Volksmusik, allen voran den napoletanischen Liedern, seinen Opern bis hin zum Festival di San Remo bietet: Mut zur Melodie. Zielgenau ins Ohr und Herz der Zuhörerinnen und Zuhörer. Bei der nachgelagerten Lektüre des Programmheftes erstaunt es nicht, dass Sivilotti angibt, musikalische Einfälle, nuclei melodici, seien der Ausgangspunkt für die Arbeit am Gesamtwerk gewesen. Melodie transportiert Theater für alle. Es ist zu hoffen, dass die aufklärerische Wirkung auf das vornehmlich junge Publikum nicht ausbleibt. Was geht in ihnen vor, wenn von der Bühne ohrenbetäubend "Arbeit macht frei" skandiert wird? Der Abend jedenfalls steht im Dienste eines humanen und demokratischen Italiens, wie es die Inschrift am Gründungsort des Piccolo Teatro als Vermächtnis aufgibt.

   Und für diejenigen, die in Mailand nicht dabei sein konnten: Die "Variante di Lüneburg" ist unter Mitwirkung des Orchesters I Virtuosi Italiani und des Ensembles Vocale Continuum in Auszügen auf CD erschienen (bei artesuono Milano).

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