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Vorstoß ins Ausklammerungsgut
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Pfadfinder und Geldverlierer aus dem anderen Österreich

"Googelt, so viel ihr wollt, und postet, worüber ihr wollt; aber gehorcht!"
(Seine Majestät der Online-König)

Von Vasile V. Poenaru
(27. 11. 2011)

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Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com

geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Lebt
in
Toronto.

 

 

   "In Acht und Bann!" brüllten die kräftigen Marktschreier der dann später allerdings trotz überaus großzügiger staatlicher Aufwendungen mit einem lauten Knall Pleite gegangenen multinationalen k. and k. Corporation aus Leibeskräften, als die erweiterte Liste der Ausgeklammerten in ihrer jüngst aktualisierten Form auf dem im eidgenössischen Stil errichteten Großen Gemeinplatz geistiger Landesverteidigung vorgelesen wurde. Und dann kam auch gleich die Geldschwemme – vom Mittelmeer direkt in die Salzach. Niemand wusste wie. Doch niemanden wunderte es. Der Inn nahm den größten Teil des peinlichst gewaschenen und gebündelten Geldes etwas verwundert (dafür aber umso dankbarer) in sein Bett, genauer gesagt, in seine schweizerisch-österreichischen Wasser auf und leitete all die klirrenden Wirbel strömender Finanzpracht jenseits der österreichisch-deutschen Grenze in die von ihm souverän überströmte Donau, die sämtliche ihr sozusagen einverleibten Beträge freundlicherweise wieder tunlichst zurück ins gute alte Österreich brachte, um sie nicht ohne ein gewisses politisch korrektes Hin und Her schließlich über die Krümmung Lentos und die Hauptstadt der Musik (und nach einer Reihe von diskret beim ungarischen Brudervolk getätigten Not-Überweisungen) im ungeachtet aller Protestbewegungen der internationalen Pelikane und Kormorane längst zwangsprivatisierten rumänisch-österreichischen Donaudelta jenseits der großen Osmose-Banken unserer Endzeit möglichst sinnvoll versickern zu lassen. "Kapital? Wässrig!" brüllte ein gerade mal durstiger Spitzenmanager aus New Vienna auf der ständigen Krisen-Konferenz in Walachei City. "Olopoulos!" brüllte sein Lieblingsanwalt zurück. "Wässrig!" brüllte der Manager erneut. "It’s the flow of money, stupid!" entgegnete ein sprachlich gewandter Spitzenpolitiker vom Danube Channel Stream, und leerte sein Glas in einem Zug, obwohl der Obstler ziemlich stark war. "It’s the streamlining, hon!" flüsterte seine Frau, und verkündete auch gleich mit sanfter Stimme die Prinzipien des Donaubaches, einer kleineren Privatdonau jenseits der sogenannten Wienzeile, wo jeder rechtschaffene Investor seine Interessen gemächlich-lukrativ kanalisieren darf. In langatmigen Sätzen berichtete die Presse von diesem Liquiditäts-Ereignis.

Hunderte absolut rechtschaffene und mehr oder weniger kaufkräftige Investoren reihten sich im Nu um die Marktschreier, besonders auch weil die gerade so and die fünftausend schicke Drei-Euro-Aktien unter dem andauernd wie von den Baronen der Konjunkturprogramme geheißen brav spekulierenden Bettelvolk verlosen wollten. Doch der Schatzmeister der k. and k. Corporation hatte sich sehr zum Ärger der Investoren (wie erst jetzt bekannt wurde) schändlicherweise mit den allgemein begehrten Drei-Euro-Aktien aus dem Staub gemacht. Eine Geldspur im eigentlichen Sinne gab es zwar nicht, wobei die breite Schuldenspur freilich kaum zu übersehen war. "Geldspur im negativen Sinne?" fragte ein ideenreicher Privatphilosoph aus Bischofsberg – und holte gleich sein österreichisch-kategorisches Imperativ hervor; gedruckt auf allerfeinstem Papier. "Handle immer so, dass du wollen kannst, dass die gehandelten Aktien möglichst für alle (jedenfalls aber für dich selber) zu einer adäquaten Ausschüttung führen. "Kann das sein?" fragte sein Lieblingsstudent – und holte sich auch gleich einmal ein Empfehlungsschreiben für künftige Aufenthaltsstipendien im Rich Man’s Square. Drei vereidigte Schmeichel-Experten lobten seine Gedankentiefe. "Bringschuld!" sagte der begeisterte Student noch, und die Polizei suchte promt nach Schuldnern. "Integrationsfaul!" hieß es dann bald, da zufälligerweise gerade ein paar Türken vorbei marschierten, die nicht so fleißig aussahen. Gemeinsam mit seinen mutmaßlichen Helfershelfern sollte der Schatzmeister der k. and k. Corporation nun in Gewahrsam genommen werden, so der Steckbrief.

   "Rette, wer kann!" beschwor der Vizekönig von Spiegel Online (im bekanntlich leider nur allzubald vom missmutigen König, seinem Boss, ins abwegige Forum gebannte Editorial) einen möglicherweise ja gerade in der Menge anwesenden oder eben bald anreisenden Retter. "Ja wer kann denn?" fragten die Leser, nein, die Surfer auf den brausenden Wogen der Rezession, und googelten promt Rettenkönnen, Erlösung und Insolvenz-Verfahren. "Hier geht’s entlang, bitte!", klärte der Privatphilosoph alle Welt auf. "Die Krise der Währung, das ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten ... Nein, die Krise in der ethischen Bewährung, das ist die ... Nein, der Ausgang ... oder der Eingang ... Ach, was für ein Mist! ..." Die Schmeichel-Experten klatschten Beifall, schmeichelten (natürlich), lobten – bisweilen sogar fast aufrichtig, ja weinten vor Freude. "Also das hier ist der Ausgang", fügte der Philosoph nickend hinzu, und ging weg. Rettenkönnen, Erlösung, Insolvenz-Verfahren, Ausgang, weg tippten die Surfer. "Googelt, so viel ihr wollt, und postet, worüber ihr wollt; aber gehorcht!" brachte es der Online-König majestätisch auf den Punkt.

"Vive la liberté!" versuchte keine drei Sekunden später ein seit mehreren Tagen bundesweit gefahndeter, rundlicher Bankmanager mit langjähriger Frankreich-Erfahrung am Fuße des Mönchsbergs der nahenden Verhaftungswelle vorzubeugen. Ein Tambourmajor der älteren Generation marschierte mit seinen frisch gemusterten und vorzüglich uniformierten Burschen auf. "Schießt die Verräter über den Haufen!" befahl ihnen ein anonymer Devisenhändler aus der Erweiterungszone, der zu seinem Entzücken in einem am Straßenrand geparkten Streifwagen gerade ein paar bestens funktionierende Lautsprecher gefunden hatte, die er auch gleich einsetzte. Dann gab er seinem in Dublin preisgünstig erstandenen Trojanischen Pferd die Sporen und stieß im Wegreiten noch wie beiläufig ein Bündel entwerteter Olympia-Bonds ab. Wenn die geizigen Österreicher jetzt mal schnell mit ein paar zusätzlichen Milliardchen ("nur so, als Bürgschaft") nachhelfen, kommt die Irish Woman, eine stattliche Frau aus dem Norden, so sein Knappe, der ebenfalls gut beritten war und natürlich ebensoschnell das Weite suchte, da ihn eine zahlreiche Gruppe gerade wieder mal vor dem Salzburger Dom herumlugernder grimmiger Bayern, der ewigen innerdeutschen wie innereuropäischen Solidaritätszuschläge müde, kurzerhand lynchen und gleich einmal auch seinen Gaul schlachten (oder "abwracken") wollte – denn Salami sei immer noch Salami. Was danach so alles geschah, ist kein Geheimnis. Die Bayern wurden lauter, besser gesagt, sie wurden noch lauter: "Real democracy statt corpocracy! We are the 99%!" Und dann: "Occupy the Mönchsberg!"

"Links um!" brüllte der Tambourmajor. Die Bayern eilten zum Bosna-Stand in der Getreidegasse, um sozusagen als Entschädigung für ihr Mönchsberg-Versagen wenigstens diesen, den Bosna-Stand, zu besetzen, das Soldatenvolk schulterte die Flinte mit grimmig-gedrilltem Blick und zahlreiche Exponenten der freilich ohnehin mittlerweile in großen Haufen abdankenden Sozialdemokratie bangten um ihr Leben, mehr, um ihr Gedankengut.

   Wer’s nicht weiß, möge sich einen Steckbrief kaufen. Da! In der Trafik. Es sind noch drei übrig. Jawohl, Steckbriefe kann man kaufen. Nur immer ran! Es sind noch drei, nein, jetzt sind noch zwei übrig. Steht alles drin: Wie man zum Finanzamt gelangt. Wie man in den Sog gerät. Wie man den Notdienst anruft. Und was man so alles tun muss, um lieber doch nicht hinzukommen. Und wie man, ist man schon eben einmal drin, wieder rauskommt – ja wenn man da überhaupt noch je einmal wieder rauskommt. Wer’s nicht weiß, der nehme sich in Acht.

Aber auch wer’s weiß, sollte sich den Steckbrief kaufen. Und sei es auch nur ein einziges Mal. Nur die heutige Nummer. Nur wenn er, sie, es genügend Zeit hat, bevor der berüchtigte Bezirksinspektor Stocki direkt aus der Irrealität der Stockinger-Serie in die Irrealität der Salzburger Festspiele umsteigt, wo der Jedermann-Rufer, durch geschickt ausgearbeitete Fernsehkünste gerissener Fernsehleute seinem zeitlichen Kontext entrückt, unentwegt auf vielfacher Ebene ermordet wird; bevor im Salzburger Dom die Glocke mit einem veränderten Klang schlägt und der Getreidegassenbummel so richtig anfängt: die eigentliche Stunde der wahren Empfindung. Nur wenn’s ganz reibungslos geht. Ohne Skandal, ohne Qual, ohne Zwang, ohne Drang, aber natürlich mit Sinn und Klang. Wie ein triftiger Schluss. Wie ein höflicher Gruß. Nein, wie ein Gebet. Ein durchdringender Flüsterton mit beschränkter Haftung. Als halbherzige Beichte, als widerrufbares Geständnis in die skandalträchtige frische Luft des Bistums geschmissen. "Wir haben nichts davon gewusst. Wir haben nichts davon gewusst." Wir haben nichts davon wissen wollen. Klammer zu. Und dann die Erleichterung: "Was immer auch passiert sein mag, im fernen Irland war’s." Mehr Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit? Garantiert! Garantiert haltbar.

   Oder am besten, man liest nur den Wirtschaftsteil. Denn dann ist man jedenfalls hinreichend "gegen verschiedene Anfechtungen und Verführungen im Denken gewappnet" (was einst ein berühmter österreichischer Professor über einen unerschrockenen österreichischen Ritter sagte) und weiß so ungefähr, in welchen Korb man wie viele Eier zu legen hat. Dann braucht man sich gar nicht mehr die ganze Zeit umzusehen, damit einem keiner auf die Schliche kommt und die mühsam ersparten Einlagen oder den mühelos erworbenen Grundwortschatz mit einem Strich durch die Rechnung weggabelt. Kurzum: Wer was weiß, der weiß was. Denn wer’s weiß, hat ja das geheime Alphabet schon gesehen.

"Es geht nach vorne!" befahl der Tambourmajor. Hinter seinem Rücken aber kritzelte ein sprachlich begabter und offensichtlich auch theatralisch veranlagter Tourist geheimnisvolle Worte an die Mauer, von denen außer EUROPA LEBENDIG IN SALZBURG nichts verständlich war. "Ein Menetekel!" schrie die Menge. "Wie im ORF angekündigt. Holt den Propheten!" Die Zukunft Europas, ein Menetekel sagte nämlich einst der Salzburger Prophet des österreichischen Wegs in die Mitte, als er sich an einem sonnigen Julitag gerade mal nichts besseres einfallen ließ. Und er zeigte dabei mit seinem immerhin ziemlich tolerant gezogenen Schwert auf die klebrigen Wände des Mozarteums, eine erloschene Fackel in der linken Hand, die allerletzten Tage der Menschheit im Sinn, die brennende Zigarette im Mund, das A und O der Schlagfertigkeit im Sack. Und dann machte er sich daran, ein etwas längeres Wort in ganz fürchterlicher (und das heißt hier vor allem furchterregender) Art und Weise zu buchstabieren. Die meisten Passanten liefen so schnell wie möglich davon, als sie es hörten, denn die Ohren taten ihnen sehr weh. Später hieß es, das dermaßen ohrenbetäubende und sicherlich deswegen in höheren Gefilden zum Genuss kommender Generationen aufgehobene Wort müsse wohl entweder "Unwirklichkeit" oder aber, noch wahrscheinlicher, "Unwirtlichkeit" gewesen sein.

   Die einen ahnen’s, die anderen wissen’s: Das geheime Alphabet wurde vorgestern ins Ausklammerungsgut verlagert. Durch allerobersten Gerichtsbeschluss. In dreißig riesigen Lastwagen. In tiefster Nacht. Und natürlich auch in tiefster Andacht. Kein einziger Buchstabe, kein Umlaut ging verloren. "Wird von nun an alles sauber aufbewahrt", verriet ein mit einem altösterreichischen Schießgewehr bewaffneter, langjährig bewährter Aufbewahrer der Dinge, die früher mal waren. Im Moment werden aber gerade mal wieder Ikonen groß geschrieben. Und Aktien. Und Rendite. Und Rettungspakete. Und Prämien. Und Begnadigungen. Und die Erlösung der Konsumgesellschaft. Gewinne privatisiert, Verluste sozialisiert? Und Ob! "Die Spedition kümmert sich um alles", fügte der Mann hinzu, bevor sich die Tore des Ausklammerungsguts quietschend hinter ihm schlossen. "Alles privatisiert. Immer nur hierbleiben. Es ist ein gutes Land."

Mehrere (mit allerschärfsten Rasierklingen der Firma Ocam & Ocam) frisch rasierte Professoren bestätigten es anhand weit ausholender Vorlesungen zur Methodologie der wissenschaftlichen Landeskunde. Ihre Beweisführung? Austriazismus. Historizismus. Ästhetizismus. Pluralismus. Kulturismus. Jaja, Muskelkraft und Integration.

"Das ist so", erklärte ein extra von der Akademiestraße herbeigeeilter, unter anderem auch körperlich gebildeter, hilfreicher Hilfsassistent der multimedialen Mediävistik, "in alten Schriften wird behauptet, Parzival habe vor fast tausend Jahren nichts anderes als dieses Land gesucht, nachdem er es angeblich zuerst durch Zufall gefunden und dann freilich bald wieder verloren hatte, und auch den Nibelungendichter zog es offenbar hierher, als er seine Märe "von küener recken strîten" niederschrieb. Manche meinen freilich, man müsse weiter nördlich danach suchen, an einem unheimlichen Ort, wo Ritter, Tod und Teufel ihr Unwesen treiben, der Ritter natürlich – wo sonst? – auf seinem preiswerten Trojanischen Pferd. Andere wiederum behaupten, "was es nach bestem Wissen und Gewissen nicht geben kann, sollte auch keiner suchen." Dem Rektor aber waren diese Erläuterungen nicht gut genug. "Das ist so!" herrschte er den auf einmal ganz hilflos aussehenden Hilfsassistenten an, "Bologna! Bologna! Bologna! Klar?"

   Im Vertrauen: Das Ausklammerungsgut ist eine mittelgroße Landstrecke jenseits der Festspielstadt Salzburg, innerhalb derer sich alles ausklammern lässt, was nicht mehr so recht ins Konzept passt. Sogar der Chef des Wiener Bundeskriminalamtes wurde hier auf einer kleinen Insel der geheimen Binnenseeregion mitten in der Nacht so ganz ohne Proviant abgesetzt, weil er sich laut eigener Aussage "nicht korrumpieren ließ". Die Innenministerin behauptete freilich, er habe zum Zeitpunkt seiner Verbannung in Wirklichkeit einen stattlichen Brotlaib und drei Wasserflaschen bekommen, obwohl er als erwiesener Nestverschmutzer nicht einmal das verdient hätte. "Scham di", sagte die Innenministerin noch in Richtung des abgesetzten Chefs des Bundeskriminalamtes, der freilich dank allermodernster Verbannungstechniken bereits weg war und sich wohl auch sonst kaum geschämt hätte, sondern vielmehr in Wut geraten wäre. Die Behauptung der Kommission des Europarates, Polizei und Staatsanwälte stehen in Österreich unter "starkem politischen Druck", wies die Ministerin entschieden zurück. Das Ausklammerungsgut hingegen pries sie als eine vorzügliche Zone der proaktiven Zusammenarbeit und Transparenz.

Es gibt da nämlich eine vollautomatisierte Wunderklammer, die entweder mit dem Fuß oder ohne weiteres auch mal durch Fernsteuerung betätigt werden kann. Die Computerlinguisten haben lauter logisch-philosophische Subroutinen eingebaut, unter anderem mehrere "Nein"- und "Obwohl"- Konglomerate, um die man behutsam herumfahren muss. Und natürlich auch einen "Ungeachtet dessen..."-Block. Was sich ja viele in der Art nie hätten einfallen lassen.

Das läuft so: Ein staatlich vereidigter Ausklammerungsexperte murmelt drei kanonisierte Ausklammerungssprüche vor sich hin, schließt die Augen, hebt die Arme, wischt sich mit dem möglichst unbenutzten Taschentuch den Schweiß von der Stirn, drückt den Knopf, holt Atem, hält seinen Atem, seufzt dreimal recht inbrünstig, und sieh einer an! Es ist vollbracht. Die Ausgeklammerten finden nie wieder den Weg zurück zum Rampenlicht. Und eine tolle englische Band vergangenheitsbewältigender Hooligans spielt im Auftrag der Österreichischen Gesellschaft für Literatur den aus öffentlichen Mitteln finanzierte, heutzutage über allen Gipfeln so beliebten Song Austria redefined: "But that wasn’t true... true, true, true!..."

   Erfunden wurde das Ausklammerungsgut von einem hartgesottenen Herausgeber, Essayisten und Sprachpolizisten, der sein Zelt anno 1991 in der Nähe des Hauptbahnhofs aufgeschlagen hatte (auf der Ernest-Hemingway-Gasse oder so) und zu dem in den guten alten Zeiten ungehemmter Kulturförderung jeden Tag noch mehr Schriftsteller gingen als zum Sozialamt, weil seine aus öffentlichen Mitteln reichlich subventionierte Literaturzeitschrift ohne weiteres für ein Kilo Text ein Kilo Euro (besser gesagt Schillinge, aber das ist schon lange her) vorzuschießen pflegte. Aus Versehen gerieten dann freilich an einem sonnigen Montagnachmittag Manuskripte und Eurobündel leider trotz der unentwegten Bemühungen sämtlicher diensthabender Verlagsburschen ziemlich durcheinander. So nahm das Ende seinen Anfang.

Papier sei nämlich immer noch Papier, meinte später ein ehemaliger papierkundiger Mitarbeiter, bevor er gefeuert wurde, weil er einmal in einer in Goldfaden gebundenen Luxusausgabe den bestimmten Artikel mit dem unbestimmten verwechselte. Und Literatur stinkt nicht, wie es so schön heißt, meinte ein anderer. Schon Derrida hat sich übrigens im Rahmen seiner semiotischen Studien der aufmerksamen Lektüre von Geldscheinen hingegeben, wusste ein dritter zu berichten. Signifikat. Signifikant. Markant. Rasant. Und schon ging’s weiter zu Immanuel Kant. Denn das Führwahrhalten! ... Ja das Führwahrhalten, das war ... das war ... ja ... "But that wasn’t true..."

Ein literaturkritischer, nein, ein finanzieller Skandal: Geldpapier und ordentliches Papier waren nicht mehr zu trennen.Wieso es keiner rechtzeitig gemerkt hatte? Niemand vermochte das zu erklären. Während der Mittagspause kann freilich jederzeit alles passieren, weil ja dann alle essen gehen. Drei Hunderter wurden jedenfalls promt vom erstbesten Lektor eingesehen, vom erstbesten Redakteur redigiert, vom erstbesten Korrekteur korrigiert und darauf ohne viele Anstalten als Seite drei, Seite vier und Seite fünf der Zeitschrift veröffentlicht – gleich nach dem wieder mal strenggenommen ein bisschen verwahrlosten Editorial. "Damit erkläre ich die – freilich nicht mehr stattfindenden – Olympischen Spiele in Salzburg für eröffnet!", so der letzte Satz des weltoffen und umweltverbunden, auf seinem Ehrenpreis für Toleranz sitzenden Herausgebers der literarischen und kritischen Zeitschrift Tour und Tick.

   Der erste Hunderterschein war natürlich ein hundertprozentig österreichischer. Denn – Toleranz hin und her – wir sind Österreicher. Oder wie’s vor hundert Jahren so schön hieß: Mir sein mir. Kurz, Patriotismus ist die Seele des Vaterlandes. Und der Rückgrat. Und die Rückversicherung – auch jenseits der Finanzen. Gemütlichkeit im Superlativ: rotweißrotweißrotweißrot. Oder rot, ich weiß, rot, wie der Dichter einst sagte. Die Olympischen Spiele? Total eröffnet.

Der zweite war ein deutscher, und der dritte ein französicher, der aber freilich aus Genf kam – direkt von der Credit Suisse eingeflogen. Zusammen mit einem Rad Käse und etwas Süßem. Das nennt man internationale Konjunktur. Vier stämmige, staatlich anerkannte und vom Landeshauptmann reichlich dekorierte Epigonen aus der Nähe des alten Keltendorfes in Hallein machten sich daran, zu dichten, nein, zu singen: "Money, money, money, must be funny…"

"Aber ja doch! Geld macht Spaß!" frohlockte der Bürgermeister, und alle Welt grinste beglückt. Als die dem Vertrieb beschiedenen Zeitschriftenbestände vom Untersberg in die vier Winde verweht wurden, freuten sich Abonnenten, Literaturkritiker, Studenten, Doktoranden und allerlei Schmarotzer, die ebenfalls gerade wieder einmal ohne hinreichendes Lesematerial in der Gegend weilten. Ganz spontan wurde ein Festspiel veranstaltet. Diesem Dings aus Wien zu Trotz, der immer nur die Hofburg als Wahrzeichen gelten lassen will. Und dann noch eins! Und noch eins!

   Die Trompeter bliesen gerade, was das Zeug hielt, um das Vaterland und die Vaterstadt entsprechend zu ehren, als ein berittener Südamerikaner österreichischer Nation (wie ihn die Blätter nannten) die Festung Hohensalzburg stürmte, mehrere besonders gefährlich aussehende Touristen (nicht aber die weiblichen, denen er vielmehr die Hände küsste, da er gerade mal wieder sowas wie einen inneren Drang zur Entäußerung verspürte) von oben mit Steinen bewarf (obwohl das ja ausdrücklich verboten ist) und dann gemächlich den gar nicht so langen Weg zum Untersberg einschlug, da er dort eine noch größere Erhöhung vermutete. Alle Verräter des Vaterlandes und alle Anhänger, Befürworter oder PR-Leutchen extremistischer Organisationen wurden von ihm ins Visier genommen, während er die Moosstraße auf seiner reichlich mit Chili beladenen südamerikanischen Lieblingsstute entlang ritt – besonders diejenigen, die bereits gestorben waren und nicht mehr vor Gericht klagen konnten.

Es handelte sich laut mehreren anwesenden Literaturkritikern um einen gefährlichen Wörterschmuggler, der von sich selber behauptete, Übersetzer, Essayist und promovierter Konkneipant zu sein. Früher hatte er sich einmal aus lauter Verzweiflung zum Verfassen eines Gedichts bewegen lassen, da er von starkem Kopfweh geplagt wurde, das Gott sei Dank bald durch die gleichsam therapeutische Veröffentlichung eines erbaulichen Vierzeilers in der Zeitschrift aller Salzburger und Österreicher und Vertreter deutschsprachiger Ausdrucksweise im weitesten Sinne zu seiner großen Überraschung im Handumdrehen gelindert wurde; und von da an wollte es mit dem Schreiben kein Ende mehr nehmen.

Wie dem auch sei: Der österreichische Südamerikaner haute wie ein rasender Roland im Museum des Mittelalters um sich herum und machte sich anschließend daran, sämtliche Euro zu beschlagnahmen, die angeblich durch einen Missstand vergeudet worden waren, den er als Größenwahn gewisser im Kulturbetrieb randalierender Typen beschrieb. Ein Rettungspaket in Wert von 170 Millionen Euro beanspruchte er unverzüglich im Namen der zahlreichen akademischen Einrichtungen, die andauernd leer ausgehen mussten, als der mehr oder weniger wohlwollende Staat in fetten wie mageren Jahren die Kohle verteilte. Er bekam aber nichts (das heißt, ein ansehnliches Zertifikat bekam er schon), und es wurde aus vollen Zügen weitergefeiert. Die Marktschreier schrien: "Kann man nichts machen ...." Und dann: "Servus Komma Österreich!" Denn das Komma gehört dazu.

   Ein riesiger Erfolg war’s. Die Leute jubelten und schwenkten den Hut. Die Pferde, die man bisweilen mit oder eben ohne ritterlicher Last an der Moosstraße entlang stolzieren sieht, wieherten feierlich und die Hunde wedelten mit dem Schwanz. Die Touristen klatschten Beifall und schossen Fotos, indes die Kriminalpolizei aufs Geratewohl in die Luft schoss und dabei bedauerlicherweise einen Adler erlegte, der eigentlich unter Natur- und Patriotismusschutz stand. Die Verkehrspolizei aber sperrte die A1, um zu verhindern, dass gar zu viele Exemplare der nun plötzlich weit und breit durchaus als lesenswert geltenden Literaturzeitschrift die Stadt und das Land Salzburg verlassen. Spürhunde mit allerbesten Empfehlungen wurden vorbeugend bis weit ins benachbarte Oberösterreich eingesetzt, eine breit angelegte internationale Ermittlung ausnahmsweise unter der Leitung des bayerischen Ministerpräsidenten in Wege geleitet, noch bevor ersichtlich wurde, ob und wann es was zu ermitteln geben werde. Der Bürgermeister war äußerst aufgebracht, als man ihn weckte, und verwendete mehrere aussagekräftige Worte, die allerdings besser woanders hin passen. Experten der Zweiten Bank berechneten den Schaden, der sich schätzungsweise auf zwölftausend Seiten erhob, wie es aus erster Hand hieß.

In der Wirtschaft gab’s bald keinen Schnaps mehr, weil verständlicherweise sehr viele Leser angesichts des durchaus erhabenen Augenblicks metalinguistischer Eurostärke mal so richtig feiern wollten. Man demonstrierte eine halbe Stunde lang vollkommen nüchtern in der Altstadt und stieg dann den Hang hinauf, um den Durst zu stillen. Auf dem Mönchsberg gab es dabei zwar freilich immer noch mehrere Fässer Glühwein, aber leider nun eben keine Becher mehr. "Becher! Mehr Becher!" verlangte ein lokaler Dichter. "Nix da!" antwortete der Berg (war wohl eine Sprechanlage, doch es hörte sich so an wie der Berg). Bei Spar und Billa war ebenfalls gleich alles ausverkauft. Ein Hubschrauber der Salzburger Sparkasse musste einen Haufen zum Teil nagelneuer und zum Teil eben leider billiger und gebrauchter Konsumgüter in die Salzach werfen, aus der sie die geschickten Fischer vom Austrotel geschickt heraus angelten, um sie an die Haushalte weiterzugeben.

   Dutzende Finanzinstitute hissten die weiße Fahne. In staatlichen wie in privaten Druckereien wurden tonnenweise Euroscheine gedruckt, um die Wirtschaft angeblich in Schwung zu halten. Die Inflation wucherte. Jeder sprach über Geld und Gemüt und Geist und Philosophie und Liebe und Leben – und über die materialistische Anschauungsweise der Dinge, mit der aber keiner was zu tun haben wollte. In Wien schaute man an höherer Stelle entsetzt in die Bücher und strich vorläufig ein paar der wesentlichen Sozialleistungen. In Bruxelles beriet man schnellstens über weitere mutmaßlich angebrachte Rettungspakete. Die dritte, vierte und fünfte Seite lasen Millionen mit allergrößtem Interesse. Literaten wie Laien griffen gierig hinein in die Sagbarkeit der Kultur und der Finanzen. Die Zeitschrift wurde übrigens wenige Stunden später bereits an der Börse in Berlin gelistet. Und dann in New York. Tendenz steigend. "Wo-osz?" fragte Mr. Dax mit seiner angenehm erlabend wirkenden, ruhigen Stimme, als er sich gerade vom Ufer des Mains aus eine Nummer angelte. "Tour und Tick? ... Hmm ... Kaufen? ... Kaufen! ... Joo ..."

Tour und Tick: Redaktion, Beirat, Mitarbeiter: Alles eilte rüber zur Salzach, um die übrig gebliebenen Hefte unter dem wachsamen Blick der Öffentlichkeit gründlich zu waschen. Mehrere Jungs vom Finanzamt sahen die ganze Zeit zu und bestätigten die Hochwertigkeit und zugleich vor allem auch die offensichtliche Gesetzmäßigkeit der ordentlich geleisteteten Säuberungsarbeit. Bei der Notenbank liege nichts gegen die Zeitschrift vor, hieß es bald in einem vertraulichen Schreiben, das leider trotz seines vermeintlich ausgesprochen privaten Charakters keine fünf Minuten nach der vollautomatisierten Erstellung durch die einwandfreie Notenbanksoftware im Runfdunk von mehreren Unglücksjournalisten vorgelesen wurde, die darauf kurzerhand vom Herausgeber der Zeitschrift als größte Deppen ihrer Generation bezeichnet wurden. Ein Kampf entfachte sich, infolgedessen mehrere Zähne durch die Luft flogen und direkt auf dem Tisch eines der besseren Zahnärzte des Bundeslandes Salzburg landeten, der diese unwahrscheinliche Geworfenheit einer überwältigenden Perspektive dazu nutzte, seine These von der Verbissenheit österreichischer Schriftsteller und Schriftstellerinnen angemessen und aufschlussreich zu untermauern. Es fand sich leider auf Anhieb kein Gebiss, in das die Zähne hätten reinpassen können, doch ein mittelgroßes Zahnrad wurde daraus doch noch von einem vorzüglichen Mechaniker im alten Keltendorf bei Hallein hergestellt. Später gelangte das Zahnrad, da es laut mehreren Professoren mit Vollbart ein wichtiges Fundstück aus der Frühzeit des Bergbaus ausmachte, in das moderne Museum österreichischer Antike.

   Die beschimpften Journalisten, die in Wirklichkeit aber erwiesenerweise gar keine Deppen waren, sondern ausgewählte Recken allerbester Maturajahrgänge, kauften sich in der Trafik einen überregionalen Fehdehandschuh und verklagten den streitsüchtigen Herausgeber und Ritter beim obersten Gericht, das aus irgendwelchen Gründen gerade hoch oben auf dem Großglockner tagte. Die Zeitschrift wurde während der nächsten zwei Monate verboten, genauer gesagt, bis zum Erscheinungstermin des nächsten Heftes. Dieser Beschluss vermochte ihm herzlich wenig anzuhaben, gab der Herausgeber in seinem geheimen Online-Editorial bekannt, doch er legte trotzdem gleich voller Wut beim neutralen Verfassungsgericht auf dem Matterhorn Widerruf ein. Das Verfassungsgericht bewahrte freilich seine der kantonalen Politik gerechte traditionelle Neutralität und vertagte eine jedwelche Entscheidung bis zum Erscheinungstermin des nächsten Heftes. Denn es stand zu erwarten, dass sich der Streit bis dann von selbst legen werde. Als Abfindung bekam jeder vorerst mal eine Uhr. Erst da merkte man wirklich, wie spät es war.

Auf der zur Zeit erfreulicherweise in einer nahe gelegenen Konditorei stattfindenden Geberkonferenz beschlossen die machtvollen Kulturbarone der deutschsprachigen Länder, die drei umstrittenen Seiten unter den besonderen Schutz der UNESCO wie des Internationalen Währungsfonds zu stellen, und das nicht nur, weil Geld schon an und für sich schön, kunstvoll und erfolgreich ist, sondern vor allem eben auch gerade wegen der literarischen Qualität des gesamten Betrages. Die Scheine wurden nämlich sowohl in Salzburg als auch anderswo keineswegs etwa bloß im materialistischen Sinne ausgeschnitten und zur Deckung des unmittelbaren Bedarfs an Lebensmitteln, Zigaretten und dergleichen mehr ausgegeben. Nein, sie wurden unter Berücksichtigung einschlägiger Texte, Kontexte, Inter-Texte, Intra-Texte und Metatexte so richtig aus allerlei Perspektive heraus gelesen, gewendet, rezensiert, interpretiert, kritisiert und zum großen Teil sogar in der Schule auswendig gelernt. Wer einen Fehler machte, bekam selbstredend Schläge.

Der Mann ohne Eigenschaften wurde schnell von einem ziemlich kräftigen Schauspieler vorgelesen, der aber freilich mit seiner Kraft nichts anzufangen wusste, Die letzten Tage der Menscheit von einem gerissenen Intendanten inszeniert und die Komödie der Eitelkeit von selbstbewussten Schriftstellern "auf einer ganz leeren Bühne" zum feierlich-nichtssagenden Happening umgestaltet: "Und wir, meine Herrschaften, und wir, und wir, und wir, meine Herrschaften, und wir, und wir, wir haben etwas vor. Was haben wir vor? Etwas Kolossales haben wir vor…".

   Bratkartoffeln wurden serviert, Flaschen entkorkt, bezaubernde Damen präsentiert, die gerade von einer multimedialen Modeschau in Paris Berlin New York zurückgekehrt waren. Dem Jubel der Menge hätte niemand Einhalt gebieten können.

Hier der Bericht aus Tour und Tick: Geklatscht hat man bis in die Morgenstunden. Geheult hat man bis Mittag. Gelacht und gejodelt bis auf Widerruf. Mehrfache Verstärkung zu sich genommen hat ein jeder Schriftsteller mit allergrößter Genugtuung auf staatliche und städtische Kosten. Das Honorar für ein Jahr im voraus kassiert, und dazu sozusagen als Bonus die bisher ausstehenden Gehälter der vorigen Jahre, in denen die Spezies der Schreibenden bekanntlich zahlreiche Nebenjobs hatte verrichten müssen, um überhaupt erst einmal den Bleistift in die Hand nehmen zu dürfen. Sich die Zeitschrift näher angeschaut haben durften ehrlich gesagt viele nun zum ersten Mal – aber so eine Stimmung gibt es ja auch nicht alle Tage oder eben alle Nächte. Geplaudert wurde jedenfalls ganz locker, so wie es früher öfters vorkam. Gegessen, getrunken, die Nationalhymne gesungen – damit die Polemik der Stunde endlich so richtig anfangen mochte. Referate vorgetragen, die man schon immer loswerden wollte. Und Gedichte, weil viele gerade den Nerv der Zeit getroffen zu haben meinten. Sehr viele interessante Sachen wurden ebenfalls gesagt, an die sich allerdings später der allgemeinen vergesslichen Stimmung wegen niemand mehr genau erinnerte.

Aber dann war irgend einmal Schluss damit. Eine berühmte, doch ziemlich hingenommene Klavierspielerin konnte gerade noch die Arie des allgemeinen Untergangs antönen, bevor sie in Ohnmacht fiel. Der Intendant der Festspiele ließ sich im Nu aus gesundheitlichen Gründen entschuldigen, wie sein Sprecher verdächtigerweise kleinlaut kundgab. Die Trommler aber, die gerade noch den Rhythms der ewigen Aufschwungs getrommelt hatten, gingen einfach weg, weil es ihnen jetzt zu spät war. Die Trompeter legten sich hin und hörten den Gesang der Grillen, den sie auf einmal viel besser mochten als früher. Die armen Spielmänner aus Wien, die vor allem wegen der erstaunlich früh aufgebrauchten Mozartknödel hergekommen waren, hatten nun ihrerseits "das langweilige Nest" Salzburg satt und unterschrieben vorbehaltlos einen deftigen Vertrag mit dem neuen Kaiser in Manhattan. Und danach unterschrieben sie einen Vertrag mit dem alten Kaiser in Berlin.

   Der rote Strich zuckte durch den Haushalt. Butter und Honig verschwanden vom Regal, und für Lesungen gab’s nur mehr Streichhölzer, die man dann aber immerhin gegen Zigaretten austauschen durfte. Nur allzu verständlich, sagten sich die meisten der schreibenden Hungerleider, und streckten die Hand nach Streichhölzern aus. Denn so viel Geld war ja trotz der Investitionsspritze auch wieder nicht im literarischen und kritischen Keller am Fuße des Mönchsbergs gehortet.

Jeder steckte sich die Zigarette in den Mund und küsste mit vorbildlicher Nächstenliebe seine Tischnachbarn, die auf einmal gar nicht mehr so blöd aussahen. Den kleinen Brand, der sich dabei aus Versehen entfachte, löschte der extra zu den Festspielen angereiste Förster aus Passau ganz ohne Hilfe der Feuerwehr. Die Rauchzeichen, die eine jüngere Autorengruppe mit der erfreulicherweise zur Verfügung stehenden Decke eines überdurchschnittlich belesenen Sandlers zustatten brachte, konnte man im ganzen Land der Berge deutlich sehen, freilich jedoch keineswegs richtig verstehen. Wahrlich ein Menetekel. Vieles wurde landesweit in Erwägung gebracht, vieles wurde ermessen. Doch das Wenigste kam dabei raus.

Plötzlich schrie ein wütender Mann Mitte vierzig, den sein Schnurbart als Intellektueller zu erkennen gab, eine etwas ältere, ebenfalls intellektuell anmutende Dame an, die nach "Feschisten" Ausschau zu halten behauptete und durch ihren unzeitgemäßen Widerstand gegen längst Verstorbene den historischen Widerstand in Österreich im nachhinein stärken wollte. Es ging grob zu. Aktionslüsterne Kameramänner mehrerer Sender filmten die Auseinandersetzung mit sichtlicher Genugtuung, während die blutlüsternen Paparazzi Fotos schossen. Bald schon gewann der Mann die Oberhand. "Zeter und Mord! Antifeschisten-Bashing!", schrie die Frau verzweifelt, empört, verstört, betört, und der Mann wurde von der anwachsenden Schar politisch korrekter Aktivisten umzingelt. Er schlug nach Leibeskräften um sich herum, polemisierte, rief um Hilfe (aber niemand kam), debattierte auf gut alt Donauschwäbisch, fluchte in mehreren Sprachen und verbeulte viele seiner Widersacher, ein Exemplar der Zeitschrift als Schild in der Hand, ein anderes als Deviseninstrument in der Hosentasche und ein drittes als Lektüre im Rucksack. Der Förster half.

   "Liebe, liebe Leut’, wir sind doch alle Österreicher!", lenkte der ebenfalls zu Besuch hierzulande weilende deutsche Boss aller Grünen ein, der natürlich selber offensichtlich kein Österreicher war, aber durch seinen nichtsdestoweniger ausgesprochen dramatisch inszenierten Auftritt im ganzen Wald großen Erfolg erntete, denn, so ein Nachwuchsautor aus den Bergen, "österreichisch ist, was östereichisch empfindet." Ein Schlichter, der gerade mehrere höchst umstrittenen Knoten (genauer, einundzwanzig) mit seinem völlig rostfreien Schwert zerhauen hatte, kam die Einsenbahnstrecke her geritten und sprach von einem fernen Gral-Bahnhof im Herzen eines Kontinents, den er als nah bezeichnete. Er durfte – von Berufs wegen –schlichten. Inzwischen waren die Kontrahenten des "Feschisten-Streits" mitsamt Gefolgsleuten schon fast auf dem Gipfel. Der schlaue Schlichter schaute nach oben und schlichtete schnell: "Noch nie haben so viele gescheite Leute so hohe Positionen innegehabt." Im Fernsehen: Der Schlichter kann’s. Die beiden Autoren (stimmt, es handelte sich um Autoren, wie ein inzwischen leider Pleite gegangenes Finanzinstitut bestätigte) mussten sich vor allen Anwesenden die Hand geben, verbindlich lächeln, minutenlang in alle vier Himmelsrichtungen winken, möglichst anschauliche Autographe um sich herum schmeißen und sich wie beiläufig verschiedene großzügig dotierte regionale und überregionale Preise zustecken lassen, darunter den Österreichischen Staatspreis für Gemütlichkeit und – weil man schon auf dem Berg war und alles so winterlich aussah – den Rodelpreis.

Nicht nur wurde somit ein blutiger Schriftstellerkrieg glücklich beendet, der das Vaterland in zwei feindliche Lager in Sachen Vergangenheitsbewältigung und Zukunftbsild gespaltet hatte. Ein Ausflug, mehr, eine Expedition wurde auf Wunsch der schnellstens (mit einem tüchtigen postmodernen, postdekonstruktivstischen und postfeministischen Aktionsplan zur Hand) beim Herausgeber der Zeitschrift vorprechenden Frau Alma Mater veranstaltet – unter der Anleitung allerstärkster akademischer Kraftkerle, versteht sich. Sämtliche Studenten, die sich zu benehmen wussten, durften mit. Ziel der Reise sollte die Region Ausklammerungsgut Mitte sein. Die genauen Koordinaten vermochte auf Anhieb weder der Dekan der Philosophischen Fakultät noch der Vorsitzende des Insituts für Geografie anzugeben, denn die wussten sie selber nicht auswendig, aber jedenfalls stehe ein Schild vor der entsprechenden Ausfahrt, damit diese auch ganz bestimmt nicht übersehen werde. Die Ausfahrt ähnelte dabei komischerweise freilich dem Eingang ins Labyrinth zeitgenössischer Autoren, aus dem schon lange keiner mehr rausgekommen war. In unmittelbarer Nähe lag der Flughafen. Gar nicht so groß. Da waren schon viele gelandet, von denen es einst hieß, dass sie eine Zukunft hätten.

   Ein Ritt ins Ausklammerungsgut sollte eigentlich ziemlich leicht vonstatten gehen, hatte der Rektor der Universität in der Großen Aula gesagt, bevor er sein Glas zum dritten Mal leerte. Seine Lieblingssekretärin bestätigte es: "Ritt ins Ausklammerungsgut? Ganz leicht."

Los ging’s. Von den Professoren konnten sich allerdings noch alle ziemlich gut im Sattel halten, wobei es natürlich die Mediävisten infolge der jahrelangen körperlichen Übungen mit Rüstung, Schwert und Pferd am leichtesten hatten, und auch die wohltrainierten Studenten verschiedenster Fachrichtungen galoppierten meist problemlos durch das unwirtliche Niemandsland der unwirklichen Interdisziplinarität, so dass einer schier seine Freude dran hatte.

Als sie ein Stück Weide vorfanden, das ungefähr so aussah, wie man sich das Ausklammerungsgut vorstellen würde, machten alle halt, worauf einer der beleseneren Germanisten unbedingt gleich mit der Vorlesung anfangen wollte. Er ließ sich leider trotz des prächtigen Wetters nicht davon abbringen. Anhand der zur allgemeinen Aufklärung "nur ganz kurz" vorgezeigten bleichen Gebeine einiger in Ungnade geratener Schriftsteller erläuterte er das zugrundeliegende Prinzip des Ausklammerungsguts, dieser österreichischen Erfindung, die wohlgemerkt inzwischen weltweit patentiert und dankbar übernommen wurde.

Seinen Erklärungen konnte man eigentlich recht gut folgen. Was genau von der Zirkulation der Ideen ausgeklammert wird, so der Professor, entscheidet ein Konsortium der Weisen. Wer im Konsortium sitzt, entscheidet ein weiteres Konsortium der Weisen. Dessen Präsident sitzt vor einem riesigen Bildschirm und lässt sich das, was ist, versinnbildlichen. Das, was nicht ist, lässt er sich sicherheitshalber noch einmal verneinen. "Nein, nein, nein!" sagen die Neinsager – und kassieren den Lohn für ihre mühsame Verneinungsarbeit. Der Präsident des zentralen Konsortiums spielt indessen mit der Fernsteuerung und murmelt immer wieder "Nihil est".

   Natürlich wäre es sehr einfach, im Ausklammerungsgut nach der verlorengegangenen Sprachkompetenz der wohldekorierten Journalisten zu suchen, die nicht mehr vom Podium weg wollen, gab ein Sprachkritiker zu bedenken. Es habe keinen Sinn, heutzutage noch irgend etwas ausklammern zu wollen, meinte ein anderer. Denn es sei sowieso irgendwie alles da, ob man es nun wahrhaben will oder nicht.

Auf ein Zeichen des Professors zogen alle ihm untergeordneten Dozenten, Assistenten, Studenten und Delinquenten ihre Notizhefte aus der Hosentasche und begannen nach seinem Diktat zu schreiben: "Österreich ist eine erklärbare Republik, und vor allem auch eine erzählbare Republik! Das Ausklammerungsgut ist Österreichs Seele. Im Ausklammerungsgut leben und schweigen viele Österreicher, die nie so richtig zu Wort kamen, und dazu freilich noch ein Haufen solcher, die sehr wohl zu Wort kamen, sich jedoch leider im literarisch-politischen Zweikampf und/oder im Handgemenge nicht hinreichend zu behaupten vermochten."

"Österreichisch ist, was österreichisch lebt und leibt", fiel ihm der Rektor ins Wort. "Jawohl! Wir alle haben was zu sagen und können das, was wir zu sagen haben, auch ordentlich schreiben", mischte sich darauf ein gerade aus dem Sattel gestiegener Eilbote der Österreichischen Gesellschaft für Literatur ins Gespräch. "Wir sind vielseitig aufgeschlossen und tolerant. Bei uns wird niemand und nichts ausgeklammert."

   Der Mann war natürlich mit dem Vorlesen seiner wohlredigierten Anrede noch lange nicht fertig, doch er sah sich gezwungen, sie angesichts eines auf finanzieller Ebene Ausschlag gebenden Zwischenfalls dramatisch zu kürzen. Ein emsiger Spürhund vom Finanzamt, der auf Wunsch seines Besitzers ungeachtet der durchaus bestehenden allgemeinen Voraussetzung absoluter Rechtschaffenheit auf alle Fälle genauer in die Bücher schaute, um zu ermitteln, ob die Rechnung auch in jenen brenzligeren Angelegenheiten, da sie ohne den Wirt gemacht wurde, stimmte, unterbrach den Eilboten, der es auf einmal gar nicht mehr so eilig hatte, mit seinem kommunikationsfreudigen Bellen. Ein paar Hunderter lagen nämlich vor ihm auf dem Boden. Zwei Leserinnen bückten sich rasch, hoben das Geld auf und steckten es in den Geldbeutel. Der Herausgeber brüllte: „Das ist mein!" Der Besitzer des Hundes brüllte: „Das ist mein!" Der Professor brüllte: "Das ist mein!" Der Eilbote kam erst gar nicht zu Wort, streckte dafür jedoch umso entschlossener die Hände aus.

Aber die Leserinnen wollten das Geld nicht mehr hergeben, sondern behaupteten trotzig, es gehöre nun zu ihrer Privatlektüre. Eine Debatte kam zustande. Mehr als dreihundert Sprecher meldeten sich zu Wort, darunter Volkswirte, Bankiers, internationale Devisenhändler und einfache Räuber. Rechtlich gehöre das Geld ja strenggenommen ganz Österreich, nein, der ganzen Welt, flüsterte ein wegen der mittlerweile verheerenden Rezession sichtlich abgemagerter Jurastudent ins Mikrophon, worauf ihm eine der beiden nun nicht nur kulturell bereicherten Damen natürlich in der Erregung des Augenblicks eine stattliche Ohrfeige vergab. Der Student protestierte. Die Dame beschwichtigte ihn.

   Das Publikum klatschte Beifall. Denn das Publikum mag solche Dinge. Dafür wurde es dann freilich von einem ziemlich erbosten Mann beschimpft, der irgend etwas von der Unsagbarkeit der Dinge sagte. "Ein Außenseiter", ging das Gerücht in der Menge. "Ein Einzelkämpfer". Der Mann sprach viel und sprang oft von einem Thema zum anderen. Nichts wollte ihm passen. "Endlich über alles sprechen!" hatte sein Rechtsanwalt gesagt. Auch zum Nibelungenlied äußerste er sich kritisch: nicht wahrhaftig genug empfunden. Ein neues Lied, ein besseres Lied sei vonnöten, um die Stunde der wahren Empfindung hinreichend zu definieren. Aus Düsseldorf wurde dem Außenseiter darauf schnell ein Haufen Geld zugeschmissen, um sein literarisches Schaffen entsprechend zu ehren, doch der dortige Stadtrat, dem das gar nicht so recht ins Konzept passte, vermochte es rechtzeitig mit Hilfe eines überregionalen Staubsaugers zurück zu kriegen. Später wurde dem Einzelkämpfer dann anderswo ein sogennanter Alternativpreis angeboten, der schließlich auf Wunsch des Preisträgers an Leute ausgezahlt wurde, die man ihrer Zukunft beraubt hatte, anders gesagt an Ausgeklammerte.

Ein freundlicher Schweizer von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, ein fröhlicher Melancholiker, der gerade wieder einmal auf der Suche nach Bäumen oder Ozeanen oder Luft oder Liebe am Grenzzaun der Erkenntnis herum schnüffelte, verteilte an alle Anwesende Schokolade und Geld, um der Wirklichkeit in der Tat ein bisschen mehr Wirtlichkeit zu gewähren. "Es gibt nichts, was nicht irgendwann in irgendeiner Form ausgeklammert wird", sagte er. Das Publikum war entzückt. Darauf setzte er seinen Hut auf, der aber aus der Ferne wie ein Apfel aussah, und fuhr weiter: "Als Wilhelm Tell den nationalen Befreiungskampf der Schweizer gegen euch Habsburger führte ("War ja ein Aufstand gegen seine Hausmacht, nicht gegen das kaiserliche Amt!" schrie jemand dazwischen, doch der Schweizer ließ sich nicht beirren, sondern fuhr einfach weiter, wie die Schweizer es ja oft tun), hätte sich keiner in unserem Land der Kantone oder in euerem Land am Strome träumen lassen, dass wir einmal so gute Geschäfte machen werden. Man muss das Ganze holistisch anpacken. Damals lag sozusagen ein Teil von Österreich außerhalb seiner Grenzen."

"Eigentlich liegt strenggenommen ganz Österreich außerhalb seiner Grenzen", meinte darauf der Herausgeber der nun im Börsenblatt in Fettschrift verzeichneten Literaturzeitschrift, "weswegen auch weltweit immer so viel Tinte und Blut für neuere, frischere, lustigere Standortbestimmungen des sogenannten österreichischen Lebensgefühls vergeudet wird, die niemand wahrhaben will. Die k. and k. Corporation zum Beispiel: Die hatte ja den ganzen Osten im Griff. Von Wien bis Budapest und Bukarest nichts wie freie Marktwirktschaft. Rotweißrotweißrotweißrot." Und dann richtete er das Wort an seinen Freund, den Schweizer, den er unter anderem von der Akademie her kannte. "Was halten Sie von der Dialektik Peripherie-Zentrum?"

"Eigentlich sollten wir uns jetzt ein bisschen zusammennehmen", unterbrach ihn jedoch der Professor. "Sonst kommen wir hier nie wieder raus. Schaut mal! Da oben!"

   Eine Stimme ertönte: "Achtung, Achtung! Alarmstufe Rot! Die Tore des Ausklammerungsguts wurden geschlossen." Jetzt begriffen alle, was das gerade noch so unerträgliche Quietschen zu bedeuten hatte. Die vorderen Reihen bewegten sich dem verschlossenen und gut verriegelten Tor zu. Der Rektor sah schon das unbarmherzige Rad der Geschichte die lange Liste seiner ausgewählten Veröffentlichungen aus dem ohnehin nicht einwandfreien Gedächtnis der Mitmenschen tilgen und schrie, nachdem er noch schnell seinen Sekretärinnen befahl, den ganzen Kram auf feinstem Papier frisch auszudrucken: "Diese Studienreise ist zu Ende! Rette sich, wer kann!" Die meisten Teilnehmer waren schon längst weg. Ein wegen eines verstrauchelten Knöchels zurückgebliebener Dozent korrigierte den Rektor aus einem ethischem Standpunkt heraus: "Sie meinen wohl, rette, wer kann?"

Niemand konnte. Ein weißer Ritter kam dann zum Glück doch noch rechtzeitig über den geheimen Steg hergeritten und machte sich im Nu daran, die Ausgeklammerten seiner rettenden Kritik zu unterziehen: "Schämen solltet ihr euch alle! Wollt das große Wort führen und habt doch kaa Ahnung vom Dudn und Blosn. In solchen Fällen ist das Gesetz unnachgiebig!" Die Leute schämten sich, so gut es ging. Ein paar suchten sogar nach Asche, die sie auch bald in reichlicher Menge in einem nahe gelegenen Bach vorfanden. "Wir wollen zurück ins andere Österreich! Herr Ritter, Sie sehen so tolerant aus! Bitte, bitte!", flehte die Menge. Denn wenn sie schon nach einem unnachgiebigen Gesetz gerichtet werden sollten, so hofften sie doch sehr, dass es ein sanftes sei.

"Erst müsst ihr euch einer grundsätzlichen Umwertung der Werte verschreiben": Also sprach der strenge Ritter. "Ihr seid Verklärer und Verächter. Das hört ab sofort auf!" Mehrere Nachwuchsautoren drängten sich zum Podium: "Jawohl, Herr Ritter!" Seine Anrede wurde auf Tonband aufgenommen und zugleich live bei Ö3 gebracht: "Ich schicke euch allesamt zur Alphabetisierung ins unentdeckte Österreich. Bringt eure bekleckerten Buchstaben! Hier! Frisches Wasser aus der Salzach! Also unbedingt ganz ordentlich waschen!"

"Eine echte Taufe? Mit Worten und Wasser und der ganzen Schuld-Unschuld-Dichotomie? Und all den Dingen dieseits von Gut und Böse? Der ist wohl des Teufels.", murmelte ein Durchschnittsleser aus der Menge. "Sind Sie denn zufälligerweise der Herr Ritter Johann des Todes?" Die Frage blieb unbeantwortet, denn der weiße Ritter hatte seinem Schlachtross bereits die Sporen gegeben. Ein neuer Ausritt ins Ungewisse stand bevor.

   So hätte diese Geschichte geendet, wäre Bezirksinspektor Stocki nicht in allerletzter Minute aus heiterem Himmel erschienen, um wenigstens die verdächtigsten Ausgeklammerten im Rahmen seiner festspielbezogenen Mordermittlungen im Grenzland gründlich zu verhören. Absolute Gerechtigkeit gab es in Österreich allerdings leider trotz des neulich ins Leben gerufenen Korruptionsausschusses immer noch nicht, und zwar ebensowenig wie es absolute Freiheit gab, weswegen er die Sache äußerst raffiniert im Zeichen literarischer, kritischer und kriminalistischer Relativität anpackte und sich unter anderem – wohl auch als Entschädigung für sein eher kümmerliches Gehalt als Beamter – mit allergrößter Genugtuung der genussvollen Lektüre der dritten, vierten und fünften Seite hingab, indes der Mann vom Europarat ungeniert an der zweiten Fassung seines erweiterten Korruptionsbericht schrieb. Und weil beim ORF gerade entschlossen wurde, trotz des strenggenommen ja eigentlich durchaus leidlichen Erfolgs der Stockinger-Serie von nun an mit der frischgebackenen kanadischen "Flashpoint"-Serie vorlieb zu nehmen (vor allem weil es ja schließlich Vancouver war, dem die olympischen Winterspiele 2010 zufielen, und nicht etwa Salzburg, dessen Untersberg es leider selbst dann nicht mit dem Whistler Mountain aufnehmen kann, wenn man aus lauter Lokalpatriotismus den Mönchsberg draufsetzt), waren auch gleich ein paar bis an die Zähne bewaffnete Jungs von der bei Zuschauern ungemein beliebten Toronto Spezialeinheit direkt auf dem internationalen Flughafen Ausklammerungsgut eingeflogen. Just in case. Österreicher und Kanadier sollten gemeinsam den Bildschirm erobern und diesseits wie jenseits der Klammern nach dem Rechten schauen.

Inspektor Stocki hatte übrigens laut einschlägigen Fernsehberichten auf eigene Faust gerade einen internationalen, nein, einen deutsch-österreichisch-liechtensteinischen Skandal aufgedeckt, der ihn bis zuletzt auf Spesen des Justizministeriums und des Unterrichtsministeriums ins gute alte Ausklammerungsgut führte. Der BND unterhielt offenbar jahrelang eine Agentenzentrale im Ausklammerungsgut, um dem Räuber Hotzenplotz auf die Schliche zu kommen, der gemeinsam mit tausendfünfhundert seiner wohlhabenderen Kollegen hohe Beträge bei der Liechtensteinischen Landesbank angelegt hatte. Um der offensichtlich vollkommen unpatriotischen, ja fiskusfeindlichen Steuersünder habhaft zu werden, die weder auf deutschem Grund und Boden noch bei deutschen Banken investieren wollten, erklärte eine Abteilung der Agentenzentrale, die in Salzburg freilich sozusagen auf der anderen Seite der Legalität ihr Dasein fristete, dem Fürstentum Liechtenstein kurzerhand den Krieg; mehrere Kanonen wurden gefeuert und mehrere bisher streng gewahrte Quasi-Geheimnisse wie aus Versehen der breiteren Öffenntlichkeit kundgegeben, doch das Fürstentum gewann schließlich die entscheidende Schlacht vor dem berüchtigten Bosna-Stand in dem Salzburger Getreidegassen-Durchgang (da namhafte Fürsten sich auf Kriegsführung und Geld ja selbstredend sehr viel besser verstehen als irgendwelche BND-Helfershelfer), und die angesichts der Blamage verständlicherweise auf einmal vom Zentrum fallen gelassenen Agenten machten sich schleunigst in einem selbstgebastelten Ballon davon, der sich wie eine Aktie aufblasen ließ, bevor er am Horizont dahin schwebte. Nach dem Sieg der Liechtensteiner Banken setzten sich nun auch die Schweizer zur Wehr – auf geistiger Ebene sowie auch mit Pfeil und Bogen.

   Bald hieß es, die Helfershelfer der fürstlichen Bankiersarmee seien allesamt mit dem beschlagnahmten Geld und den vollautomatisch erstellten und versiegelten Dokumenten im Internet verschwunden, was aber nicht wahr sein kann, denn im Internet verschwindet in Wirklichkeit nichts und niemand. Viele verstecken sich freilich darin, doch deswegen gibt es ja schließlich auch den Inspektor und seine ansehnlichen kanadischen Mitarbeiter. "Jetzt einmal aufrichtig!" So begann sein Verhör. "Was habt ihr vor?" Dunkle Wolken kündeten ein baldiges Gewitter an. "Ja was haben wir denn vor?", fragte ein Hauptverdächtiger in Handschellen. "Haben wir überhaupt was vor?", wagte es ein anderer, während er seine Lesebrille absetzte. "Nicht dass ich wüsste. Es ist ein gutes Land."

Der mehrfach ausgezeichnete, offensichtlich gerade mal wieder diensthabende Epigone mit Filzhut machte sich prompt daran, zu deklamieren: "Wir haben was vor. Wir haben was vor. Was haben wir vor? Etwas Kolossales haben wir vor…" Und dann biss er in seinen Apfel, der freilich von einem Pfeil durchschossen war. Aber es hätte ja noch viel schlimmer kommen können.

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