
Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr.
Karl Müller
Karl.Mueller [at] sbg.ac.at
geboren 1950
in Puch bei Hallein; Studium der Ger-manistik und Anglistik, Lehrbefugnis für
Neuere deutsche Literatur; Gast-
dozenturen in Debrecen,
Lemberg und
Amsterdam.
Publikationen zur öster-
reichischen Literatur des 19.
und 20. Jahrhunderts,
zur
Geschichte der Literatur-
wissenschaft und zur
Literaturpolitik.
Mitglied
des Zentrums für
Jüdische Kulturgeschichte an
der Universität Salzburg,
Vor-
sitzender der Theodor-Kramer-
Gesellschaft, Vorsitzender des
Vorstandes
des Literaturhauses
Salzburg; Mitglied der Jura-
Soyfer-Gesellschaft (Wien)
und des Österreichischen
P.E.N.-Clubs, Jurytätigkeit,
Preis des Fonds der
Landes-
hauptstadt Salzburg zur
Förderung von Kunst, Wis-
senschaft und
Literatur (1998),
Leiter des Online-Projektes
"Österreichische
Schrift-
stellerInnen des Exils
seit 1933“. * Vortrag beim Symposion
"Die 'Wahrheit' der Erinnerung
– Jüdische Lebensgeschichten"
(Institut für Geschichte der
Juden in Österreich in
Zusam-
menarbeit mit dem Zentrum für
Jüdische Kulturgeschichte
der Universität
Salzburg, 16.
Internationale Sommeraka-
demie, Juli 2006).
Buchtipps

Jean Améry.
Örtlichkeiten.
Klett-Cotta, 1980, 143 S.
ISB:N 3129001719

Fred Wander.
Das gute Leben oder
Von der Fröhlichkeit
im Schrecken.
Wallstein, 2006, 399 S.
ISBN: 3892448558

Anna Maria Jokl.
Die Reise nach London.
Wiederbegegnungen.
Jüdischer Verlag, 1999, 125 S.
ISBN: 3633541578 |
1. Theoretische Grundlagen
"Zwischen
zwei extremen Behauptungen liegt die Wahrheit: Die eine Behauptung lautet: alles
Erzählen hat einen selbst-biographischen Kern, die andere: den Gesetzen
literarischer Fiktionalität unterliegt wie jede andere Erzählgattung auch die
Autobiographie", schreibt Walter Hinck in seinem Sammelband
"Selbstannäherungen"(1), in dem er an etwa vierzig Beispielen bekannter
SchriftstellerInnen einen Überblick über die Vielfalt selbsterkundenden
Schreibens der Gegenwart bietet.
"Den
ersten Satz widerlegt – mit der fiktionalen Ausgestaltung der Figuren,
ihrer Gefühle, Gedanken usw. – der historische Roman, in dem allenfalls
das Interesse des Autors an bestimmten geschichtlichen Personen und
Konstellationen eigenbiographische Wurzeln haben mag. Im anderen Satz
wird die Bedeutung des Bezugs auf die konkreten Lebensdaten des
erzählenden Ich unterschätzt. Doch spricht manches für den Begriff
'Autofiktion', der das
fiktionale Element jeder Autobiographie markieren soll."(2)
Es liegt auf der Hand und entspricht dem Gegenstand, dass wir
in Gattungsfragen nicht in Polaritäten denken dürfen, sondern uns auf einer
Skala bewegen müssen: "Zwischen dem Geschichtswerk und
dem Roman stehen Biographie und Autobiographie, erstere, die Biographie, ein
wenig näher an der Geschichte, letztere, die Autobiographie, ein Stückchen
weiter in Richtung Roman. Die Biographie ist verifizierbarer als die
Autobiographie"(3),
schreibt Ruth Klüger in ihren Überlegungen zum "Wahrheitsbegriff
in der Autobiographie".
S chlagartig erhellt sich das Prinzipielle und zugleich
Prekäre des autobiographischen Feldes, wenn wir etwa einerseits an Johann
Wolfgang von Goethes "Aus meinem Leben. Dichtung und
Wahrheit" und andererseits an den aktuellen Fall Binjamin Wilkomirski, das heißt
an Bruno Dössekkers
"Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1945" (1995)
(4)
denken. Goethes Reflexionen über seine Selbstbiographie bringen alle nur
erdenklichen Aspekte des Genres zur Sprache und verweisen auf die vielfältigen
Gestaltungsmöglichkeiten der Gattung. Wilkomirskis Buch wird – am anderen Ende
der Skala – sozusagen als Sündenfall des autobiographischen Schreibens fassbar,
als eine Aneignung der Prinzipien dieser Redeform für Zwecke, die nur bedingt
etwas mit der "'Wahrheit' der
Erinnerung" zu tun haben dürften, noch dazu vorexerziert auf dem Felde der
Holocaust-Erinnerungen: LeserInnen-Täuschung wegen der heimlichen Sistierung des
historischen Wahrheitsanspruchs.(5)
Bei Goethe können wir jene letztlich traditionsbildenden
Reflexionen über die erzählerischen Versuche studieren, sich selbst oder
zumindest Teile davon "in seinen Zeitverhältnissen"(6)
sowie im Zusammenhang eines Lebensganzen deutend Gestalt zu verleihen. Im
Vorspann zu
"Dichtung und Wahrheit" heißt es:
"Denn dieses scheint die
Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen
Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze
widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und
Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler,
Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hiezu wird
aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich
und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen
dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als
Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt, daß man
wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren,
dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft,
ein ganz anderer geworden sein."(7)
G oethe betont in seinen Überlegungen prinzipiell die
darstellerischen Freiheiten des Autographen, aber er tastet eine einzige
Voraussetzung nicht an – die Selbstverpflichtung des/der AutorIn und die
LeserInnen-Erwartung, die mit dieser korrespondiert, bzw. den
LeserInnen-Anspruch auf unbedingte "Wahrhaftigkeit der
Glaubwürdigkeit, Echtheit, Aufrichtigkeit oder Authentizität."(8)
Fundament der selbst-deutenden, der selbst-ausleuchtenden,
der selbst-bilanzierenden oder selbst-konstruierenden Lebensdarstellungen, also
der "Selbstbesinnung des Ich" und zugleich
"Vergewisserung seiner Geschichte", ist die Erinnerung
(die erinnernde Vergegenwärtigung), gefiltert durch die
"natürlichen Filter des Gedächtnisses wie Vergessen,
Verdrängung, Verflachung und Veränderung sowie (unbewusste) Ergänzung,
Substitution, Verschmelzung des Erinnerten."(9) Goethe sagt dazu im ersten Buch
seiner "Selbstbiographie":
"[…] aus dergleichen
Betrachtungen und Versuchen [den Menschen in seinen Zeitverhältnissen
darzustellen], aus solchen Erinnerungen und Überlegungen entsprang die
gegenwärtige Schilderung [Dichtung und Wahrheit], und aus diesem
Gesichtspunkt ihres Entstehens wird sie am besten genossen, genutzt und
am billigsten beurteilt werden können."(10)
Nur aus "euphonischen", d. h.
klanglichen Gründen hatte Goethe das Wort "Dichtung" in
einer sehr spezifischen Bedeutung an den Anfang des, wie er sagte,
"paradoxen" Untertitels seiner Erinnerungen gesetzt,(11) auf dass sich die
Zunge nicht am Zusammenprall der Laute zwischen "und"
und "Dichtung" abmühen müsse. Dies rief freilich
sofort erhebliche Missverständnisse hervor. Denn einige meinten nun, die
"Dichtung" sei bei Goethes neuem Werk
"die Hauptsache", während "die
Wahrheit nur adspergiert [sei], wie die Philologen reden, da doch umgekehrt
Wahrheit der Stoff und die Form nur Dichtung"(12) sei. Die
"erzählten einzelnen Fakta" von Goethes Selbstbiographie,
so notierte Johann Peter Eckermann (1792-1854) eine Goethe-Äußerung am 30.
3.1831,
"dienen bloß, um eine allgemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit zu
bestätigen ... Ich dachte, es steckten darin einige Symbole des Menschenlebens."(13)
Goethes Reflexionen über die Textsorte der Autobiographie thematisieren die
zentralen Bausteine des Genres. Nichts von Goethes einschlägigen Reflexionen ist
in der Zwischenzeit obsolet geworden. Kein moderner theoretischer Text zur
Gattung und zur Geschichte der "Autobiographie" oder zum
"autobiographischen Schreiben", zur
"Autofiktion", zur "Autognyography" oder zur
"Nouvelle Autobiographie" kann es sich leisten, im Kern
hinter Goethes Überlegungen zurückzufallen.(14)
D em berechtigten Misstrauen der Leserschaft gegenüber
"Vertraulichkeiten aus meinem Leben" und gegenüber einem
Publikum, das
"an der Wahrhaftigkeit solcher biographischen Versuche
einigen Zweifel hege", begegnete Goethe mit einem offenen, ja offensiven Wort:
Er bekennt sich dezidiert
"zu einer Art von Fiktion, gewissermaßen ohne Not."(15) Denn
das "eigentliche Grundwahre", man könnte auch sagen,
"die
'Wahrheit' der Erinnerung" einer
Lebensdarstellung, auf die es ihm in seiner Selbstbiographie ankomme, sei
"ohne die Rückerinnerung und also die Einbildungskraft"(16)
nicht zu haben. Immer sei
"das dichterische Vermögen"(17) und in der Folge auch die
sprachliche Darstellungsform in ihrem Konstruktionscharakter von Relevanz, so
"daß man mehr die Resultate und, wie wir uns das Vergangene jetzt denken,
als die Einzelheiten, wie sie sich damals ereigneten, aufstellen und hervorheben
werde. […] Dieses alles, was dem Erzählenden und der Erzählung angehört, habe
ich hier", so heißt es weiter in einem Brief an König Ludwig I. von Bayern,
"unter dem Worte: Dichtung, begriffen, um mich des Wahren, dessen ich mir
bewußt war, zu meinem Zweck bedienen zu können."(18) Ausschlaggebend ist also die
Vorstellung Goethes, dass es die Einbildungskraft, die Imagination, die
gewissenhaft deutende Erinnerung, also die "Dichtung"
ist, die das "eigentliche Grundwahre"(19) erfassen könne.
Niemals sistiert Goethe jedoch den Wahrheits- und Authentizitätsanspruch und
damit den referentiellen Bezug zur historischen Wirklichkeit bzw. zu seiner
eigenen Autorenpersönlichkeit. Zwischen ihm als dem Autor und, so könne man
formulieren, seinem autobiographischen Ich, das sich im selektierenden und
gestalterischen Erinnerungs- und Schreibprozess konstituiert, unterscheidet er
dezidiert. Man könnte auch – mit Bernadette Rieder und in Anlehnung an Gerhart
Baumann – formulieren:
"Im Leben Vorgeformtes und
Offengebliebenes erhält im Schreiben Ganzheit und Sinn. Das schließt
nicht aus, dass das Leben selber sinnhaft ist, aber es berücksichtigt
auch die konstruktive und synthetisierende Leistung des Schreibens."(20)
In einem von Johann Peter Eckermann am 30. März 1831
notierten Gespräch meinte Goethe außerdem:
"Es sind lauter Resultate
meines Lebens, und die erzählten einzelnen Fakta dienen bloß, um eine
allgemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit zu bestätigen […] Ein
Faktum unseres Lebens gilt nicht insofern es wahr ist, sondern insofern
es etwas zu bedeuten hatte."(21)
G oethe unterscheidet also präzise zwischen "Dichtung"
und
"Erdichtung", zwischen der erzählerischen Erfassung des
"Wahren", und der
"Erdichtung", also des akzentuiert Fiktiven, eines
bewusst Ausgedachten ohne historiographischer, empirisch nachprüfbarer
Wirklichkeitsreferenz:
"Ich", so heißt es in einer Aufzeichnung des Kanzlers
Friedrich von Müller (1779-1849) vom 13. 6. 1825, "reizte
ihn sehr lebhaft an, doch noch etwas über die Zustände Tiefurter Lebens zur Zeit
der Herzogin-Mutter zu entwerfen. "Es wäre nicht
allzuschwer, erwiderte er, man dürfte nur die Zustände ganz treu so schildern,
wie sie sich dem poetischen Auge damals darstellten; Dichtung und Wahrheit, ohne
daß Erdichtung dabei wäre'".(22)
Es handelt sich beim autobiographischen Schreiben nach Goethe
eben um eine "Art von Fiktion, gewissermaßen ohne Not":
Dies ist ein sehr moderner Gedanke, der auch von der sich seit den 1980er Jahren
intensivierenden und in viele Richtungen ausufernden Autobiographie-Forschung
nicht übertroffen wurde, auch wenn neuere Forschungsrichtungen so tun, als
müssten sie die Welt neu entdecken.(23)
Die Autobiographie-Forschung bedient sich aber oft nur einer
spezifischen, oft schwer verständlichen Terminologie. Günter Niggl fasst den
derzeitigen Stand der Dinge sachgerecht auf folgende Weise zusammen:
"Fragen der Ich-Identität, der Konstitution und
Konstruktion des Subjektes und Probleme des autobiographischen Erzählens,
mündend in die Frage nach dem eigentümlichen Verhältnis von Wirklichkeit und
Fiktion, von Realität und Textualität in der Darstellung des Ich und des eigenen
Lebens" seien heute vorrangig, wobei
"die neueren Arbeiten zum Abbau dieser Spannung
[Wirklichkeit versus Fiktion, Realität versus Textualität] tendieren, und zwar
zugunsten der Fiktionalität", und sogar die "früher
unbezweifelte Bindung des autobiographischen Erzählers an empirische
Gegebenheiten und sein damit verbundener Authentizitätsanspruch in Frage"(24)
gestellt wird.
N iggl zeigt, wie ein dekonstruktivistischer Modernismus das
Kind mit dem Bade ausschüttet, indem er in der Debatte um die Autobiographie
"das Band zur empirischen Welt [prinzipiell] gelöst", ja "jede Verbindung
zwischen dem Text und der von ihm beschriebenen und gedeuteten realen Welt"(25)
zerschneidet. Für die meisten Autobiographen, die Verfolgung, Vertreibung, Exil
und Holocaust erfahren haben, sind dies freilich haarspalterische Zuspitzungen.
Ruth Klüger etwa schreibt in ihrem Essay "Zum Wahrheitsbegriff in der
Autobiographie":
"Eine Autobiographie muß vom Anspruch, nicht vom Inhalt her,
definiert werden, als ein Buch, in dem Autor und Erzähler nicht zu unterscheiden
sind. Eine Autobiographie, in der Lügen stehen, ist noch immer eine
Autobiographie, wenn auch eine verlogene, und kein Roman. […] Autobiographie ist
eine Art Zeugenaussage."(26)
Ruth Klüger fragt sich "nur", "wie" man denn "Zeugnis"
ablegen könne, und zwar "in den Ketten des eigenen Körpers, des eigenen
Wahrnehmungsvermögens?"(27) Sie findet dafür auch – in Anspielung auf ein Gedicht
von Ingeborg Bachmann – das eindringliche Bild vom/von der Autobiographen/in als
einer Person, die "eine erlebte eingefleischte Wahrheit"(28) beschreibe.
I n Abweichung davon stellt dekonstruktivistisches Räsonieren
die Einheit von "Autor, Erzähler und Protagonist" in Frage, jene Einheit, die
jede Autobiographie gewissermaßen in einem Kontrakt, im sogenannten
"autobiographischen Pakt" festsetzt sowie zugleich im Lektürekontrakt(29) zwischen
einem Autor/einer Autorin und seiner/ihrer Leserschaft prinzipiell vereinbart.
Dieser Pakt, der einerseits durch den Autor mit seinen Wahrheitsbezeugungen
unterschiedlicher Art unentwegt beglaubigt wird, so dass er damit gleichzeitig
sozusagen Nachprüfbarkeits-Verantwortung übernimmt, und der andererseits seinen
Vertragspartner, den Leser, in die Gewissheit versetzt, dass er nicht belogen
wird oder besser, dass die "Lügen" nichts anderes seien als etwas vom
Autor/Erzähler subjektiv Geglaubtes und keinesfalls absichtliche Täuschung –
dieser Pakt sei nichts anderes als ein rhetorisches Mittel (Prosopopőie) (30) in
einem Maskenspiel, ein "Geben und Nehmen von Gesichtern", wie bei allen anderen
Textkonstrukten auch, und zwar ohne jede empirische Referenz, wie dies von
Jacques Derrida behauptet wird.
Damit hatte der mit Augenmaß ausgestattete Goethe nichts zu
tun. Denn, wenn er auch den modernen Terminus des "autobiographischen Ichs"
nicht verwendet, der in der Konstruktion einer "Selberlebensbeschreibung" (Jean
Paul) (31) eine entscheidende Rolle spielt, meint er doch mit jenem wägenden Wort von
der "Art von Fiktion, gewissermaßen ohne Not" dasselbe. Bernadette Rieder
schreibt zutreffend:
"Eine Möglichkeit, sich dem Problem der Fiktionalisierung und
damit der Distanz zwischen dem realen Autor und dem Erzähler terminologisch zu
nähern, ohne den Anspruch der Nichtfiktionalität und damit der Referenz des
Erzählens auf den Autor aufzugeben, ist die Rede vom ‚autobiographischen Ich’.
Das autobiographische Ich ist eine Instanz zwischen dem Autor-Ich und dem
Erzähler (der meist in Ich-Form auftritt). Nicht das Autor-Ich wird in der
Autobiographie dargestellt, sondern das autobiographische Ich. Das
autobiographische Ich ist ein relativ stabiler Personen- und Lebensentwurf, der
die Spannung zwischen erzählendem und erlebendem Ich, die aus der Distanz
zwischen dem Zeitpunkt der Erlebnisse und dem Zeitpunkt des Erzählens entsteht,
ausgleicht. […] Das autobiographische Ich leistet also auch den Ausgleich
zwischen den von [Michaela] Holdenried bezeichneten Polen Fiktionalisierung und
Beglaubigung. Vom Autobiographen selber muss das autobiographische Ich ebenso
scharf unterschieden werden wie das erlebende vom erzählenden Ich auf der
Textebene. Der Autor ist noch viel mehr und anderes als das Personenbild, das
die Autobiographie bietet. Der Autor hat eine Identität in jedem Moment seines
Lebens (synchron) und eine durch die Zeit (diachron). Die Identität des
autobiographischen Ich ist punktuell und gemacht."(32)
Es kann hier kein Aufriss der historischen und aktuellen
theoretischen Debatten über die Grundlagen und die Gattung der Autobiographie
geleistet werden. Erst kürzlich hat Günter Niggl in seinem Sammelband "Die
Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung" (1. Aufl.
1989; 2. Aufl. 1998) die wichtigsten internationalen Stationen (VertreterInnen
und Positionen) dieser Debatte seit dem 19. Jahrhundert mit ausgewählten Texten
zusammengestellt.(33)
B ernadette Rieder hat in ihrer Innsbrucker Dissertation
(2006) in komprimierter Form die Eckpunkte dieser Debatten nachgezeichnet: Alle
Debatten zur Autobiographie und ihrer Gattungs-Geschwister ("fingierte
Autobiographie", "autobiographischer Roman", "Autofiktion",
"Semiautobiographie", "Bekenntnisdichtung", "Memoire", "Lebenserinnerung",
"Selberlebensbeschreibung", "Autognyographie" oder wie immer auch die Termini
lauten mögen.) kreisen um einige Basisaspekte:
(a) die (behauptete, die paktierte) Einheit von Autor,
Erzähler und Protagonist,
(b) die Vorstellung vom "autobiographischen Ich" als der
Referenz-Instanz, als eine Zwischenwelt von Wirklichkeit und Erfindung, also die
Vorstellung vom prekären, ja "hybriden Charakter dieser Textsorte zwischen Fakt
und Fiktion"(34), zwar mit Authentizitätsanspruch, aber ohne Garantie für
"historische Richtigkeit", weiters
(c) die prinzipielle Offenheit der (stilistischen) Form, so
etwa die fehlende Beschränkung auf die Ich-Erzählung oder das Chronologische,
aber die Favorisierung eines Erzählstandpunktes, einer einheitlichen Perspektive
von einem Jetzt aus, sowie
(d) der mehr oder minder ausgeprägte Anspruch, die "tieferen
Zusammenhänge" eines überschaubaren Lebens zu fassen, freilich auch mit der
Möglichkeit/Berechtigung, eben nur Fragmente eines Lebens zu bieten, und zwar im
Zuge des bedeutungsbildenden Prozesses" des Erinnerns und damit zugleich
Neuerlebens, Umbildens, Ergänzens des Lebensstoffes:
"Die Autobiographie ist […] weder das reine Abbild einer
Lebensgestalt, die real schon vorhanden ist, noch ist die Lebensgestalt
ausschließlich das Produkt des autobiographischen Schreibens. Die Autobiographie
ist eine Neugestaltung vorhandener Gestalt(en) im zweispurigen [Erinnern und
Neuerleben] autobiographischen Prozess."(35)
V om Autographen darf man also "erstens eine interessante und
erschöpfende Auswahl aus dem Stoff seines/ihres Lebens" erwarten (Erinnerung,
Recherche), "zweitens die Explizierung des Lebens-Scripts (Gestaltung), drittens
eine Bevorzugung dessen, wovon nur er/sie Zeugnis ablegen kann."(36)
Wer von der Autobiographie "historische Richtigkeit"
erwartet, geht fehl oder missversteht diese Redeform prinzipiell. Die "Wahrheit"
ist nicht zu haben, höchstens der historische Abdruck einer subjektiven
Wahrnehmung, die sich freilich mit anderen Wahrnehmungen decken oder überlappen
kann. Und was schließlich – als für kurze oder längere Zeit – als historische
Wahrheit etwa einer Epoche oder eines Lebens gilt, ist das Ergebnis eines
komplizierten Auswahlprozesses, das von gesellschaftlichen Kräften bestimmt
wird, die zumindest für eine begrenzte Dauer die Kraft zur hegemonialen Dominanz
erobert haben.
Ich denke, es besteht Konsens darüber, dass nicht nur
Autographen dichten, sondern auch Klio dichtet, wie es bei Hayden White (1986)
heißt.(37) Die modernen HistorikerInnen wissen heute, dass Autobiographien oder jene
Produkte, auf denen das Label "autobiographisch" steht, mehr oder weniger
unverlässliche Gebrauchswertversprechen darstellen, so wie die modernen
Literaturwissenschaftler wissen, dass autobiographische Texte im Sinne von
Goethes "Dichtung und Wahrheit" auch eine historische Wahrheit jenseits des
Nachprüfbaren, jenes "eigentliche Grundwahre", enthalten und nicht bloße
Texturen sind.
2. Topoi und autobiographisches Schreiben
I n der literaturwissenschaftlichen Autobiographie-Forschung
hat sich eine ihrer Richtungen in jüngerer Zeit verstärkt den aus der antiken
Rhetorik bekannten Figuren, den Topoi zugewandt, die abstrakte, aber jeweils
individuell anzueignende Muster oder Gliederungsformeln für die Darstellung
eines Lebensweges anbieten – gewissermaßen strukturierende und leitende
"Fixpunkte für feste Überzeugungen, vagierende Gedanken und halbbewußte,
affektive Erinnerungen", "Rubriken und 'Fundgruben' der auktorialen
Argumentation und der lektorialen Selbsterinnerung", im besten Sinne
"Allgemeinplätze, auf denen Fremd- und Eigenerfahrungen ausgetauscht und
vergleichbar werden."(38)
Erst kürzlich hat Bernadette Rieder diese Form der Annäherung
an autobiographische Texte am Beispiel von mehreren deutsch-jüdischen
Autobiographien aus Israel (39) operationalisiert und damit die systematische
Vergleichbarkeit autobiographischer Produktionen bzw. Konstruktionen ermöglicht.
Mit dieser methodischen Annäherung an die Stoffmassen gewinnt sie – trotz oder
gerade wegen der topoihaften Gemeinsamkeit der Texte – Einblick in die
mikrokosmischen Spezifika der einzelnen Texte, sieht deren spezifischen
Schwerpunktsetzungen, Akzentuierungen und Ausblendungen – also das
autobiographische Konstrukt zwischen Benennen und Verschweigen, Ent- und
Verhüllen. Ziel ist es, jenseits des rein Stofflich-Inhaltlichen gerade nicht
das Gemeinsame, das Konventionalisierte, sondern die Spezifik des Erzählten,
dieses "eigentliche Grundwahre" autobiographischer Leistung, wie es Goethe
bezeichnete, benennen zu können. Die Ergebnisse selbst können sodann weiteren
Vergleichen unterworfen werden.
R ieder unterscheidet dabei sachgerecht zwischen
"stoffbedingten" und "genrebedingten" Topoi und nennt zum Beispiel im Bereich
des Stoffbedingten folgende Aspekte, die auf die eine oder andere Weise oder
überhaupt nicht thematisiert werden, so dass sich im Vergleich letztlich die
individuellen Profile, die subjektiven Antlitze der Autographen konturieren:
(a) Wer bin ich? (Herkunft, Familie – Kindheit, Jugend –
Geschlecht – Gruppenzugehörigkeit Judentum – Heimat – Lebenswenden –
Weltanschauung – Grundzüge des Selbst),
(b) Wie lebe ich? (Liebe, Partnerschaften – Freundschaften,
Bekanntschaften, Begegnungen – Ausbildung, Beruf – Existenzsicherung, Alltag –
Zeitläufte)
(c)Was macht mich interessant? (Selbstverständnis als Person
öffentlichen Interesses – Identität als SchriftstellerIn).
Im Bereich der "genrebedingten" Topoi listet sie folgende
Aspekte auf:
(a) den Topos der Nichtfiktionalität und damit jene
Strategien, das Erzählte als glaubhaft wirklich darzustellen,
(b) weiters den Topos der Aufrichtigkeit, also etwa
Wahrheitsbeteuerungen, Rechtfertigungen,
(c) den Topos der Texteinheit, also die sprachliche Strategie
der Einheitsstiftung, und
(d) für unseren Zusammenhang den besonders wichtigen Aspekt
des Meta-Narrativen, also die selbstrefentielle Reflexionsebene der Autographen
ihrem Schreiben gegenüber.(40)
Rieders Fluchtpunkt ist jenes "eigentliche Grundwahre"
Goethes, sozusagen der Grundantrieb und jene Intention der autobiographischen
Arbeiten, auf die diese zusteuern bzw. warum sie überhaupt die Mühe des
erinnernd-vergegenwärtigenden und selbstdeutenden Erzählens auf sich nehmen.
3. Die Thematisierung des autobiographischen Schreibens bei
Jean Améry, Fred Wander und Anna Maria Jokl
I m Zuge der Zunahme selbst-reflektierender Individualisierung
und selbst-erkundender Identitätsvergewisserung, offenbarer Dringlichkeit
lebensgeschichtlicher Bilanzierung sowie – für unsere Tagung besonders relevant
– offensichtlich oft not-wendender Selbsterhellung im Kontext jüdischer
Gedächtnis- und Erinnerungskultur hat sich autobiographisches Schreiben zu einer
reichen und vielfältigen Schreibform entwickelt.(41)
Die seit den 1960er Jahren erschienenen einschlägigen Texte
Jean Amérys, Fred Wanders und Anna Maria Jokls sind sowohl was ihre sprachliche
als auch ihre lebenserkundende und theoretisch-reflektierende Qualität über das
"autobiographische Schreiben" selbst, insbesondere über das "autobiographische
Ich", betrifft, bemerkenswerte Exempel einer sehr umfangreichen jüdischen
Leistung auf dem Felde von "Wahrheit und Dichtung bzw. Dichtung und Wahrheit".
Einige im engeren Sinne autobiographische Schriften Amérys,
Wanders und Jokls sollen vorerst auf die Konkretisierung einiger weniger Topoi
hin betrachtet werden. Es soll zuerst die Dimension des sogenannten
Meta-Narrativen herausgegriffen werden. Anschließend soll auch auf das
„eigentlich Grundwahre", wie es Goethe nannte, eingegangen werden, also auf das
die Texte Grundierende, auf den geistigen Kern, in dem nicht zuletzt auch die
Thematisierung des Jüdischen eine wichtige Rolle spielt.
E s geht um Jean Amérys – man kann mit gutem Recht sagen
– Trilogie, die zwischen 1966 und 1980 erschienen ist, nämlich um seine Sammlung
"Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten"
(1966/1977), weiters um den Band "Unmeisterliche Wanderjahre (1971/1985) und um
"Örtlichkeiten" (1980).(42) Nicht in mein Korpus aufgenommen habe ich Jean Amérys
nicht minder autobiographisch geprägte Texte "Über das Altern. Revolte und
Resignation" (1968/1977) und "Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod"
(1976/1978).(43)
Weiters beziehe ich mich auf Fred Wanders überarbeitete und
2006 wieder erschienenen "Erinnerungen" mit dem Titel "Das gute Leben oder Von
der Fröhlichkeit im Schrecken", ein Text, der unter dem Titel "Das gute Leben"
erstmals 1996 publiziert wurde(44), sowie auf Anna Maria Jokls "Wiederbegegnungen"
mit dem Titel "Die Reise nach London" (1999) und ihre "Kurze Biographie", die im
Sammelband von autobiographischen Mikrotexten mit dem Titel "Essenzen"
(1993/erw. Aufl. 1997) (45) erschienen ist.
Während Jean Amérys und Fred Wanders Darstellungen einen
Bogen über alle Lebensabschnitte schlagen, geht Anna Maria Jokl fragmentarischer
vor. Amérys Lebensbogen wird in drei unterschiedlich akzentuierten Formen
präsentiert und beginnt mit der Thematisierung der KZ-Erfahrung des
Intellektuellen "An den Grenzen des Geistes" und "Die Tortur", also nicht mit
Kindheit und Jugend. In Anna Maria Jokls "Die Reise nach London" (1999) spielen
etwa Herkunft, Familie, Kindheit und Jugend fast keine Rolle. Fred Wanders "Das
gute Leben" zeigt vergleichsweise die herkömmlichste Form einer beinahe
chronologischen Darstellungsform – natürlich sind Rück- und Vorgriffe oder
Exkurse nicht ausgeschlossen.
Z weifellos ist es Jean Améry, der sich, immer im Umkreis der
Entstehung seiner verschiedenen Texte zwischen 1966 und 1980, am ausführlichsten
äußert und die differenziertesten Reflexionen zur autobiographischen
Schreibweise anbietet: "Das, was ich [als Betroffener] schreibe, kann nicht
Geschichtsschreibung sein, sondern ein Stück geschichtlicher Zeugenschaft, mehr
will es auch nicht sein."(46) Als sich Améry nach dem Frankfurter Auschwitz-Prozess
entschloss, über seine eigenen "Erlebnisse im Dritten Reich" zu schreiben, hatte
er vorerst eine "nachdenklich-essayistische Arbeit"(47), also etwas nicht dezidiert
Persönlich-Authentisches geplant. Er wollte "dem Leser in distinguierter
Objektivität gegenübertreten"(48), was sich aber schnell als unmöglich erweisen
habe. Denn im Schreibprozess selbst (49) sei ihm seine Arbeit zu einer "durch
Meditationen gebrochene[n], persönliche[n] Konfession" (50) geraten, in der sich
schließlich das "'Ich' […] als der einzig brauchbare Ansatzpunkt"
(51) herausgestellt
habe. Auf dem Klappentext der Erstausgabe konnte man von "so etwas wie einer
zeitgeschichtlich-politischen Autobiographie" lesen, "nacherzählt" in
"großer
Eindringlichkeit" und zugleich mit "objektiver Kühle des Moralisten."(52) Für Améry
waren zwar schmerzlich vergegenwärtigte Erfahrungen die Quellen, aber das
Schreibergebnis dennoch nicht bloß subjektivistischer Erlebnisbericht", sondern
etwas, was überindividuellen Erkenntnis-Anspruch erhob: "Wichtiger freilich als
der Erlebnisbericht", so heißt es, "ist in diesem Buche die philosophische
Verarbeitung" einer Opfer-Existenz, genauer, der jüdischen Opfer-Existenz
(53) – "über alles Dokumentarische, Historische und auch individuell Psychologische
hinaus".(54) Diesen Gedanken führt Améry schließlich in allen seinen nachfolgenden
theoretischen Reflexionen über die mit "federnder Intelligenz" (55) vorgetragenen
Versuche seiner "Selbstbefragung" (56) weiter. Dabei hält er immer die Balance
zwischen dem Beharren auf dem "Entschluß zur unverschleierten Subjektivität" und
dem Anspruch auf die Wiedergabe von "Typischem".(57) So findet Améry auch seine
Gattungsbezeichnungen: In Anspielung auf Goethes "Roman" spricht er von seinen
"Unmeisterlichen Wanderjahren" als "Fragmenten einer Biographie des Zeitalters".
Er redet von der unzertrennlichen Einheit von "autobiographischer" und zugleich
"zeitbiographischer" Selbstbefragung (58) und kommt schließlich zur Formulierung
"essayistisch-autobiographischer Roman."(59) Dies wird der Zentralbegriff für seine
autobiographischen Versuche. Diese Gattung darf jedoch nach Améry sogar ein
höheres Maß von "Wahrheit" als jede herkömmliche "Geschichtsschreibung"
beanspruchen:
"Ich war dabei. Kein noch so geistvoller junger Politologe
soll mir seine begrifflich verquerten Geschichten erzählen, die nehmen sich
hochgradig albern aus für jeden, der Augenzeuge war. Die Geschichtsschreibung
sieht allemal nur Einzelaspekte und vor lauter Bäumen den Wald nicht, den
deutschen Wald des Dritten Reiches. Damit aber wird die Geschichte selber als
Begriff untauglich, und mir fällt nur noch ein Satz von Claude Levi-Strauss aus
seinem Buch 'La pensée sauvage' ein, wo er sagt, es löse am Ende alles
historische Geschehen sich auf in Ketten nur physikalischer Prozesse und es habe
das Wort Geschichte kein eigentliches Objekt."(60)
I n dem anlässlich einer Neuausgabe erweiterten Vorwort von
1976/1977 wird das autobiographische Schreiben schließlich sogar gegen jede Form
"abklärenden", historiographischen Umgangs mit einer angeblich vergangenen
Geschichte gesetzt: "Nichts ist ja aufgelöst, kein Konflikt ist beigelegt, kein
Er-innern zur bloßen Erinnerung geworden. […] Ich rebelliere: […] gegen eine
Gegenwart, die das Unbegreifliche geschichtlich einfrieren läßt und es damit auf
empörende Weise verfälscht."(61) Autobiographisches Schreiben wird sogar zum
ausgezeichneten Ort einer Geschichtsschreibung, in der jenseits von herkömmlich
vermittel- und überlieferbaren Fakten – man könnte sagen – der Geschmack und der
Geruch einer Epoche, eines Zeitalters kraft sprachlich-literarischer
Imaginierung aufbewahrt sein kann. Es gibt unzählige Stellen in Amérys Büchern,
bei denen dieser Geschmack eines historischen Augenblicks mit zutreffenden
Wörtern umkreist und fühlbar wird. In seinem letzten autobiographischen Buch "Örtlichkeiten" (1980) etwa heißt es über Erlebnisse im Paris der
Nachkriegszeit:
"Frage, die sich gleich stellt beim ersten Anschauen, Anhören
[eines Films]: Wird man das je erinnern können, diese Kinostunde mit der schönen
Simone [Signoret] und dem jugendlichkraftvollen Yves [Montand]? Wird man je
wieder die Ergriffenheit, die sich einstellt bei den Worten ‚das Meer löscht im
Sande die Fußspuren der entzweiten Liebenden aus’ genau so zu verspüren
vermögen? Wird Paris, das Paris dieser après-guerre-Tage bestehen bleiben? Oder
wird kühle Vernunft eines Tages sagen, es sei das alles […], wird das alles
dermaleinst sich ausnehmen wie überständige, schleunigst zu liquidierende
Romantik?"(62)
Ähnliche Gedanken bewegen auch den Autographen Fred Wander in
"Das gute Leben", wenn er davon spricht, dass es "nicht darauf an[kommt], mit
Akribie die Dinge des Lebens zu beschreiben, sondern auf die Gestaltung und die
magische Wirkung, die dem Künstler bewusst ist! Auf intellektuelle und
moralische Kraft kommt es an, auf verborgene Zusammenhänge und tiefere
Wahrheit."(63) Es ist, als ob Goethes Wort zitiert würde.
J ean Améry hat sich wie fast niemand sonst dem "Morast
aufgestockter, aber niemals ruhender Erinnerung" (64) gestellt und ist den
"enttauchenden" Erinnerungen mit nicht nachlassender Skepsis und Selbstkritik
begegnet. Die historische Wahrheit will er, wie er ironisch formuliert, den
vielen "Herren vom Fach", die Geschichte "treiben und schreiben"(65), nicht
überlassen. Der Autograph Améry hat nicht nachgelassen, das Erinnerte von allen
Seiten zu prüfen, es sozusagen zu beäugen und zu beschnuppern, weil er wusste,
wie die eigenen Bilder der Erinnerung mitbestimmt werden von unbewusst
aufgesaugten Eindrücken jeglicher Art, nicht zuletzt von Bildern aus Kunst, Film
und Literatur. Amérys Texte sind deswegen nicht zuletzt eine subjektiv-objektive
Literaturgeschichte der Epoche seit den 1930er Jahren:
"War das Paris? Diese von dem miserablen Regisseur
Wirklichkeit nach den Rezepten des filmischen Frührealismus gedrehte
Filmsequenz? Diese von einem nicht weiter um Feinheiten bemühten, sich
gleichfalls Wirklichkeit nennenden Autor niedergeschriebene Erzählung? Dieses
verblassende Bild, das sich so schlecht hält gegen die Erosionsarbeit der Zeit?"(66)
Keine "enttauchenden" Erinnerungen – auch nicht jene aus dem
KZ, dem Lager, der Tortur, der Flucht oder des Widerstandes – sind davon
ausgenommen, es gibt keinen Behauptungssatz, der nicht durch einen anderen oder
andere gestört und relativiert, der nicht in das Unterfutter der Wirklichkeit
leuchten würde. Das macht die beeindruckende und glaubwürdige Authentizität von
Amèrys Selbst- und Epochenerkundungen aus.
A uch Fred Wanders "Das gute Leben" (1996/Neufassung 2006) ist
nicht bloß ein bedrängender, ungenau chronologisch gestalteter Erlebnisbericht
in 77 bzw. 78 Kapiteln und vier Teilen, sondern reflektiert grundsätzliche
Probleme und Darstellungsfragen autobiographischen Schreibens, betreibt also
topoihafte Meta-Narration. Insbesondere beschäftigt sich Wander mit dem
Gedächtnis als Ort der Erinnerung und verwischt dabei die Grenzen der Genres
bewusst. Autobiographie und Geschichtenerzählen sind für ihn zwei Seiten einer
Medaille, was nicht zuletzt von den bis ins Wörtliche gehenden Übereinstimmungen
zwischen Roman- und Erzählungswerk, etwa den Romanen "Der siebente Brunnen"
(1971), "Ein Zimmer in Paris" (1975) oder "Hotel Baalbek" (1991) und der
Autobiographie Wanders bestätigt wird. "Nur an einem Buch [schreibe er]",
bekennt Fred Wander in seinem Text "Selbstbefragung" (1994),(67) in dem zentrale
Dimensionen der Identität Wanders sowie der Kern seiner Poetologie zur Sprache
kommen. Wanders Werk, auch das autobiographische, wird als ein "tief
philosophisches"(68) erkennbar, das den Anspruch hat, "in sich die Menschheit als
Ganzes zu erleben"(69) –, "eine Art Universität", in der neben der Philosophie
"mit
Fächern wie Soziologie, Philologie [...], Psychologie [...] eine ganze
Wissenschaft über die Menschen" vertreten ist, wie es schon im Jahre 1951 in der
zu Unrecht bis heute vergessenen Kurzgeschichte "Linie 31 spricht aus Erfahrung"(70)
skurril zugespitzt heißt:
"Glauben Sie, [weil ich eine Straßenbahn bin –] daß ich
nichts zu sagen habe? Im Gegenteil. [...] In Wahrheit bin ich eine Art
Universität. Und ich führe die verschiedensten Fakultäten, die zum Beispiel:
Soziologie, Philologie, Philosophie, Psychologie ... [...] Oh, ich habe ein
gutes Gedächtnis. [...] wollte man mich nur anhören, ich könnte eine ganze
Wissenschaft über die Menschen aufstellen. [...] Aber ich will ja keine
Statistik geben. Ich bin nicht für das Bürokratische. Ich kann sehr dramatische
Geschichten erzählen oder Geschichten voll süßer Heiterkeit [...]. Ich höre
alles. Und ich merke mir alles. [...] Ich habe Menschen sterben sehen, das ging
schnell ... Und dann, dann war alles wieder wie gewöhnlich. Vielleicht werden
sie mich einmal abschaffen. Man sagt, ich bin eine veraltete Erscheinung."(71)
Vieles, was das spätere Werk Wanders mitbestimmt, ist hier
schon angedeutet – z. B. die Thematisierung von "Gedächtnis" und "Erinnerung",
einerseits das Geschichtenerzählen als Ergebnis detaillierter Beobachtung und
andererseits das schreibende Autobiographieren als Dokument historischer
Zeugenschaft bei gleichzeitiger Reserve dem bloß Dokumentarischen gegenüber.
"Schreib also die Wahrheit! Aber was ist die Wahrheit, was
heißt das, ein authentischer Lebensbericht? Eine fotografisch genaue Abbildung
der Vergangenheit kann es nicht geben […]. Martin Walser sagt dazu: 'Das Wort
Autobiographie kann … nur jemand benutzen, der von der unwillkürlichen
Verklärungskraft der Sprache wenig Ahnung hat … Man kann nicht etwas derart weit
Zurückliegendes beschreiben, ohne zu erleben, dass es längst Fiktion ist […].
Daß das jetzt in Sprache erwachen soll, ist eine Phantasie.' […] Es kommt nicht
darauf an, mit Akribie die Dinge des Lebens zu beschreiben, sondern auf die
Gestaltung und die magische Wirkung, die dem Künstler bewusst ist! Auf
intellektuelle und moralische Kraft kommt es an, auf verborgene Zusammenhänge
und tiefere Wahrheit."(72)
D ie genaueste Reflexion zur Funktionsweise des Gedächtnisses
findet sich in Wanders "Das gute Leben" (1996). Es heißt dort und erklärt an
dieser Stelle zugleich, warum Wander über den schmerzlichen Verlust der Tochter
Kitty und seiner Frau Maxie in seiner Autobiographie nur indirekt berichtet:
"Erinnerung kann tödlich sein, wenn sie dich ungeschützt
überwältigt und bis an die Grenzen des Wahnsinns treibt. Aber auch das Gegenteil
ist wahr. Wo jene geheime, intuitive Strategie des Vergessens, die List des
Unbewußten dir die Erinnerung verhüllt, wo dieser uns rätselhafte Mechanismus,
jene Schleuse, die immer nur so viel Wasser durchläßt, als die Ufer halten
können – , wenn diese Schleuse alles zurückhält und dein Gemüt austrocknet, auch
dort ist Vernichtung! Denn ohne Erinnerung und Vorstellungskraft ist der Mensch
kein Mensch, sondern ein Zombie, ein Wesen, das von seiner Seele verlassen
wurde."(73)
Auch Anna Maria Jokls "Die Reise nach London" (1999) und ihre
"Kurze Biographie", publiziert in ihren Kürzest-Erinnerungen mit dem sprechenden
Titel "Essenzen" (1993/1997), besitzen ein reflektorisches autobiographisches
Element. Es sind diesmal weniger Gattungs- oder Formfragen oder die
theoretischen Auseinandersetzungen über Gedächtnis und Erinnerung, die von Jokl
expliziert werden. Ihr besonderes Räsonnement gilt dem Stoff selbst, dem
"Leben", und – bei einer Psychoanalytikerin nicht verwunderlich – der Rolle des
Unbewussten, als einer Lektüreanleitung zum besseren Verstehen. Jokls Fragen
gelten den hinter allen Vorkommnissen virulenten, aber nicht eindeutig zu
fixierenden Prägefaktoren des Lebens: z. B. "Gene Zufall Kindheitsprägungen
Verflechtungen mit anderen Kraftlinien"(74), ja sogar Sternenkonstellationen. Sie
findet zwei beeindruckende Bilder, zum einen das Bild vom Teppich oder eines
subkutanen Geflechts, eines Myzels,(75) und zum anderen das Bild der Hieroglyphe:(76)
"Es gibt keine Ereignisse mit Anfang und Ende. Es ist wie ein
Gewebe, wo die Anzahl und Farben der Fäden von Anfang an gegeben sind, nicht
aber, wann sie ins Muster treten."(77) – "Wäre jede Phase [sechs Leben] eine
Glasplatte, mit ihrem besonderen Zeichen eingeätzt, alle übereinandergelegt und
von oben mit einem Blick durchschaut – somit der Zeitablauf aufgehoben –,
mag eine Hieroglyphe der Epoche sichtbar werden."(78)
I n Jokls "Die Reise nach London" hat die Myzelauffassung
formale Folgen insofern, als die einzelnen Kapiteln der autobiographischen
Aufzeichnungen jeweils einen Lebens-Faden, zum Beispiel eine Liebesbegegnung,
private und/oder berufliche Glückserfahrungen wie auch Schläge, so etwa
antisemitische Erfahrung,(79) ins Licht rücken. Aus der erinnernden,
vergegenwärtigenden Distanz enträtseln sich teilweise die Hieroglyphen eines
Lebens, von dem Jokl sagt, es habe aus sechs, myzelartig ineinander geflochtenen
Leben bestanden, die jeweils einen geographischen Brennpunkt gehabt haben: Wien,
Berlin, Prag, London, Berlin-Berlin, Jerusalem – nur "irgendwann kurz dazwischen
– beispielhaft doppeldeutig – Zürich"(80). Es ist dabei kein Zufall, dass Jokl die
Namen der Städte, in denen sie gelebt hat, beistrichlos aneinanderreiht,
myzelhaftes Geflecht andeutend.
4. Das "eigentliche Grundwahre"
M ehrfach schon war vom Goetheschen "eigentlichen Grundwahren"
der autobiographischen Bemühungen die Rede, das heißt von den jeweils
spezifischen Ziel- und Fluchtpunkten bzw. individuellen formalen
Vermittlungsleistungen der AutographInnen. Verschieden und eigenständig sind die
Arbeiten Jokls, Wanders und Amérys – trotz der Teilübereinsimmungen, was ihre
Erfahrungen von Verfolgung, Vertreibung, Flucht, Exil, Widerstand, KZ und
Folter, Überleben, Weiterleben betrifft.
Jokls autobiographischer Text enthält einige Elemente, die
sich nicht im sachlich Berichtsmäßigen erschöpfen, sondern Bedeutungsdimensionen
aufmachen, die als Metaphern für die Grundbotschaft dienen. Das ist bei Jokl zum
Beispiel ein Baum in Kensingten Gardens, den die Berichterstatterin anlässlich
ihres nach 27jähriger Abwesenheit im nie geliebten Zufluchtsort London wieder
aufsuchen will, ihn aber nicht mehr findet, aber den sie "in all den Jahren
nicht vergessen" (81) hatte, weil er zum Symbol geworden war. Die Erzählung pendelt
zwischen gestern und heute:
"Von dem mächtigen Stamm war [nach einem deutschen
Luftangriff auf London] weniger als ein Meter stehengeblieben, das helle Innere
lag zersplittert offen wie eine riesige Wunde mit spitzen Holzfasern. Das war
von der Glorie übriggeblieben. Im Herbst aber sproßen [sic!] aus der klaffenden
Baumwunde unnatürlich große Blätter […]. Rührend und ehrfurchtseinflößend
gleichzeitig, wie der Baum sich gegen den tödlichen Schlag, dessen Ursache
nichts mit seinem Sein zu tun hatte, behauptete und damit eine bizarre, aber
unverwechselbare Gestalt annahm."(82)
Dieses Unverwechselbare und Bizarre wird Teil der Identität
der Anna Maria Jokl, so dass sie über ihren West-Berlin-Aufenthalt ab 1951 sagen
kann, der eine Folge des nach der antisemitischen Züricher C.G. Jung-Erfahrung
jetzt "zweiten Schlags" war, nämlich der von der DDR-Führung zu verantwortenden
antizionistischen, de facto aber antisemitisch fundierten Ausweisung aus
Ost-Berlin: "Um den zerstörerischen Kräften der Epoche standzuhalten, musste ich
zum Baum in Kensingten Gardens werden."(83) Der gespaltene und neu austreibende Baum
der Londoner Exilszeit wird zum Lebenssymbol, das den autobiographischen Text –
als eine ästhetische Klammer – begleitet und zugleich das Myzelhafte des
Lebensbegriffs Jokls mitmeint.
A nna Maria Jokls "Die Reise nach London" hat Bernadette
Rieder mit dem Attribut "unabhängig angekommen"(84) zusammengefasst. In der Tat sind
alle Berichte, Beobachtungen, Anekdoten und Reflexionen von dieser Bedeutung
grundiert – es ist das Essentielle: "Die Beweise ihrer Unabhängigkeit findet die
Autobiographin bei praktisch allen Topoi", schreibt Bernadette Rieder, "sie
beziehen sich auf ihre Intellektualität, ihre Partnerschaften und
Bekanntschaften, ihre Alltagsgestaltung, ihre Berufsentwicklung, ihre
gesellschaftliche und jüdische Identität, ihre Weltanschauung und schließlich
ihre freie Entscheidung für Israel."(85) Mehrdeutig steht denn auch am Ende von
Jokls an Exkursen, Assoziationen und Zeitsprüngen reichen Reiseberichts die
Kapitelüberschrift "Ende einer Reise" – das Ende der Londonreise, am Ende der
Lebensreise zugleich. Die Reisen münden zusätzlich in einem endlich geborgenen
Ankommen in Israel: Die folgende winzige Anekdote bekommt Gewicht und
Symbolträchtigkeit für ein Leben – die "erzählten einzelnen Fakta dienen bloß,
um eine allgemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit zu bestätigen ... Ich
dachte, es steckten darin einige Symbole des Menschenlebens"(86), so heißt es bei
Goethe –: "Im Gewirr des entgegenkommenden Menschenstroms stieß ich mit einem
Mann zusammen und sagte nicht 'Pardon', sondern erstaunlicherweise 'Slicha'.
Hebräisch. Pardon auf hebräisch. Kurz darauf rief El Al zum Rückflug nach Israel
auf."(87)
Wie liegen die Dinge bei Fred Wander? Seine Autobiographie
"Das gute Leben oder Von der Fröhlichkeit im Schrecken" (2006) ist im Kern eine
penible Selbstrecherche nach allen nur denkbaren Prägestöcken der
"Überlebenskunst"(88), weniger eine Untersuchung nach den Bedingungen Joklscher
Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, wenn das auch nicht ausgeschlossen ist,(89) als
ein Beitrag zur Überlebenskunst – und dies nicht nur angesichts der
KZ-Erfahrungen. Von welchen Vorkommnissen, Begebenheiten, Menschen, Begegnungen,
Beobachtungen und Büchern auch immer berichtet wird, sie dienen gewissermaßen zu
einer anthropologisch-philosophischen Vertiefung, in der zum Beispiel
Vorstellungen eines satirisch heiteren Sehens, eines pariahaften
Schlemihldaseins und anarchischen Individualismus als unausrottbares Erbe der
jüdischen Vorfahren und Vorstellungen eines kontinuierlichen, aber auch
augenblickshaften Sich-Verwandelns eine große Rolle spielen.
W anders Autobiographie läuft zugleich – im Unterschied etwa
zu Jokl – auf ein Lob eines diasporischen jüdischen Lebens hinaus. Eine ganze
Philosophie wird dazu vom Autobiographen entwickelt. Um sie kreist Wanders
Denken unablässig. Schlemihl ist in der Wanderschen Lesart der jüdische Typus
"ein[es] Pechvogel[s], der aber ein paradoxes Glück kennt", "eine Art
Lebenskünstler, der aus jedem Nachteil einen Vorteil zu machen versteht, aus
einer Schwäche eine Kraft und aus seinem Außenseitertum eine Art Freiheit"(90),
gehört in dieser Welt der "Polarität" zwischen den "Ansässigen eines Landes und
den Zugereisten, den Heimatlosen, den Fremden" der Klasse der "Fremden,
Außenseiter, Flüchtlinge" (91) an, die aufgrund ihrer Lebenssituation gezwungen sind,
"ein geschärftes Bewusstsein zu entwickeln, eine besondere Sensibilität der
Augen."(92) Es sind diese Schlemihle, die "in der Welt der Gegensätze" in Form eines
"in der Tiefe wirkenden [Prozesses]" gegen "Verengung", "Verkrampfung"
"Erstarrung und Versteinerung" auftreten, nach "neue[n] Welten suchen, die
erstarrten Lebensformen durchdringen, von innen aufbrechen", wie es auch in
einer Rede Wanders über "Offene Fragen zur Heimatlosigkeit der Juden" (93) heißt, die
er 1995 an der Universität Wien gehalten hat.
Unweigerlich stellt sich die Assoziation "Widerstand" ein –
als eine "Metapher für Leben"(94), wie sich Wander, "einer, der bei den Toten war"(95),
in dieser seiner Feier des Lebens ausdrückt. In untrennbarem Zusammenhang damit
steht Wanders Diaspora-Identität und sein Nachdenken über das Judentum – als ein
Jude, der bis heute unentwegt "in der Verstreuung" (96) lebe. "Selbstverständlich
suche ich in allem, was ich schreibe, einen Standpunkt, mir selbst und den
anderen mein Judentum zu erklären, meine Sicht auf das Schicksal der Juden", so
heißt es schon in seiner "Schreib-Auskunft" (1991). Weit davon entfernt, auf die
eine oder andere Weise die instrumentalisierbare Legende oder den Mythos des
auserwählten Volkes der Juden zu nähren, meint er in den jüdischen Schlemihls –
etwa als Dichter, Künstler, die im "Wissen um Tod und Endlichkeit [...] das
innere Auge für die Schönheit und die wahren Werte des Daseins, für die Wunder
des Lebens" (97) öffnen können –, geradezu Symbole für deren "Rolle in diesem Drama
der Menschwerdung" (98) sehen zu dürfen.
Ä hnlich wie Jean Améry befindet sich auch Fred Wander in
einem Dialog mit seinem erinnerten Ich – es ist ein Du, das wiederholt
auftaucht, an das Fragen gestellt oder Aufforderungen gerichtet werden und mit
dem sich Erinnerungen zum Beispiel an nicht-geschriebene Bücher verbinden: " …
und ich sage mir – du wirst die Insel nicht finden, wenn du nicht selbst die
Insel bist im Lichte der Utopie!"(99)
Schließlich: Wie steht es um Jean Amérys Ziel- und
Fluchtpunkt seiner so überaus reichen autobiographischen Selbsterkundungen? Die
Améry-Forschung ist sich einig: Was Gerhart Scheit in Übereinstimmung mit Alfred
Andersch und Irene Heidelberger-Leonard schreibt, trifft sicherlich den Punkt:
Da ist von einem „Stilisierungswillen" Amérys hinsichtlich eines "Psychodramas"
etwa in bezug auf "Unmeisterliche Wanderjahre" die Rede, von einem im Nachhinein
faszinierend entworfenen Selbst, in dem sich die geistigen Zeitläufte
widerspiegeln.(100) "Autobiographie ist bei Amèry 'vor allem Autokritik', schreibt
Alfred Andersch. […] Die Autobiographie als Ideen-Roman – darin verrät sich am
stärksten die französische Schule."(101)
A mérys Arbeiten sind selbstkritische, ja sogar
selbstabrechnende, präzis das identifikatorische Ich, das liebevoll-vertraute
Du, das fern-fremde Er und Man verwendende Beiträge zu einer Kulturgeschichte
der Seele und des Geistes seit den 1920er Jahren. Sie münden letztlich in
bewegende Beschreibungen jüdischer Fremdheit, Unerwünschtheit, Unerlaubtseins
und Gastexistenz – über die Jahrzehnte hinweg. Da ist ein Berichterstatter, der
etwas erzählt, was in keinem einzigen Geschichtsbuch außer in seinem eigenen
steht, und doch ist das Jahrhundert präsent in diesem Ich, Du, Er, Man.
"Ungewiß ist nur, was der Erinnernde ihnen [den jungen Leuten
und Wissenschaftlern von heute] noch zu sagen hat. Er ist kein dialektischer
Geschichtsphilosoph, kein fleißig Ziffern aufreihender Soziologe, kein bemühter
Historiker. Nur ein Mensch, der einen Blick zurückwirft und sagt vorbei – und
nie wieder. Wird man ihn anhören wollen? Wenn ja, ist’s recht. Wenn nein: tant
pis!" (102)
Das ist zwar großzügig gedacht von Jean Améry, aber in
Wahrheit wäre es mehr als bedenklich, die "Wahrheit" der Erinnerung Jean Amérys
nicht mehr hören zu wollen. Dies trifft auch auf Fred Wander und Anna Maria Jokl
und ihre beeindruckenden autobiographischen Schriften zu.
Anmerkungen:
(5) Binjamin
Wilkomirski, Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948. Frankfurt a. M.
1995. Ausgewählte Forschungsliteratur zum Fall Wilkomirski: Irene
Diekmann, Julius H. Schoeps (Hg.): Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete
Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein, Zürich, München
2002; Daniel Ganzfried, Die Holocaust-Travestie.
Erzählung. In: Daniel Ganzfried, Sebastian Hefti (Hg.): ... alias
Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie.
Enthüllung und Dokumentation eines literarischen Skandals,
Berlin 2002, S.
17–154; Stefan Mächler, Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer
Biographie, Zürich und München 2000; Marius Neukom, Die Rhetorik des
Traumas in Erzählungen.
Mit
der exemplarischen Analyse einer literarischen Eröffnungssituation. In:
Psychotherapie & Sozialwissenschaft.
Zeitschrift für
qualitative Forschung und klinische Praxis 7 (2005), H. 1, S. 75–109;
David Oels: "A real-life Grimm’s fairy tale".
Korrekturen, Nachträge, Ergänzungen zum Fall Wilkomirski.
In: Zeitschrift
für Germanistik, N.F. 14 (2004) H. 2, S. 373–390; Elena Lappin, Der Mann
mit zwei Köpfen.
Aus
dem Engl. übersetzt von Maria Buchwald,
Zürich 2000;
Andrea Reiter, Memory and Authenticity: The Case of Binjamin Wilkomirski
(Typoscript).
(39) Rieder zieht folgende
autobiographische Texte für ihre Analysen heran: Max Brod: Streitbares
Leben 1884–1968; Willy Verkauf-Verlon: Situationen. Eine
autobiographische Wortcollage, Lola Landau: Vor dem Vergessen. Meine
drei Leben; Max Zweig: Lebenserinnerungen; Alice Schwarz-Gordos: Von
Wien nach Tel Aviv. Lebensweg einer Journalistin; Anna Maria Jokl: Die
Reise nach London. Wiederbegegnungen.
(42) Jean Améry, Jenseits von Schuld und
Sühne. Unmeisterliche Wanderjahre. Örtlichkeiten. Hg. von Gerhart
Scheit. In: Ders., Werke. Hg. von Irene Heidelberger-Leonard. Band 2.
Stuttgart 2002. [Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche
eines Überwältigten, S. 7–177 (Materialien, S. 497 ff); Unmeisterliche
Wanderjahre, S. 179–349 (Materialien, S. 715 ff.); Örtlichkeiten, S.
351–489 (Materialien, S. 790 ff)].
(49) Im "Vorwort zur ersten Ausgabe 1966"
heißt es dazu: "Erst im Vollzug der Niederschrift entschleierte sich,
was ich vorher in einer halbbewußten, an der Schwelle des sprachlichen
Ausdrucks zögernden Denkträumerei undeutlich erschaut hatte. Bald zwang
sich auch die Methode auf. Hatte ich noch in den ersten Zeilen des
Auschwitz-Aufsatzes geglaubt, ich könne behutsam und distanziert bleiben
und dem Leser in distinguierter Objektivität gegenübertreten, mußte ich
nun erfahren, daß es einfach unmöglich war." (Ebenda, 20 f).
Fred Wander, Zwei Bagatellen. Der Blick von unten. In: Mit der
Ziehharmonika 14 (1997), H. 3, S. 34.
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