Theaterstücke
über Theaterstücke
schreiben, die sich dem Zeitgeschehen verbriefen, oder
genauer gesagt Theaterstücke über Theaterautoren
schreiben, die Geschichte "inszenieren": das ruft
eine kontextuelle Dialogik wach, in der sich eine
Literaturwissenschaftlerin leicht verfangen kann, die in Archiven, auf
Kongressen und im Klassenraum aus einem unwiderstehlichen
Erläuterungstrieb heraus nach dem Rechten schaut.
"Historische
Dichtergestalten im zeitgenössischen deutschen Drama",
so der Titel des hiermit besprochenen,
unverkennbar akademisch ausgerichteten Bandes, der sich
dreierlei Themenfeldern auf einmal annimmt: "Künstlerdramen
der deutschen Gegenwartsdramatik, die ausschließlich historische
Dichtergestalten als Protagonisten haben".
Dies soll anhand eines dem Stand der Forschung angemessenen, adäquateren
Instrumentariums gewährleistet werden, das sich über
die herkömmlichen Vergleiche zwischen dokumentarisch belegter Wahrheit und
dramatischer Fiktion hinwegsetzt.
Die
historische Wahrheit ein Zitat, das Dichterdrama ein Palimpsest, der Dichter
ein poeta doctus. Aus solchen geistig destillierten Gegebenheiten
will das Gesamtbild literarisch-historischer Verschränktheit geschöpft
werden, die Erkenntnis der zugrunde liegenden Paradoxien aufblitzen, ja die
Vision
von der Kraft der Wissenschaft
erfasst werden, um nun mit Johann Wolfgang von Goethe (Faust I,
Hexenküche) zu sprechen. Oder auch jene Vision des rigorosen Geistes der
Wissenschaft, um es mit Ioana Crăciun (Historische Dichtergestalten ...,
Abschließende Bemerkungen) zu sagen. Es ist ein Versuch, gerade dadurch
ein in sich geschlossenes System des Wissens zum Vorschein zu bringen, indem
in Worten gekramt wird.
Thematische
Vielschichtigkeit und formale Komplexität, die einen
lector doctus voraussetzen, machen ein bildungselitäres Steckenpferd
aus. Es geht der
Autorin der "vereinten" Studien aber vor allem auch
um epochenübergreifende Dialogizität und um die daran gebundenen
wesentlichen Erscheinungsformen dichterischer Selbstaussage im weitesten
Sinne. Bühnenhelden greifen hier wie selbstverständlich durch die szenische
Wirklichkeit. "Historie und Literaturhistorie
erweisen sich dabei als Projektionsfläche für die poetische
Selbstreflexion", wie der Klappentext verrät. Dichter geht’s nicht.
Jahrelang
hat Ioana Crăciun, rumänische Stargermanistin, Autorin und Übersetzerin, in
Rumänien, in Deutschland, in Österreich und in den Niederlanden aus allerlei
Perspektiven mit dem historischen Drama deutschsprachiger Ausdrucksweise
jongliert, bevor sie die Ergebnisse ihrer intensiven Forschungsarbeit im
Heidelberger Universitätsverlag WINTER veröffentlichte – mit einem
besonderen Augenmerk auf die mögliche Anwendung poststrukturalistischer
Begriffe wie "Textcollage", "Stilpluralismus", "Montage",
"Selbstreflexion" und "Epigonentum".
In dieser vorzüglich im Zeichen der Intertextualität entstandenen
Monographie nimmt sie fünf Dramen in Angriff: Toller und Harrys
Kopf von Tankred Dorst, Die Plebejer proben den Aufstand von
Günter Grass, In Goethes Hand von Martin Walser und Hölderlin
von Peter Weiss.
Den Ernstfall
proben: in einem Atemzug vom dichterischen Schöpfungsakt
bis zur gelehrten Auslegung. Auf nichts weniger ist die Autorin aus.
Mit kundiger Hand werden verweisende, ableitende,
delegierende, belegende oder eben widerlegende Beweisstücke
vorgeführt, die immer als Teil eines Ganzen dastehen und immer auf weitere
Beweisstücke mit Verweischarakter deuten.
Knapp zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer
präsentiert Crăciun ihre unheimlich wohlrecherchierten Untersuchungen zur
Verarbeitung historischer Dichtergestalten in zeitgenössischen Dramen
deutschsprachiger Schriftsteller, die man wohl in Anlehnung an die von der
Autorin bekundete Selbstironie ruhig sprachpolizeiliche, nein,
literaturpolizeiliche Ermittlungen nennen darf.
Das
breit ausgerichtete Forschungsgebiet wird u.a. durch die oben genannte
dreifache methodologische Fokussierung zweckmäßig beschränkt und im
Zusammenhang von sechs begrifflich umrissenen existenziellen
Spannungsfeldern beleuchtet: der Dichter und die Macht, der Dichter und die
Revolutionen, der Dichter und die Massen, der Dichter und der Eros, der
Dichter und die Krankheit, der Dichter und der Tod. Keine Sphäre
vermag sich den lukrativen Mühlrädern der Interpretation zu entziehen. Alles
ist antastbar. Alles ist lehrbar.
Die
Autorin hat schrecklich viel gelesen, und sie hat ihre Helden zum Teil sogar
persönlich kennengelernt – freilich aber nicht die Helden ihrer Helden.
Schon die dreiseitige Danksagung vor dem Inhaltsverzeichnis hört sich so
imponierend an (etwa wie eine Art postmoderner Prolog auf dem Theater, oder
besser:
eine Zueignung) und winkt gleichsam etwaige Bedenken des Rezpienten
derart souverän ab,
dass einer das Buch gleich einmal unwillkürlich ehrehrbietig neben de Boor
oder neben den Duden ins kanonisierte poetologische Wegweiser-Regal
stellen möchte. Mit dem Niederschlag Ehrfurcht
einflößender Namen, die für seine Bedeutung Zeugenschaft abgeben, will es
indes kein Ende
nehmen. Sogar ein wenn schon nicht in Goethes Hand, so doch immehin in
Martin Walsers Handschrift sozusagen höchstpersönlich dargereichter (an
Ioana Crăciun adressierter) Brief wird prompt zur entsprechenden Verortung
der hierin vorgestellten Monographie herangezogen: "(...)
ich glaube, Sie und ich sind die einzigen, die das Stück ganz verstanden
haben". Walserisch.
Der
Dichter und seine Leserin, besser: Der Dichter und seine Interpretin. Sowas
mutet ja schon fast wie ein Hexenkreis eingeweihter poetae docti an.
Wie das
unendlich mühsam ausgeklügelt revidierte Hexeneinmaleins
einer hermeneutischen Falle des inszenierten Zitats: Fraß für alte
Hasen.
Große
Erwartungen werden durch die Zueignung der Danksagung erweckt.
Ein erster
Entschlüsselungsversuch sei deswegen an dieser Stelle noch nicht gewagt. Der
Drang wird spürbar, in die Zirkulation der Ideen eingeschlossen zu werden,
die richtigen Antworten zu finden, die richtigen Fragen zu stellen, um den
Prozess der Entschlüsselung in Gang zu bringen. Worte wollen durchschaut
werden. Besonders hier.
Einer wie du und
ich? Ein bisschen steifer: Einer wie Sie und ich? Nein, so demokratisch
läuft das keineswegs. Strenge Rechnung, gute Deutung. Zwei mal eins macht
zwei. Fast hört man den analytisch gefärbten Flüsterton einer intertextuell
Eingeweihten: noch Walserischer als Walser, noch katholischer als der Papst.
In einem Wort. Mit kundiger Hand Dichter aufblättern:
lehrbar?
Es gehört gar viel dazu, die einzigen zu sein. Nicht nur "auf
unsern deutschen Bühnen" probiert ein jeder, was er mag, etwa die
Entmythisierung des Goethebildes oder eben die Mythisierung eines
Walserbriefes.
Zerknirscht
schleicht sich der Durchschittsleser an das Regal, macht sich an die Lektüre
des anderthalb Zentimeter dicken Bandes Historische Dichtergesgtalten ...,
von dem die Autorin übrigens wie beiläufig angibt, im
"Walserischen Geist"
geschrieben worden zu sein: "als utopischer Versuch,
'alles' zu verstehen, möglichst wenig zu übersehen
oder unbeachtet zu lassen". Alles ist da, aus gutem Grund und mit gut
beleuchtetem Hintergrund. Der Zufall hat hier nichts verloren.
Jedes Kapitel, jedes Subkapitel, jedes
Rädchen im Getriebe wird in einwandfreier germanistischer Abstimmung mit dem
gesamten Projekt formuliert. Alle Einzelheiten müssen stimmen, damit das
Ganze stimmt. "Die genannten Werke werden in
detailgenauen Analysen interpretiert, wobei nicht nur der geschichtliche
Kontext der jeweiligen historischen Dichtergestalten genauestens erörtert,
sondern auch der Kontext der Werke der genannten zeitgenössischen Dramatiker
eingehend untersucht wird". (Klappentext) Bedacht
wird dabei immer wieder das Eine: "die Kluft zwischen
Realität und Utopie".
Wenngleich
sich die Formulierung stellenweise aus dem Bestreben heraus, im Rahmen des
Erläuterungsprozesses immer wieder zusätzliche Informationen zu bieten,
durch ein Übermaß an
Determination am Prinzip der Kohärenz versündigt
(siehe z.B.: "Viele Künstlerdramen, deren Zahl auf
etwa zweihundert geschätzt wird"), behauptet sich
diese peinlichst ausgearbeitete Monographie als ein sinnvolles,
aufschlussreiches und gegebenenfalls nicht nur für fortgeschrittene
Studierende und Fachleute, sondern auch für überdurchschnittlich engagierte
und/oder reflexionsfreudige Leser äußerst nützliches wissenschaftliches
Werk, das ein gründlicheres Verständnis der einschlägigen
Bedeutungskonstellationen ermöglicht. Auch wird Ioana Crăciun ihrem in der
Einführung präsentierten Vorsatz durchaus gerecht, die von ihr aus
neuartiger Perspektive in den Raum der Betrachtungen gestellten Texte
konsequent vermittels des hermeneutischen Instrumentariums der literarischen
Postmoderne zu untersuchen. |