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Sprachpolizeiliche Ermittlungen
...

Jahrelang hat Ioana Crăciun, rumänische Stargermanistin, Autorin und Übersetzerin,
sich in Rumänien, Deutschland, Österreich und in den Niederlanden mit dem historischen
deutschen Drama auseinandergesetzt. Herausgekommen ist eine akribisch recherchierte
Monographie, in der
fünf mit Bedacht gewählte Theaterstücke in einen postmodernen
Dialog treten: Toller und Harrys Kopf von Tankred Dorst, Die Plebejer proben den Aufstand
von
Günter Grass, In Goethes Hand von Martin Walser und Hölderlin von Peter Weiss.

Von Vasile V. Poenaru
(07. 02. 2010)

...



Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com

geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Derzeit
Doktorand an der
Universität Toronto.


 

 

 

Den Ernstfall proben:
in einem Atemzug vom
dichterischen Sch
öpfungsakt
bis zur gelehrten Auslegung.
Auf nichts weniger ist die
Autorin aus.

 

 

 

 

Ioana Crăciun.
Historische Dichter
-
gestalten im zeitgenös-
sischen deutschen Drama
.
Carl Winter
Verlag,
2008, 304 S.
ISBN:
3825355098

 

 


 

Die Autorin hat schrecklich
viel gelesen, und sie hat
ihre Helden zum Teil sogar
persönlich kennengelernt –
freilich aber nicht die
Helden ihrer Helden.

 

 

 

 


(c) new.heimat.de

Ioana Crăciun

geb. 1958 in Constanta.
Ihrem Studium der Anglistik
und Germanistik in Bukarest
folgte 1987 die Promotion in
Tübingen. Sie arbeitet als
Professorin für deutsche
Literatur- und Kulturgeschichte
an der Universität Bukarest.

Bis heute hat sie zahlreiche
Gedichte in rumänischen und
deutschen Zeitschriften und
Lyrikanthologien veröffentlicht.
Ihre beiden bisher publizierten
Theaterstücke sind "Der
Jahrmarktfluss", der 1995 in
Bukarest uraufgeführt wurde
und "Keine Begabung für die
Wirklichkeit" (1998), das noch
unaufgeführt ist.

Ioana Crãciun hat amerikan-
ische, englische und deutsche
Autoren ins Rumänische über-
setzt (u.a. Stephen Leacock,
Edward Bond, Goethe, Brecht,
Dürrenmatt, Dorst, Achtern-
busch). 2000 erhielt sie den
Übersetzungspreis des Rumän-
ischen Schriftstellerverbands
für ihre Übersetzung von
Tankred Dorsts "Merlin oder
das wüste Land“. Seit vergan-
genem Jahr ist sie Präsidentin
der Zweigstelle Bukarest der
Gesellschaft der Germanisten
Rumäniens. (c) Kulturportal.de
 

 

 

 

 

 

Sechs begrifflich umris-
sene existenzielle Span
-
nungsfelder
werden
beleuchtet: der Dichter
und die Macht, der Dichter
und die Revolutionen, der
Dichter und die Massen, der
Dichter und der Eros, der
Dichter und die Krankheit,
der Dichter und der Tod.

 

 

 


 

 

 

Crăciuns peinlichst ausgearbeitete Monogra-
phie
behauptet sich als
ein sinnvolles, aufschlus
-
sreiches und gegebenenfalls
nicht nur für fortgeschrittene
Studierende und Fachleute,
sondern auch für über
-
durchschnittlich engagierte
und/oder reflexionsfreudige
Leser
äußerst nützliches
wissenschaftliches Werk.

 

   Theaterstücke über Theaterstücke schreiben, die sich dem Zeitgeschehen verbriefen, oder genauer gesagt Theaterstücke über Theaterautoren schreiben, die Geschichte "inszenieren": das ruft eine kontextuelle Dialogik wach, in der sich eine Literaturwissenschaftlerin leicht verfangen kann, die in Archiven, auf Kongressen und im Klassenraum aus einem unwiderstehlichen Erläuterungstrieb heraus nach dem Rechten schaut.

"Historische Dichtergestalten im zeitgenössischen deutschen Drama", so der Titel des hiermit besprochenen, unverkennbar akademisch ausgerichteten Bandes, der sich dreierlei Themenfeldern auf einmal annimmt: "Künstlerdramen der deutschen Gegenwartsdramatik, die ausschließlich historische Dichtergestalten als Protagonisten haben". Dies soll anhand eines dem Stand der Forschung angemessenen, adäquateren Instrumentariums gewährleistet werden, das sich über die herkömmlichen Vergleiche zwischen dokumentarisch belegter Wahrheit und dramatischer Fiktion hinwegsetzt.

   Die historische Wahrheit ein Zitat, das Dichterdrama ein Palimpsest, der Dichter ein poeta doctus. Aus solchen geistig destillierten Gegebenheiten will das Gesamtbild literarisch-historischer Verschränktheit geschöpft werden, die Erkenntnis der zugrunde liegenden Paradoxien aufblitzen, ja die Vision von der Kraft der Wissenschaft erfasst werden, um nun mit Johann Wolfgang von Goethe (Faust I, Hexenküche) zu sprechen. Oder auch jene Vision des rigorosen Geistes der Wissenschaft, um es mit Ioana Crăciun (Historische Dichtergestalten ..., Abschließende Bemerkungen) zu sagen. Es ist ein Versuch, gerade dadurch ein in sich geschlossenes System des Wissens zum Vorschein zu bringen, indem in Worten gekramt wird.

Thematische Vielschichtigkeit und formale Komplexität, die einen lector doctus voraussetzen, machen ein bildungselitäres Steckenpferd aus. Es geht der Autorin der "vereinten" Studien aber vor allem auch um epochenübergreifende Dialogizität und um die daran gebundenen wesentlichen Erscheinungsformen dichterischer Selbstaussage im weitesten Sinne. Bühnenhelden greifen hier wie selbstverständlich durch die szenische Wirklichkeit. "Historie und Literaturhistorie erweisen sich dabei als Projektionsfläche für die poetische Selbstreflexion", wie der Klappentext verrät. Dichter geht’s nicht.

   Jahrelang hat Ioana Crăciun, rumänische Stargermanistin, Autorin und Übersetzerin, in Rumänien, in Deutschland, in Österreich und in den Niederlanden aus allerlei Perspektiven mit dem historischen Drama deutschsprachiger Ausdrucksweise jongliert, bevor sie die Ergebnisse ihrer intensiven Forschungsarbeit im Heidelberger Universitätsverlag WINTER veröffentlichte – mit einem besonderen Augenmerk auf die mögliche Anwendung poststrukturalistischer Begriffe wie "Textcollage", "Stilpluralismus", "Montage", "Selbstreflexion" und "Epigonentum". In dieser vorzüglich im Zeichen der Intertextualität entstandenen Monographie nimmt sie fünf Dramen in Angriff: Toller und Harrys Kopf von Tankred Dorst, Die Plebejer proben den Aufstand von Günter Grass, In Goethes Hand von Martin Walser und Hölderlin von Peter Weiss.

Den Ernstfall proben: in einem Atemzug vom dichterischen Schöpfungsakt bis zur gelehrten Auslegung. Auf nichts weniger ist die Autorin aus. Mit kundiger Hand werden verweisende, ableitende, delegierende, belegende oder eben widerlegende Beweisstücke vorgeführt, die immer als Teil eines Ganzen dastehen und immer auf weitere Beweisstücke mit Verweischarakter deuten. Knapp zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer präsentiert Crăciun ihre unheimlich wohlrecherchierten Untersuchungen zur Verarbeitung historischer Dichtergestalten in zeitgenössischen Dramen deutschsprachiger Schriftsteller, die man wohl in Anlehnung an die von der Autorin bekundete Selbstironie ruhig sprachpolizeiliche, nein, literaturpolizeiliche Ermittlungen nennen darf.

   Das breit ausgerichtete Forschungsgebiet wird u.a. durch die oben genannte dreifache methodologische Fokussierung zweckmäßig beschränkt und im Zusammenhang von sechs begrifflich umrissenen existenziellen Spannungsfeldern beleuchtet: der Dichter und die Macht, der Dichter und die Revolutionen, der Dichter und die Massen, der Dichter und der Eros, der Dichter und die Krankheit, der Dichter und der Tod. Keine Sphäre vermag sich den lukrativen Mühlrädern der Interpretation zu entziehen. Alles ist antastbar. Alles ist lehrbar.

Die Autorin hat schrecklich viel gelesen, und sie hat ihre Helden zum Teil sogar persönlich kennengelernt – freilich aber nicht die Helden ihrer Helden. Schon die dreiseitige Danksagung vor dem Inhaltsverzeichnis hört sich so imponierend an (etwa wie eine Art postmoderner Prolog auf dem Theater, oder besser: eine Zueignung) und winkt gleichsam etwaige Bedenken des Rezpienten derart souverän ab, dass einer das Buch gleich einmal unwillkürlich ehrehrbietig neben de Boor oder neben den Duden ins kanonisierte poetologische Wegweiser-Regal stellen möchte. Mit dem Niederschlag Ehrfurcht einflößender Namen, die für seine Bedeutung Zeugenschaft abgeben, will es indes kein Ende nehmen. Sogar ein wenn schon nicht in Goethes Hand, so doch immehin in Martin Walsers Handschrift sozusagen höchstpersönlich dargereichter (an Ioana Crăciun adressierter) Brief wird prompt zur entsprechenden Verortung der hierin vorgestellten Monographie herangezogen: "(...) ich glaube, Sie und ich sind die einzigen, die das Stück ganz verstanden haben". Walserisch.

   Der Dichter und seine Leserin, besser: Der Dichter und seine Interpretin. Sowas mutet ja schon fast wie ein Hexenkreis eingeweihter poetae docti an. Wie das unendlich mühsam ausgeklügelt revidierte Hexeneinmaleins einer hermeneutischen Falle des inszenierten Zitats: Fraß für alte Hasen.

Große Erwartungen werden durch die Zueignung der Danksagung erweckt. Ein erster Entschlüsselungsversuch sei deswegen an dieser Stelle noch nicht gewagt. Der Drang wird spürbar, in die Zirkulation der Ideen eingeschlossen zu werden, die richtigen Antworten zu finden, die richtigen Fragen zu stellen, um den Prozess der Entschlüsselung in Gang zu bringen. Worte wollen durchschaut werden. Besonders hier.

Einer wie du und ich? Ein bisschen steifer: Einer wie Sie und ich? Nein, so demokratisch läuft das keineswegs. Strenge Rechnung, gute Deutung. Zwei mal eins macht zwei. Fast hört man den analytisch gefärbten Flüsterton einer intertextuell Eingeweihten: noch Walserischer als Walser, noch katholischer als der Papst. In einem Wort. Mit kundiger Hand Dichter aufblättern: lehrbar? Es gehört gar viel dazu, die einzigen zu sein. Nicht nur "auf unsern deutschen Bühnen" probiert ein jeder, was er mag, etwa die Entmythisierung des Goethebildes oder eben die Mythisierung eines Walserbriefes.

   Zerknirscht schleicht sich der Durchschittsleser an das Regal, macht sich an die Lektüre des anderthalb Zentimeter dicken Bandes Historische Dichtergesgtalten ..., von dem die Autorin übrigens wie beiläufig angibt, im "Walserischen Geist" geschrieben worden zu sein: "als utopischer Versuch, 'alles' zu verstehen, möglichst wenig zu übersehen oder unbeachtet zu lassen". Alles ist da, aus gutem Grund und mit gut beleuchtetem Hintergrund. Der Zufall hat hier nichts verloren.

Jedes Kapitel, jedes Subkapitel, jedes Rädchen im Getriebe wird in einwandfreier germanistischer Abstimmung mit dem gesamten Projekt formuliert. Alle Einzelheiten müssen stimmen, damit das Ganze stimmt. "Die genannten Werke werden in detailgenauen Analysen interpretiert, wobei nicht nur der geschichtliche Kontext der jeweiligen historischen Dichtergestalten genauestens erörtert, sondern auch der Kontext der Werke der genannten zeitgenössischen Dramatiker eingehend untersucht wird". (Klappentext) Bedacht wird dabei immer wieder das Eine: "die Kluft zwischen Realität und Utopie".

   Wenngleich sich die Formulierung stellenweise aus dem Bestreben heraus, im Rahmen des Erläuterungsprozesses immer wieder zusätzliche Informationen zu bieten, durch ein Übermaß an Determination am Prinzip der Kohärenz versündigt (siehe z.B.: "Viele Künstlerdramen, deren Zahl auf etwa zweihundert geschätzt wird"), behauptet sich diese peinlichst ausgearbeitete Monographie als ein sinnvolles, aufschlussreiches und gegebenenfalls nicht nur für fortgeschrittene Studierende und Fachleute, sondern auch für überdurchschnittlich engagierte und/oder reflexionsfreudige Leser äußerst nützliches wissenschaftliches Werk, das ein gründlicheres Verständnis der einschlägigen Bedeutungskonstellationen ermöglicht. Auch wird Ioana Crăciun ihrem in der Einführung präsentierten Vorsatz durchaus gerecht, die von ihr aus neuartiger Perspektive in den Raum der Betrachtungen gestellten Texte konsequent vermittels des hermeneutischen Instrumentariums der literarischen Postmoderne zu untersuchen.

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