"In
Acht und Bann!" brüllten die kräftigen Marktschreier der dann später
allerdings trotz überaus großzügiger staatlicher Aufwendungen mit einem
lauten Knall Pleite gegangenen multinationalen k. and k. Corporation
aus Leibeskräften, als die erweiterte Liste der Ausgeklammerten in ihrer
jüngst aktualisierten Form auf dem im eidgenössischen Stil errichteten
Großen Gemeinplatz geistiger Landesverteidigung vorgelesen wurde. Und
dann kam auch gleich die Geldschwemme – vom Mittelmeer direkt in die
Salzach. Niemand wusste wie. Doch niemanden wunderte es. Der Inn nahm den
größten Teil des peinlichst gewaschenen und gebündelten Geldes etwas
verwundert (dafür aber umso dankbarer) in sein Bett, genauer gesagt, in
seine schweizerisch-österreichischen Wasser auf und leitete all die
klirrenden Wirbel strömender Finanzpracht jenseits der
österreichisch-deutschen Grenze in die von ihm souverän überströmte Donau,
die sämtliche ihr sozusagen einverleibten Beträge freundlicherweise wieder
tunlichst zurück ins gute alte Österreich brachte, um sie nicht ohne ein
gewisses politisch korrektes Hin und Her schließlich über die Krümmung
Lentos und die Hauptstadt der Musik (und nach einer Reihe von
diskret beim ungarischen Brudervolk getätigten Not-Überweisungen) im
ungeachtet aller Protestbewegungen der internationalen Pelikane und
Kormorane längst zwangsprivatisierten rumänisch-österreichischen Donaudelta
jenseits der großen Osmose-Banken unserer Endzeit möglichst sinnvoll
versickern zu lassen. "Kapital? Wässrig!" brüllte ein gerade mal durstiger
Spitzenmanager aus New Vienna auf der ständigen Krisen-Konferenz in Walachei
City. "Olopoulos!" brüllte sein Lieblingsanwalt zurück. "Wässrig!" brüllte
der Manager erneut. "It’s the flow of money, stupid!" entgegnete ein
sprachlich gewandter Spitzenpolitiker vom Danube Channel Stream, und
leerte sein Glas in einem Zug, obwohl der Obstler ziemlich stark war. "It’s
the streamlining, hon!" flüsterte seine Frau, und verkündete auch gleich mit
sanfter Stimme die Prinzipien des Donaubaches, einer kleineren Privatdonau
jenseits der sogenannten Wienzeile, wo jeder rechtschaffene Investor seine
Interessen gemächlich-lukrativ kanalisieren darf. In langatmigen Sätzen
berichtete die Presse von diesem Liquiditäts-Ereignis.
Hunderte absolut
rechtschaffene und mehr oder weniger kaufkräftige Investoren reihten sich im
Nu um die Marktschreier, besonders auch weil die gerade so and die
fünftausend schicke Drei-Euro-Aktien unter dem andauernd wie von den Baronen
der Konjunkturprogramme geheißen brav spekulierenden Bettelvolk verlosen
wollten. Doch der Schatzmeister der k. and k. Corporation hatte sich
sehr zum Ärger der Investoren (wie erst jetzt bekannt wurde)
schändlicherweise mit den allgemein begehrten Drei-Euro-Aktien aus dem Staub
gemacht. Eine Geldspur im eigentlichen Sinne gab es zwar nicht, wobei die
breite Schuldenspur freilich kaum zu übersehen war. "Geldspur im negativen
Sinne?" fragte ein ideenreicher Privatphilosoph aus Bischofsberg – und holte
gleich sein österreichisch-kategorisches Imperativ hervor; gedruckt auf
allerfeinstem Papier. "Handle immer so, dass du wollen kannst, dass die
gehandelten Aktien möglichst für alle (jedenfalls aber für dich selber) zu
einer adäquaten Ausschüttung führen. "Kann das sein?" fragte sein
Lieblingsstudent – und holte sich auch gleich einmal ein
Empfehlungsschreiben für künftige Aufenthaltsstipendien im Rich Man’s
Square. Drei vereidigte Schmeichel-Experten lobten seine Gedankentiefe.
"Bringschuld!" sagte der begeisterte Student noch, und die Polizei suchte
promt nach Schuldnern. "Integrationsfaul!" hieß es dann bald, da
zufälligerweise gerade ein paar Türken vorbei marschierten, die nicht so
fleißig aussahen. Gemeinsam mit seinen mutmaßlichen Helfershelfern sollte
der Schatzmeister der k. and k. Corporation nun in Gewahrsam genommen
werden, so der Steckbrief.
"Rette, wer kann!" beschwor der
Vizekönig von Spiegel Online (im bekanntlich leider nur allzubald vom
missmutigen König, seinem Boss, ins abwegige Forum gebannte Editorial) einen
möglicherweise ja gerade in der Menge anwesenden oder eben bald anreisenden
Retter. "Ja wer kann denn?" fragten die Leser, nein, die Surfer auf den
brausenden Wogen der Rezession, und googelten promt
Rettenkönnen,
Erlösung
und Insolvenz-Verfahren.
"Hier geht’s entlang, bitte!", klärte der Privatphilosoph alle Welt auf.
"Die Krise der Währung, das ist der Ausgang des Menschen aus seiner
selbstverschuldeten ... Nein, die Krise in der ethischen Bewährung, das ist
die ... Nein, der Ausgang ... oder der Eingang ... Ach, was für ein Mist!
..." Die Schmeichel-Experten klatschten Beifall, schmeichelten (natürlich),
lobten – bisweilen sogar fast aufrichtig, ja weinten vor Freude. "Also das
hier ist der Ausgang", fügte der Philosoph nickend hinzu, und ging weg.
Rettenkönnen, Erlösung,
Insolvenz-Verfahren, Ausgang, weg
tippten die Surfer. "Googelt, so viel ihr wollt, und postet, worüber ihr
wollt; aber gehorcht!" brachte es der Online-König majestätisch auf
den Punkt.
"Vive la
liberté!" versuchte keine drei Sekunden später ein seit mehreren Tagen
bundesweit gefahndeter, rundlicher Bankmanager mit langjähriger
Frankreich-Erfahrung am Fuße des Mönchsbergs der nahenden Verhaftungswelle
vorzubeugen. Ein Tambourmajor der älteren Generation marschierte mit seinen
frisch gemusterten und vorzüglich uniformierten Burschen auf. "Schießt die
Verräter über den Haufen!" befahl ihnen ein anonymer Devisenhändler aus der
Erweiterungszone, der zu seinem Entzücken in einem am Straßenrand geparkten
Streifwagen gerade ein paar bestens funktionierende Lautsprecher gefunden
hatte, die er auch gleich einsetzte. Dann gab er seinem in Dublin
preisgünstig erstandenen Trojanischen Pferd die Sporen und stieß im
Wegreiten noch wie beiläufig ein Bündel entwerteter Olympia-Bonds ab. Wenn
die geizigen Österreicher jetzt mal schnell mit ein paar zusätzlichen
Milliardchen ("nur so, als Bürgschaft") nachhelfen, kommt die Irish Woman,
eine stattliche Frau aus dem Norden, so sein Knappe, der ebenfalls gut
beritten war und natürlich ebensoschnell das Weite suchte, da ihn eine
zahlreiche Gruppe gerade wieder mal vor dem Salzburger Dom herumlugernder
grimmiger Bayern, der ewigen innerdeutschen wie innereuropäischen
Solidaritätszuschläge müde, kurzerhand lynchen und gleich einmal auch seinen
Gaul schlachten (oder "abwracken") wollte – denn Salami sei immer noch
Salami. Was danach so alles geschah, ist kein Geheimnis. Die Bayern wurden
lauter, besser gesagt, sie wurden noch lauter: "Real democracy statt
corpocracy! We are the 99%!" Und dann: "Occupy the Mönchsberg!"
"Links um!"
brüllte der Tambourmajor. Die Bayern eilten zum Bosna-Stand in der
Getreidegasse, um sozusagen als Entschädigung für ihr Mönchsberg-Versagen
wenigstens diesen, den Bosna-Stand, zu besetzen, das Soldatenvolk schulterte
die Flinte mit grimmig-gedrilltem Blick und zahlreiche Exponenten der
freilich ohnehin mittlerweile in großen Haufen abdankenden Sozialdemokratie
bangten um ihr Leben, mehr, um ihr Gedankengut.
Wer’s
nicht weiß, möge sich einen Steckbrief kaufen. Da! In der Trafik. Es sind
noch drei übrig. Jawohl, Steckbriefe kann man kaufen. Nur immer ran! Es sind
noch drei, nein, jetzt sind noch zwei übrig. Steht alles drin: Wie man zum
Finanzamt gelangt. Wie man in den Sog gerät. Wie man den Notdienst anruft.
Und was man so alles tun muss, um lieber doch nicht hinzukommen. Und wie
man, ist man schon eben einmal drin, wieder rauskommt – ja wenn man da
überhaupt noch je einmal wieder rauskommt. Wer’s nicht weiß, der nehme sich
in Acht.
Aber auch wer’s
weiß, sollte sich den Steckbrief kaufen. Und sei es auch nur ein einziges
Mal. Nur die heutige Nummer. Nur wenn er, sie, es genügend Zeit hat, bevor
der berüchtigte Bezirksinspektor Stocki direkt aus der Irrealität der
Stockinger-Serie in die Irrealität der Salzburger Festspiele umsteigt, wo
der Jedermann-Rufer, durch geschickt ausgearbeitete Fernsehkünste
gerissener Fernsehleute seinem zeitlichen Kontext entrückt, unentwegt auf
vielfacher Ebene ermordet wird; bevor im Salzburger Dom die Glocke mit einem
veränderten Klang schlägt und der Getreidegassenbummel so richtig anfängt:
die eigentliche Stunde der wahren Empfindung. Nur wenn’s ganz reibungslos
geht. Ohne Skandal, ohne Qual, ohne Zwang, ohne Drang, aber natürlich mit
Sinn und Klang. Wie ein triftiger Schluss. Wie ein höflicher Gruß. Nein, wie
ein Gebet. Ein durchdringender Flüsterton mit beschränkter Haftung. Als
halbherzige Beichte, als widerrufbares Geständnis in die skandalträchtige
frische Luft des Bistums geschmissen. "Wir haben nichts davon gewusst. Wir
haben nichts davon gewusst." Wir haben nichts davon wissen wollen. Klammer
zu. Und dann die Erleichterung: "Was immer auch passiert sein mag, im fernen
Irland war’s." Mehr Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit? Garantiert! Garantiert
haltbar.
Oder
am besten, man liest nur den Wirtschaftsteil. Denn dann ist man jedenfalls
hinreichend "gegen verschiedene Anfechtungen und Verführungen im Denken
gewappnet" (was einst ein berühmter österreichischer Professor über einen
unerschrockenen österreichischen Ritter sagte) und weiß so ungefähr, in
welchen Korb man wie viele Eier zu legen hat. Dann braucht man sich gar
nicht mehr die ganze Zeit umzusehen, damit einem keiner auf die Schliche
kommt und die mühsam ersparten Einlagen oder den mühelos erworbenen
Grundwortschatz mit einem Strich durch die Rechnung weggabelt. Kurzum: Wer
was weiß, der weiß was. Denn wer’s weiß, hat ja das geheime Alphabet schon
gesehen.
"Es geht nach
vorne!" befahl der Tambourmajor. Hinter seinem Rücken aber kritzelte ein
sprachlich begabter und offensichtlich auch theatralisch veranlagter Tourist
geheimnisvolle Worte an die Mauer, von denen außer EUROPA LEBENDIG IN
SALZBURG nichts verständlich war. "Ein Menetekel!" schrie die Menge. "Wie im
ORF angekündigt. Holt den Propheten!" Die Zukunft Europas, ein Menetekel
sagte nämlich einst der Salzburger Prophet des österreichischen Wegs in die
Mitte, als er sich an einem sonnigen Julitag gerade mal nichts besseres
einfallen ließ. Und er zeigte dabei mit seinem immerhin ziemlich tolerant
gezogenen Schwert auf die klebrigen Wände des Mozarteums, eine erloschene
Fackel in der linken Hand, die allerletzten Tage der Menschheit im Sinn, die
brennende Zigarette im Mund, das A und O der Schlagfertigkeit im Sack. Und
dann machte er sich daran, ein etwas längeres Wort in ganz fürchterlicher
(und das heißt hier vor allem furchterregender) Art und Weise zu
buchstabieren. Die meisten Passanten liefen so schnell wie möglich davon,
als sie es hörten, denn die Ohren taten ihnen sehr weh. Später hieß es, das
dermaßen ohrenbetäubende und sicherlich deswegen in höheren Gefilden zum
Genuss kommender Generationen aufgehobene Wort müsse wohl entweder
"Unwirklichkeit" oder aber, noch wahrscheinlicher, "Unwirtlichkeit" gewesen
sein.
Die
einen ahnen’s, die anderen wissen’s: Das geheime Alphabet wurde vorgestern
ins Ausklammerungsgut verlagert. Durch allerobersten Gerichtsbeschluss. In
dreißig riesigen Lastwagen. In tiefster Nacht. Und natürlich auch in
tiefster Andacht. Kein einziger Buchstabe, kein Umlaut ging verloren. "Wird
von nun an alles sauber aufbewahrt", verriet ein mit einem
altösterreichischen Schießgewehr bewaffneter, langjährig bewährter
Aufbewahrer der Dinge, die früher mal waren. Im Moment werden aber gerade
mal wieder Ikonen groß geschrieben. Und Aktien. Und Rendite. Und
Rettungspakete. Und Prämien. Und Begnadigungen. Und die Erlösung der
Konsumgesellschaft. Gewinne privatisiert, Verluste sozialisiert? Und Ob!
"Die Spedition kümmert sich um alles", fügte der Mann hinzu, bevor sich
die Tore des Ausklammerungsguts quietschend hinter ihm schlossen. "Alles
privatisiert. Immer nur hierbleiben. Es ist ein gutes Land."
Mehrere (mit
allerschärfsten Rasierklingen der Firma Ocam & Ocam) frisch rasierte
Professoren bestätigten es anhand weit ausholender Vorlesungen zur
Methodologie der wissenschaftlichen Landeskunde. Ihre Beweisführung?
Austriazismus. Historizismus. Ästhetizismus. Pluralismus. Kulturismus. Jaja,
Muskelkraft und Integration.
"Das ist so",
erklärte ein extra von der Akademiestraße herbeigeeilter, unter anderem auch
körperlich gebildeter, hilfreicher Hilfsassistent der multimedialen
Mediävistik, "in alten Schriften wird behauptet, Parzival habe vor fast
tausend Jahren nichts anderes als dieses Land gesucht, nachdem er es
angeblich zuerst durch Zufall gefunden und dann freilich bald wieder
verloren hatte, und auch den Nibelungendichter zog es offenbar hierher, als
er seine Märe "von küener recken strîten" niederschrieb. Manche meinen
freilich, man müsse weiter nördlich danach suchen, an einem unheimlichen
Ort, wo Ritter, Tod und Teufel ihr Unwesen treiben, der Ritter
natürlich – wo sonst? – auf seinem preiswerten Trojanischen Pferd. Andere
wiederum behaupten, "was es nach bestem Wissen und Gewissen nicht geben
kann, sollte auch keiner suchen." Dem Rektor aber waren diese Erläuterungen
nicht gut genug. "Das ist so!" herrschte er den auf einmal ganz hilflos
aussehenden Hilfsassistenten an, "Bologna! Bologna! Bologna! Klar?"
Im
Vertrauen: Das Ausklammerungsgut ist eine mittelgroße Landstrecke jenseits
der Festspielstadt Salzburg, innerhalb derer sich alles ausklammern lässt,
was nicht mehr so recht ins Konzept passt. Sogar der Chef des Wiener
Bundeskriminalamtes wurde hier auf einer kleinen Insel der geheimen
Binnenseeregion mitten in der Nacht so ganz ohne Proviant abgesetzt, weil er
sich laut eigener Aussage "nicht korrumpieren ließ". Die Innenministerin
behauptete freilich, er habe zum Zeitpunkt seiner Verbannung in Wirklichkeit
einen stattlichen Brotlaib und drei Wasserflaschen bekommen, obwohl er als
erwiesener Nestverschmutzer nicht einmal das verdient hätte. "Scham di",
sagte die Innenministerin noch in Richtung des abgesetzten Chefs des
Bundeskriminalamtes, der freilich dank allermodernster Verbannungstechniken
bereits weg war und sich wohl auch sonst kaum geschämt hätte, sondern
vielmehr in Wut geraten wäre. Die Behauptung der Kommission des Europarates,
Polizei und Staatsanwälte stehen in Österreich unter "starkem politischen
Druck", wies die Ministerin entschieden zurück. Das Ausklammerungsgut
hingegen pries sie als eine vorzügliche Zone der proaktiven Zusammenarbeit
und Transparenz.
Es gibt da
nämlich eine vollautomatisierte Wunderklammer, die entweder mit dem Fuß oder
ohne weiteres auch mal durch Fernsteuerung betätigt werden kann. Die
Computerlinguisten haben lauter logisch-philosophische Subroutinen
eingebaut, unter anderem mehrere "Nein"- und "Obwohl"- Konglomerate, um die
man behutsam herumfahren muss. Und natürlich auch einen "Ungeachtet
dessen..."-Block. Was sich ja viele in der Art nie hätten einfallen
lassen.
Das läuft so:
Ein staatlich vereidigter Ausklammerungsexperte murmelt drei kanonisierte
Ausklammerungssprüche vor sich hin, schließt die Augen, hebt die Arme,
wischt sich mit dem möglichst unbenutzten Taschentuch den Schweiß von der
Stirn, drückt den Knopf, holt Atem, hält seinen Atem, seufzt dreimal recht
inbrünstig, und sieh einer an! Es ist vollbracht. Die Ausgeklammerten finden
nie wieder den Weg zurück zum Rampenlicht. Und eine tolle englische Band
vergangenheitsbewältigender Hooligans spielt im Auftrag der Österreichischen
Gesellschaft für Literatur den aus öffentlichen Mitteln finanzierte,
heutzutage über allen Gipfeln so beliebten Song Austria redefined:
"But that wasn’t true... true, true, true!..."
Erfunden
wurde das Ausklammerungsgut von einem hartgesottenen Herausgeber, Essayisten
und Sprachpolizisten, der sein Zelt anno 1991 in der Nähe des Hauptbahnhofs
aufgeschlagen hatte (auf der Ernest-Hemingway-Gasse oder so) und zu dem in
den guten alten Zeiten ungehemmter Kulturförderung jeden Tag noch mehr
Schriftsteller gingen als zum Sozialamt, weil seine aus öffentlichen Mitteln
reichlich subventionierte Literaturzeitschrift ohne weiteres für ein Kilo
Text ein Kilo Euro (besser gesagt Schillinge, aber das ist schon lange her)
vorzuschießen pflegte. Aus Versehen gerieten dann freilich an einem sonnigen
Montagnachmittag Manuskripte und Eurobündel leider trotz der unentwegten
Bemühungen sämtlicher diensthabender Verlagsburschen ziemlich durcheinander.
So nahm das Ende seinen Anfang.
Papier sei
nämlich immer noch Papier, meinte später ein ehemaliger papierkundiger
Mitarbeiter, bevor er gefeuert wurde, weil er einmal in einer in Goldfaden
gebundenen Luxusausgabe den bestimmten Artikel mit dem unbestimmten
verwechselte. Und Literatur stinkt nicht, wie es so schön heißt, meinte ein
anderer. Schon Derrida hat sich übrigens im Rahmen seiner semiotischen
Studien der aufmerksamen Lektüre von Geldscheinen hingegeben, wusste ein
dritter zu berichten. Signifikat. Signifikant. Markant. Rasant. Und schon
ging’s weiter zu Immanuel Kant. Denn das Führwahrhalten! ... Ja das
Führwahrhalten, das war ... das war ... ja ... "But that wasn’t
true..."
Ein
literaturkritischer, nein, ein finanzieller Skandal: Geldpapier und
ordentliches Papier waren nicht mehr zu trennen.Wieso es keiner rechtzeitig
gemerkt hatte? Niemand vermochte das zu erklären. Während der Mittagspause
kann freilich jederzeit alles passieren, weil ja dann alle essen gehen. Drei
Hunderter wurden jedenfalls promt vom erstbesten Lektor eingesehen, vom
erstbesten Redakteur redigiert, vom erstbesten Korrekteur korrigiert und
darauf ohne viele Anstalten als Seite drei, Seite vier und Seite fünf der
Zeitschrift veröffentlicht – gleich nach dem wieder mal strenggenommen ein
bisschen verwahrlosten Editorial. "Damit erkläre ich die – freilich nicht
mehr stattfindenden – Olympischen Spiele in Salzburg für eröffnet!", so der
letzte Satz des weltoffen und umweltverbunden, auf seinem Ehrenpreis für
Toleranz sitzenden Herausgebers der literarischen und kritischen Zeitschrift
Tour und Tick.
Der
erste Hunderterschein war natürlich ein hundertprozentig österreichischer.
Denn – Toleranz hin und her – wir sind Österreicher. Oder wie’s vor hundert
Jahren so schön hieß: Mir sein mir. Kurz, Patriotismus ist die Seele des
Vaterlandes. Und der Rückgrat. Und die Rückversicherung – auch jenseits der
Finanzen. Gemütlichkeit im Superlativ: rotweißrotweißrotweißrot. Oder rot,
ich weiß, rot, wie der Dichter einst sagte. Die Olympischen Spiele? Total
eröffnet.
Der zweite war
ein deutscher, und der dritte ein französicher, der aber freilich aus Genf
kam – direkt von der Credit Suisse eingeflogen. Zusammen mit einem Rad Käse
und etwas Süßem. Das nennt man internationale Konjunktur. Vier stämmige,
staatlich anerkannte und vom Landeshauptmann reichlich dekorierte Epigonen
aus der Nähe des alten Keltendorfes in Hallein machten sich daran, zu
dichten, nein, zu singen: "Money, money, money, must be funny…"
"Aber ja doch!
Geld macht Spaß!" frohlockte der Bürgermeister, und alle Welt grinste
beglückt. Als die dem Vertrieb beschiedenen Zeitschriftenbestände vom
Untersberg in die vier Winde verweht wurden, freuten sich Abonnenten,
Literaturkritiker, Studenten, Doktoranden und allerlei Schmarotzer, die
ebenfalls gerade wieder einmal ohne hinreichendes Lesematerial in der Gegend
weilten. Ganz spontan wurde ein Festspiel veranstaltet. Diesem Dings aus
Wien zu Trotz, der immer nur die Hofburg als Wahrzeichen gelten lassen will.
Und dann noch eins! Und noch eins!
Die
Trompeter bliesen gerade, was das Zeug hielt, um das Vaterland und die
Vaterstadt entsprechend zu ehren, als ein berittener Südamerikaner
österreichischer Nation (wie ihn die Blätter nannten) die Festung
Hohensalzburg stürmte, mehrere besonders gefährlich aussehende Touristen
(nicht aber die weiblichen, denen er vielmehr die Hände küsste, da er gerade
mal wieder sowas wie einen inneren Drang zur Entäußerung verspürte) von oben
mit Steinen bewarf (obwohl das ja ausdrücklich verboten ist) und dann
gemächlich den gar nicht so langen Weg zum Untersberg einschlug, da er dort
eine noch größere Erhöhung vermutete. Alle Verräter des Vaterlandes und alle
Anhänger, Befürworter oder PR-Leutchen extremistischer Organisationen wurden
von ihm ins Visier genommen, während er die Moosstraße auf seiner reichlich
mit Chili beladenen südamerikanischen Lieblingsstute entlang ritt –
besonders diejenigen, die bereits gestorben waren und nicht mehr vor Gericht
klagen konnten.
Es handelte sich
laut mehreren anwesenden Literaturkritikern um einen gefährlichen
Wörterschmuggler, der von sich selber behauptete, Übersetzer, Essayist und
promovierter Konkneipant zu sein. Früher hatte er sich einmal aus lauter
Verzweiflung zum Verfassen eines Gedichts bewegen lassen, da er von starkem
Kopfweh geplagt wurde, das Gott sei Dank bald durch die gleichsam
therapeutische Veröffentlichung eines erbaulichen Vierzeilers in der
Zeitschrift aller Salzburger und Österreicher und Vertreter
deutschsprachiger Ausdrucksweise im weitesten Sinne zu seiner großen
Überraschung im Handumdrehen gelindert wurde; und von da an wollte es mit
dem Schreiben kein Ende mehr nehmen.
Wie dem auch
sei: Der österreichische Südamerikaner haute wie ein rasender Roland im
Museum des Mittelalters um sich herum und machte sich anschließend daran,
sämtliche Euro zu beschlagnahmen, die angeblich durch einen Missstand
vergeudet worden waren, den er als Größenwahn gewisser im Kulturbetrieb
randalierender Typen beschrieb. Ein Rettungspaket in Wert von 170 Millionen
Euro beanspruchte er unverzüglich im Namen der zahlreichen akademischen
Einrichtungen, die andauernd leer ausgehen mussten, als der mehr oder
weniger wohlwollende Staat in fetten wie mageren Jahren die Kohle verteilte.
Er bekam aber nichts (das heißt, ein ansehnliches Zertifikat bekam er
schon), und es wurde aus vollen Zügen weitergefeiert. Die Marktschreier
schrien: "Kann man nichts machen ...." Und dann: "Servus Komma Österreich!"
Denn das Komma gehört dazu.
Ein
riesiger Erfolg war’s. Die Leute jubelten und schwenkten den Hut. Die
Pferde, die man bisweilen mit oder eben ohne ritterlicher Last an der
Moosstraße entlang stolzieren sieht, wieherten feierlich und die Hunde
wedelten mit dem Schwanz. Die Touristen klatschten Beifall und schossen
Fotos, indes die Kriminalpolizei aufs Geratewohl in die Luft schoss und
dabei bedauerlicherweise einen Adler erlegte, der eigentlich unter Natur-
und Patriotismusschutz stand. Die Verkehrspolizei aber sperrte die A1, um zu
verhindern, dass gar zu viele Exemplare der nun plötzlich weit und breit
durchaus als lesenswert geltenden Literaturzeitschrift die Stadt und das
Land Salzburg verlassen. Spürhunde mit allerbesten Empfehlungen wurden
vorbeugend bis weit ins benachbarte Oberösterreich eingesetzt, eine breit
angelegte internationale Ermittlung ausnahmsweise unter der Leitung des
bayerischen Ministerpräsidenten in Wege geleitet, noch bevor ersichtlich
wurde, ob und wann es was zu ermitteln geben werde. Der Bürgermeister war
äußerst aufgebracht, als man ihn weckte, und verwendete mehrere
aussagekräftige Worte, die allerdings besser woanders hin passen. Experten
der Zweiten Bank berechneten den Schaden, der sich schätzungsweise auf
zwölftausend Seiten erhob, wie es aus erster Hand hieß.
In der
Wirtschaft gab’s bald keinen Schnaps mehr, weil verständlicherweise sehr
viele Leser angesichts des durchaus erhabenen Augenblicks metalinguistischer
Eurostärke mal so richtig feiern wollten. Man demonstrierte eine halbe
Stunde lang vollkommen nüchtern in der Altstadt und stieg dann den Hang
hinauf, um den Durst zu stillen. Auf dem Mönchsberg gab es dabei zwar
freilich immer noch mehrere Fässer Glühwein, aber leider nun eben keine
Becher mehr. "Becher! Mehr Becher!" verlangte ein lokaler Dichter. "Nix da!"
antwortete der Berg (war wohl eine Sprechanlage, doch es hörte sich so an
wie der Berg). Bei Spar und Billa war ebenfalls gleich alles ausverkauft.
Ein Hubschrauber der Salzburger Sparkasse musste einen Haufen zum Teil
nagelneuer und zum Teil eben leider billiger und gebrauchter Konsumgüter in
die Salzach werfen, aus der sie die geschickten Fischer vom Austrotel
geschickt heraus angelten, um sie an die Haushalte weiterzugeben.
Dutzende
Finanzinstitute hissten die weiße Fahne. In staatlichen wie in privaten
Druckereien wurden tonnenweise Euroscheine gedruckt, um die Wirtschaft
angeblich in Schwung zu halten. Die Inflation wucherte. Jeder sprach über
Geld und Gemüt und Geist und Philosophie und Liebe und Leben – und über die
materialistische Anschauungsweise der Dinge, mit der aber keiner was zu tun
haben wollte. In Wien schaute man an höherer Stelle entsetzt in die Bücher
und strich vorläufig ein paar der wesentlichen Sozialleistungen. In
Bruxelles beriet man schnellstens über weitere mutmaßlich angebrachte
Rettungspakete. Die dritte, vierte und fünfte Seite lasen Millionen mit
allergrößtem Interesse. Literaten wie Laien griffen gierig hinein in die
Sagbarkeit der Kultur und der Finanzen. Die Zeitschrift wurde übrigens
wenige Stunden später bereits an der Börse in Berlin gelistet. Und dann in
New York. Tendenz steigend. "Wo-osz?" fragte Mr. Dax mit seiner angenehm
erlabend wirkenden, ruhigen Stimme, als er sich gerade vom Ufer des Mains
aus eine Nummer angelte. "Tour und Tick? ... Hmm ... Kaufen? ... Kaufen! ...
Joo ..."
Tour und Tick:
Redaktion, Beirat, Mitarbeiter: Alles eilte rüber zur Salzach, um die übrig
gebliebenen Hefte unter dem wachsamen Blick der Öffentlichkeit gründlich zu
waschen. Mehrere Jungs vom Finanzamt sahen die ganze Zeit zu und bestätigten
die Hochwertigkeit und zugleich vor allem auch die offensichtliche
Gesetzmäßigkeit der ordentlich geleisteteten Säuberungsarbeit. Bei der
Notenbank liege nichts gegen die Zeitschrift vor, hieß es bald in einem
vertraulichen Schreiben, das leider trotz seines vermeintlich ausgesprochen
privaten Charakters keine fünf Minuten nach der vollautomatisierten
Erstellung durch die einwandfreie Notenbanksoftware im Runfdunk von mehreren
Unglücksjournalisten vorgelesen wurde, die darauf kurzerhand vom Herausgeber
der Zeitschrift als größte Deppen ihrer Generation bezeichnet wurden. Ein
Kampf entfachte sich, infolgedessen mehrere Zähne durch die Luft flogen und
direkt auf dem Tisch eines der besseren Zahnärzte des Bundeslandes Salzburg
landeten, der diese unwahrscheinliche Geworfenheit einer überwältigenden
Perspektive dazu nutzte, seine These von der Verbissenheit österreichischer
Schriftsteller und Schriftstellerinnen angemessen und aufschlussreich zu
untermauern. Es fand sich leider auf Anhieb kein Gebiss, in das die Zähne
hätten reinpassen können, doch ein mittelgroßes Zahnrad wurde daraus doch
noch von einem vorzüglichen Mechaniker im alten Keltendorf bei Hallein
hergestellt. Später gelangte das Zahnrad, da es laut mehreren Professoren
mit Vollbart ein wichtiges Fundstück aus der Frühzeit des Bergbaus
ausmachte, in das moderne Museum österreichischer Antike.
Die
beschimpften Journalisten, die in Wirklichkeit aber erwiesenerweise gar
keine Deppen waren, sondern ausgewählte Recken allerbester Maturajahrgänge,
kauften sich in der Trafik einen überregionalen Fehdehandschuh und
verklagten den streitsüchtigen Herausgeber und Ritter beim obersten Gericht,
das aus irgendwelchen Gründen gerade hoch oben auf dem Großglockner tagte.
Die Zeitschrift wurde während der nächsten zwei Monate verboten, genauer
gesagt, bis zum Erscheinungstermin des nächsten Heftes. Dieser Beschluss
vermochte ihm herzlich wenig anzuhaben, gab der Herausgeber in seinem
geheimen Online-Editorial bekannt, doch er legte trotzdem gleich voller Wut
beim neutralen Verfassungsgericht auf dem Matterhorn Widerruf ein. Das
Verfassungsgericht bewahrte freilich seine der kantonalen Politik gerechte
traditionelle Neutralität und vertagte eine jedwelche Entscheidung bis zum
Erscheinungstermin des nächsten Heftes. Denn es stand zu erwarten, dass sich
der Streit bis dann von selbst legen werde. Als Abfindung bekam jeder
vorerst mal eine Uhr. Erst da merkte man wirklich, wie spät es war.
Auf der zur Zeit
erfreulicherweise in einer nahe gelegenen Konditorei stattfindenden
Geberkonferenz beschlossen die machtvollen Kulturbarone der
deutschsprachigen Länder, die drei umstrittenen Seiten unter den besonderen
Schutz der UNESCO wie des Internationalen Währungsfonds zu stellen, und das
nicht nur, weil Geld schon an und für sich schön, kunstvoll und erfolgreich
ist, sondern vor allem eben auch gerade wegen der literarischen Qualität des
gesamten Betrages. Die Scheine wurden nämlich sowohl in Salzburg als auch
anderswo keineswegs etwa bloß im materialistischen Sinne ausgeschnitten und
zur Deckung des unmittelbaren Bedarfs an Lebensmitteln, Zigaretten und
dergleichen mehr ausgegeben. Nein, sie wurden unter Berücksichtigung
einschlägiger Texte, Kontexte, Inter-Texte, Intra-Texte und Metatexte so
richtig aus allerlei Perspektive heraus gelesen, gewendet, rezensiert,
interpretiert, kritisiert und zum großen Teil sogar in der Schule auswendig
gelernt. Wer einen Fehler machte, bekam selbstredend Schläge.
Der Mann ohne
Eigenschaften wurde schnell von einem ziemlich kräftigen Schauspieler
vorgelesen, der aber freilich mit seiner Kraft nichts anzufangen wusste,
Die letzten Tage der Menscheit von einem gerissenen Intendanten
inszeniert und die Komödie der Eitelkeit von selbstbewussten
Schriftstellern "auf einer ganz leeren Bühne" zum feierlich-nichtssagenden
Happening umgestaltet: "Und wir, meine Herrschaften, und wir, und wir, und
wir, meine Herrschaften, und wir, und wir, wir haben etwas vor. Was haben
wir vor? Etwas Kolossales haben wir vor…".
Bratkartoffeln
wurden serviert, Flaschen entkorkt, bezaubernde Damen präsentiert, die
gerade von einer multimedialen Modeschau in Paris Berlin New York
zurückgekehrt waren. Dem Jubel der Menge hätte niemand Einhalt gebieten
können.
Hier der Bericht
aus Tour und Tick: Geklatscht hat man bis in die Morgenstunden.
Geheult hat man bis Mittag. Gelacht und gejodelt bis auf Widerruf. Mehrfache
Verstärkung zu sich genommen hat ein jeder Schriftsteller mit allergrößter
Genugtuung auf staatliche und städtische Kosten. Das Honorar für ein Jahr im
voraus kassiert, und dazu sozusagen als Bonus die bisher ausstehenden
Gehälter der vorigen Jahre, in denen die Spezies der Schreibenden
bekanntlich zahlreiche Nebenjobs hatte verrichten müssen, um überhaupt erst
einmal den Bleistift in die Hand nehmen zu dürfen. Sich die Zeitschrift
näher angeschaut haben durften ehrlich gesagt viele nun zum ersten Mal –
aber so eine Stimmung gibt es ja auch nicht alle Tage oder eben alle Nächte.
Geplaudert wurde jedenfalls ganz locker, so wie es früher öfters vorkam.
Gegessen, getrunken, die Nationalhymne gesungen – damit die Polemik der
Stunde endlich so richtig anfangen mochte. Referate vorgetragen, die man
schon immer loswerden wollte. Und Gedichte, weil viele gerade den Nerv der
Zeit getroffen zu haben meinten. Sehr viele interessante Sachen wurden
ebenfalls gesagt, an die sich allerdings später der allgemeinen
vergesslichen Stimmung wegen niemand mehr genau erinnerte.
Aber dann war
irgend einmal Schluss damit. Eine berühmte, doch ziemlich hingenommene
Klavierspielerin konnte gerade noch die Arie des allgemeinen Untergangs
antönen, bevor sie in Ohnmacht fiel. Der Intendant der Festspiele ließ sich
im Nu aus gesundheitlichen Gründen entschuldigen, wie sein Sprecher
verdächtigerweise kleinlaut kundgab. Die Trommler aber, die gerade noch den
Rhythms der ewigen Aufschwungs getrommelt hatten, gingen einfach weg, weil
es ihnen jetzt zu spät war. Die Trompeter legten sich hin und hörten den
Gesang der Grillen, den sie auf einmal viel besser mochten als früher. Die
armen Spielmänner aus Wien, die vor allem wegen der erstaunlich früh
aufgebrauchten Mozartknödel hergekommen waren, hatten nun ihrerseits "das
langweilige Nest" Salzburg satt und unterschrieben vorbehaltlos einen
deftigen Vertrag mit dem neuen Kaiser in Manhattan. Und danach
unterschrieben sie einen Vertrag mit dem alten Kaiser in Berlin.
Der
rote Strich zuckte durch den Haushalt. Butter und Honig verschwanden vom
Regal, und für Lesungen gab’s nur mehr Streichhölzer, die man dann aber
immerhin gegen Zigaretten austauschen durfte. Nur allzu verständlich, sagten
sich die meisten der schreibenden Hungerleider, und streckten die Hand nach
Streichhölzern aus. Denn so viel Geld war ja trotz der Investitionsspritze
auch wieder nicht im literarischen und kritischen Keller am Fuße des
Mönchsbergs gehortet.
Jeder steckte
sich die Zigarette in den Mund und küsste mit vorbildlicher Nächstenliebe
seine Tischnachbarn, die auf einmal gar nicht mehr so blöd aussahen. Den
kleinen Brand, der sich dabei aus Versehen entfachte, löschte der extra zu
den Festspielen angereiste Förster aus Passau ganz ohne Hilfe der Feuerwehr.
Die Rauchzeichen, die eine jüngere Autorengruppe mit der erfreulicherweise
zur Verfügung stehenden Decke eines überdurchschnittlich belesenen Sandlers
zustatten brachte, konnte man im ganzen Land der Berge deutlich sehen,
freilich jedoch keineswegs richtig verstehen. Wahrlich ein Menetekel. Vieles
wurde landesweit in Erwägung gebracht, vieles wurde ermessen. Doch das
Wenigste kam dabei raus.
Plötzlich schrie
ein wütender Mann Mitte vierzig, den sein Schnurbart als Intellektueller zu
erkennen gab, eine etwas ältere, ebenfalls intellektuell anmutende Dame an,
die nach "Feschisten" Ausschau zu halten behauptete und durch ihren
unzeitgemäßen Widerstand gegen längst Verstorbene den historischen
Widerstand in Österreich im nachhinein stärken wollte. Es ging grob zu.
Aktionslüsterne Kameramänner mehrerer Sender filmten die Auseinandersetzung
mit sichtlicher Genugtuung, während die blutlüsternen Paparazzi Fotos
schossen. Bald schon gewann der Mann die Oberhand. "Zeter und Mord!
Antifeschisten-Bashing!", schrie die Frau verzweifelt, empört, verstört,
betört, und der Mann wurde von der anwachsenden Schar politisch korrekter
Aktivisten umzingelt. Er schlug nach Leibeskräften um sich herum,
polemisierte, rief um Hilfe (aber niemand kam), debattierte auf gut alt
Donauschwäbisch, fluchte in mehreren Sprachen und verbeulte viele seiner
Widersacher, ein Exemplar der Zeitschrift als Schild in der Hand, ein
anderes als Deviseninstrument in der Hosentasche und ein drittes als Lektüre
im Rucksack. Der Förster half.
"Liebe, liebe Leut’, wir sind
doch alle Österreicher!", lenkte der ebenfalls zu Besuch hierzulande
weilende deutsche Boss aller Grünen ein, der natürlich selber offensichtlich
kein Österreicher war, aber durch seinen nichtsdestoweniger ausgesprochen
dramatisch inszenierten Auftritt im ganzen Wald großen Erfolg erntete, denn,
so ein Nachwuchsautor aus den Bergen, "österreichisch ist, was östereichisch
empfindet." Ein Schlichter, der gerade mehrere höchst umstrittenen Knoten
(genauer, einundzwanzig) mit seinem völlig rostfreien Schwert zerhauen
hatte, kam die Einsenbahnstrecke her geritten und sprach von einem fernen
Gral-Bahnhof im Herzen eines Kontinents, den er als nah bezeichnete. Er
durfte – von Berufs wegen –schlichten. Inzwischen waren die Kontrahenten des
"Feschisten-Streits" mitsamt Gefolgsleuten schon fast auf dem Gipfel. Der
schlaue Schlichter schaute nach oben und schlichtete schnell: "Noch nie
haben so viele gescheite Leute so hohe Positionen innegehabt." Im Fernsehen:
Der Schlichter kann’s. Die beiden Autoren (stimmt, es handelte sich um
Autoren, wie ein inzwischen leider Pleite gegangenes Finanzinstitut
bestätigte) mussten sich vor allen Anwesenden die Hand geben, verbindlich
lächeln, minutenlang in alle vier Himmelsrichtungen winken, möglichst
anschauliche Autographe um sich herum schmeißen und sich wie beiläufig
verschiedene großzügig dotierte regionale und überregionale Preise zustecken
lassen, darunter den Österreichischen Staatspreis für Gemütlichkeit und –
weil man schon auf dem Berg war und alles so winterlich aussah – den
Rodelpreis.
Nicht nur wurde
somit ein blutiger Schriftstellerkrieg glücklich beendet, der das Vaterland
in zwei feindliche Lager in Sachen Vergangenheitsbewältigung und
Zukunftbsild gespaltet hatte. Ein Ausflug, mehr, eine Expedition wurde auf
Wunsch der schnellstens (mit einem tüchtigen postmodernen,
postdekonstruktivstischen und postfeministischen Aktionsplan zur Hand) beim
Herausgeber der Zeitschrift vorprechenden Frau Alma Mater veranstaltet –
unter der Anleitung allerstärkster akademischer Kraftkerle, versteht sich.
Sämtliche Studenten, die sich zu benehmen wussten, durften mit. Ziel der
Reise sollte die Region Ausklammerungsgut Mitte sein. Die genauen
Koordinaten vermochte auf Anhieb weder der Dekan der Philosophischen
Fakultät noch der Vorsitzende des Insituts für Geografie anzugeben, denn die
wussten sie selber nicht auswendig, aber jedenfalls stehe ein Schild vor der
entsprechenden Ausfahrt, damit diese auch ganz bestimmt nicht übersehen
werde. Die Ausfahrt ähnelte dabei komischerweise freilich dem Eingang ins
Labyrinth zeitgenössischer Autoren, aus dem schon lange keiner mehr
rausgekommen war. In unmittelbarer Nähe lag der Flughafen. Gar nicht so
groß. Da waren schon viele gelandet, von denen es einst hieß, dass sie eine
Zukunft hätten.
Ein
Ritt ins Ausklammerungsgut sollte eigentlich ziemlich leicht vonstatten
gehen, hatte der Rektor der Universität in der Großen Aula gesagt, bevor er
sein Glas zum dritten Mal leerte. Seine Lieblingssekretärin bestätigte es:
"Ritt ins Ausklammerungsgut? Ganz leicht."
Los ging’s. Von
den Professoren konnten sich allerdings noch alle ziemlich gut im Sattel
halten, wobei es natürlich die Mediävisten infolge der jahrelangen
körperlichen Übungen mit Rüstung, Schwert und Pferd am leichtesten hatten,
und auch die wohltrainierten Studenten verschiedenster Fachrichtungen
galoppierten meist problemlos durch das unwirtliche Niemandsland der
unwirklichen Interdisziplinarität, so dass einer schier seine Freude dran
hatte.
Als sie ein
Stück Weide vorfanden, das ungefähr so aussah, wie man sich das
Ausklammerungsgut vorstellen würde, machten alle halt, worauf einer der
beleseneren Germanisten unbedingt gleich mit der Vorlesung anfangen wollte.
Er ließ sich leider trotz des prächtigen Wetters nicht davon abbringen.
Anhand der zur allgemeinen Aufklärung "nur ganz kurz" vorgezeigten bleichen
Gebeine einiger in Ungnade geratener Schriftsteller erläuterte er das
zugrundeliegende Prinzip des Ausklammerungsguts, dieser österreichischen
Erfindung, die wohlgemerkt inzwischen weltweit patentiert und dankbar
übernommen wurde.
Seinen
Erklärungen konnte man eigentlich recht gut folgen. Was genau von der
Zirkulation der Ideen ausgeklammert wird, so der Professor, entscheidet ein
Konsortium der Weisen. Wer im Konsortium sitzt, entscheidet ein weiteres
Konsortium der Weisen. Dessen Präsident sitzt vor einem riesigen Bildschirm
und lässt sich das, was ist, versinnbildlichen. Das, was nicht ist, lässt er
sich sicherheitshalber noch einmal verneinen. "Nein, nein, nein!" sagen die
Neinsager – und kassieren den Lohn für ihre mühsame Verneinungsarbeit. Der
Präsident des zentralen Konsortiums spielt indessen mit der Fernsteuerung
und murmelt immer wieder "Nihil est".
Natürlich
wäre es sehr einfach, im Ausklammerungsgut nach der verlorengegangenen
Sprachkompetenz der wohldekorierten Journalisten zu suchen, die nicht mehr
vom Podium weg wollen, gab ein Sprachkritiker zu bedenken. Es habe keinen
Sinn, heutzutage noch irgend etwas ausklammern zu wollen, meinte ein
anderer. Denn es sei sowieso irgendwie alles da, ob man es nun wahrhaben
will oder nicht.
Auf ein Zeichen
des Professors zogen alle ihm untergeordneten Dozenten, Assistenten,
Studenten und Delinquenten ihre Notizhefte aus der Hosentasche und begannen
nach seinem Diktat zu schreiben: "Österreich ist eine erklärbare Republik,
und vor allem auch eine erzählbare Republik! Das Ausklammerungsgut ist
Österreichs Seele. Im Ausklammerungsgut leben und schweigen viele
Österreicher, die nie so richtig zu Wort kamen, und dazu freilich noch ein
Haufen solcher, die sehr wohl zu Wort kamen, sich jedoch leider im
literarisch-politischen Zweikampf und/oder im Handgemenge nicht hinreichend
zu behaupten vermochten."
"Österreichisch
ist, was österreichisch lebt und leibt", fiel ihm der Rektor ins Wort.
"Jawohl! Wir alle haben was zu sagen und können das, was wir zu sagen haben,
auch ordentlich schreiben", mischte sich darauf ein gerade aus dem Sattel
gestiegener Eilbote der Österreichischen Gesellschaft für Literatur ins
Gespräch. "Wir sind vielseitig aufgeschlossen und tolerant. Bei uns wird
niemand und nichts ausgeklammert."
Der
Mann war natürlich mit dem Vorlesen seiner wohlredigierten Anrede noch lange
nicht fertig, doch er sah sich gezwungen, sie angesichts eines auf
finanzieller Ebene Ausschlag gebenden Zwischenfalls dramatisch zu kürzen.
Ein emsiger Spürhund vom Finanzamt, der auf Wunsch seines Besitzers
ungeachtet der durchaus bestehenden allgemeinen Voraussetzung absoluter
Rechtschaffenheit auf alle Fälle genauer in die Bücher schaute, um zu
ermitteln, ob die Rechnung auch in jenen brenzligeren Angelegenheiten, da
sie ohne den Wirt gemacht wurde, stimmte, unterbrach den Eilboten, der es
auf einmal gar nicht mehr so eilig hatte, mit seinem kommunikationsfreudigen
Bellen. Ein paar Hunderter lagen nämlich vor ihm auf dem Boden. Zwei
Leserinnen bückten sich rasch, hoben das Geld auf und steckten es in den
Geldbeutel. Der Herausgeber brüllte: „Das ist mein!" Der Besitzer des Hundes
brüllte: „Das ist mein!" Der Professor brüllte: "Das ist mein!" Der Eilbote
kam erst gar nicht zu Wort, streckte dafür jedoch umso entschlossener die
Hände aus.
Aber die
Leserinnen wollten das Geld nicht mehr hergeben, sondern behaupteten
trotzig, es gehöre nun zu ihrer Privatlektüre. Eine Debatte kam zustande.
Mehr als dreihundert Sprecher meldeten sich zu Wort, darunter Volkswirte,
Bankiers, internationale Devisenhändler und einfache Räuber. Rechtlich
gehöre das Geld ja strenggenommen ganz Österreich, nein, der ganzen Welt,
flüsterte ein wegen der mittlerweile verheerenden Rezession sichtlich
abgemagerter Jurastudent ins Mikrophon, worauf ihm eine der beiden nun nicht
nur kulturell bereicherten Damen natürlich in der Erregung des Augenblicks
eine stattliche Ohrfeige vergab. Der Student protestierte. Die Dame
beschwichtigte ihn.
Das
Publikum klatschte Beifall. Denn das Publikum mag solche Dinge. Dafür wurde
es dann freilich von einem ziemlich erbosten Mann beschimpft, der irgend
etwas von der Unsagbarkeit der Dinge sagte. "Ein Außenseiter", ging das
Gerücht in der Menge. "Ein Einzelkämpfer". Der Mann sprach viel und sprang
oft von einem Thema zum anderen. Nichts wollte ihm passen. "Endlich über
alles sprechen!" hatte sein Rechtsanwalt gesagt. Auch zum Nibelungenlied
äußerste er sich kritisch: nicht wahrhaftig genug empfunden. Ein neues Lied,
ein besseres Lied sei vonnöten, um die Stunde der wahren Empfindung
hinreichend zu definieren. Aus Düsseldorf wurde dem Außenseiter darauf
schnell ein Haufen Geld zugeschmissen, um sein literarisches Schaffen
entsprechend zu ehren, doch der dortige Stadtrat, dem das gar nicht so recht
ins Konzept passte, vermochte es rechtzeitig mit Hilfe eines überregionalen
Staubsaugers zurück zu kriegen. Später wurde dem Einzelkämpfer dann anderswo
ein sogennanter Alternativpreis angeboten, der schließlich auf Wunsch des
Preisträgers an Leute ausgezahlt wurde, die man ihrer Zukunft beraubt hatte,
anders gesagt an Ausgeklammerte.
Ein freundlicher
Schweizer von der
Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung,
ein fröhlicher Melancholiker, der gerade wieder einmal auf der Suche nach
Bäumen oder Ozeanen oder Luft oder Liebe am Grenzzaun der Erkenntnis herum
schnüffelte, verteilte an alle Anwesende Schokolade und Geld, um der
Wirklichkeit in der Tat ein bisschen mehr Wirtlichkeit zu gewähren. "Es gibt
nichts, was nicht irgendwann in irgendeiner Form ausgeklammert wird", sagte
er. Das Publikum war entzückt. Darauf setzte er seinen Hut auf, der aber aus
der Ferne wie ein Apfel aussah, und fuhr weiter: "Als Wilhelm Tell den
nationalen Befreiungskampf der Schweizer gegen euch Habsburger führte ("War
ja ein Aufstand gegen seine Hausmacht, nicht gegen das kaiserliche Amt!"
schrie jemand dazwischen, doch der Schweizer ließ sich nicht beirren,
sondern fuhr einfach weiter, wie die Schweizer es ja oft tun), hätte sich
keiner in unserem Land der Kantone oder in euerem Land am Strome träumen
lassen, dass wir einmal so gute Geschäfte machen werden. Man muss das Ganze
holistisch anpacken. Damals lag sozusagen ein Teil von Österreich außerhalb
seiner Grenzen."
"Eigentlich
liegt strenggenommen ganz Österreich außerhalb seiner Grenzen", meinte
darauf der Herausgeber der nun im Börsenblatt in Fettschrift verzeichneten
Literaturzeitschrift, "weswegen auch weltweit immer so viel Tinte und Blut
für neuere, frischere, lustigere Standortbestimmungen des sogenannten
österreichischen Lebensgefühls vergeudet wird, die niemand wahrhaben will.
Die k. and k. Corporation zum Beispiel: Die hatte ja den ganzen Osten
im Griff. Von Wien bis Budapest und Bukarest nichts wie freie
Marktwirktschaft. Rotweißrotweißrotweißrot." Und dann richtete er das Wort
an seinen Freund, den Schweizer, den er unter anderem von der Akademie her
kannte. "Was halten Sie von der Dialektik Peripherie-Zentrum?"
"Eigentlich
sollten wir uns jetzt ein bisschen zusammennehmen", unterbrach ihn jedoch
der Professor. "Sonst kommen wir hier nie wieder raus. Schaut mal! Da oben!"
Eine
Stimme ertönte: "Achtung, Achtung! Alarmstufe Rot! Die Tore des
Ausklammerungsguts wurden geschlossen." Jetzt begriffen alle, was das gerade
noch so unerträgliche Quietschen zu bedeuten hatte. Die vorderen Reihen
bewegten sich dem verschlossenen und gut verriegelten Tor zu. Der Rektor sah
schon das unbarmherzige Rad der Geschichte die lange Liste seiner
ausgewählten Veröffentlichungen aus dem ohnehin nicht einwandfreien
Gedächtnis der Mitmenschen tilgen und schrie, nachdem er noch schnell seinen
Sekretärinnen befahl, den ganzen Kram auf feinstem Papier frisch
auszudrucken: "Diese Studienreise ist zu Ende! Rette sich, wer kann!" Die
meisten Teilnehmer waren schon längst weg. Ein wegen eines verstrauchelten
Knöchels zurückgebliebener Dozent korrigierte den Rektor aus einem ethischem
Standpunkt heraus: "Sie meinen wohl, rette, wer kann?"
Niemand konnte.
Ein weißer Ritter kam dann zum Glück doch noch rechtzeitig über den geheimen
Steg hergeritten und machte sich im Nu daran, die Ausgeklammerten seiner
rettenden Kritik zu unterziehen: "Schämen solltet ihr euch alle! Wollt das
große Wort führen und habt doch kaa Ahnung vom Dudn und Blosn. In solchen
Fällen ist das Gesetz unnachgiebig!" Die Leute schämten sich, so gut es
ging. Ein paar suchten sogar nach Asche, die sie auch bald in reichlicher
Menge in einem nahe gelegenen Bach vorfanden. "Wir wollen zurück ins andere
Österreich! Herr Ritter, Sie sehen so tolerant aus! Bitte, bitte!", flehte
die Menge. Denn wenn sie schon nach einem unnachgiebigen Gesetz gerichtet
werden sollten, so hofften sie doch sehr, dass es ein sanftes sei.
"Erst müsst ihr
euch einer grundsätzlichen Umwertung der Werte verschreiben": Also sprach
der strenge Ritter. "Ihr seid Verklärer und Verächter. Das hört ab sofort
auf!" Mehrere Nachwuchsautoren drängten sich zum Podium: "Jawohl, Herr
Ritter!" Seine Anrede wurde auf Tonband aufgenommen und zugleich live bei Ö3
gebracht: "Ich schicke euch allesamt zur Alphabetisierung ins unentdeckte
Österreich. Bringt eure bekleckerten Buchstaben! Hier! Frisches Wasser aus
der Salzach! Also unbedingt ganz ordentlich waschen!"
"Eine echte
Taufe? Mit Worten und Wasser und der ganzen Schuld-Unschuld-Dichotomie? Und
all den Dingen dieseits von Gut und Böse? Der ist wohl des Teufels.",
murmelte ein Durchschnittsleser aus der Menge. "Sind Sie denn
zufälligerweise der Herr Ritter Johann des Todes?" Die Frage blieb
unbeantwortet, denn der weiße Ritter hatte seinem Schlachtross bereits die
Sporen gegeben. Ein neuer Ausritt ins Ungewisse stand bevor.
So
hätte diese Geschichte geendet, wäre Bezirksinspektor Stocki nicht in
allerletzter Minute aus heiterem Himmel erschienen, um wenigstens die
verdächtigsten Ausgeklammerten im Rahmen seiner festspielbezogenen
Mordermittlungen im Grenzland gründlich zu verhören. Absolute Gerechtigkeit
gab es in Österreich allerdings leider trotz des neulich ins Leben gerufenen
Korruptionsausschusses immer noch nicht, und zwar ebensowenig wie es
absolute Freiheit gab, weswegen er die Sache äußerst raffiniert im Zeichen
literarischer, kritischer und kriminalistischer Relativität anpackte und
sich unter anderem – wohl auch als Entschädigung für sein eher kümmerliches
Gehalt als Beamter – mit allergrößter Genugtuung der genussvollen Lektüre
der dritten, vierten und fünften Seite hingab, indes der Mann vom Europarat
ungeniert an der zweiten Fassung seines erweiterten Korruptionsbericht
schrieb. Und weil beim ORF gerade entschlossen wurde, trotz des
strenggenommen ja eigentlich durchaus leidlichen Erfolgs der
Stockinger-Serie von nun an mit der frischgebackenen kanadischen
"Flashpoint"-Serie vorlieb zu nehmen (vor allem weil es ja schließlich
Vancouver war, dem die olympischen Winterspiele 2010 zufielen, und nicht
etwa Salzburg, dessen Untersberg es leider selbst dann nicht mit dem
Whistler Mountain aufnehmen kann, wenn man aus lauter Lokalpatriotismus den
Mönchsberg draufsetzt), waren auch gleich ein paar bis an die Zähne
bewaffnete Jungs von der bei Zuschauern ungemein beliebten Toronto
Spezialeinheit direkt auf dem internationalen Flughafen Ausklammerungsgut
eingeflogen. Just in case. Österreicher und Kanadier sollten
gemeinsam den Bildschirm erobern und diesseits wie jenseits der Klammern
nach dem Rechten schauen.
Inspektor Stocki
hatte übrigens laut einschlägigen Fernsehberichten auf eigene Faust gerade
einen internationalen, nein, einen
deutsch-österreichisch-liechtensteinischen Skandal aufgedeckt, der ihn bis
zuletzt auf Spesen des Justizministeriums und des Unterrichtsministeriums
ins gute alte Ausklammerungsgut führte. Der BND unterhielt offenbar
jahrelang eine Agentenzentrale im Ausklammerungsgut, um dem Räuber
Hotzenplotz auf die Schliche zu kommen, der gemeinsam mit tausendfünfhundert
seiner wohlhabenderen Kollegen hohe Beträge bei der Liechtensteinischen
Landesbank angelegt hatte. Um der offensichtlich vollkommen unpatriotischen,
ja fiskusfeindlichen Steuersünder habhaft zu werden, die weder auf deutschem
Grund und Boden noch bei deutschen Banken investieren wollten, erklärte eine
Abteilung der Agentenzentrale, die in Salzburg freilich sozusagen auf der
anderen Seite der Legalität ihr Dasein fristete, dem Fürstentum
Liechtenstein kurzerhand den Krieg; mehrere Kanonen wurden gefeuert und
mehrere bisher streng gewahrte Quasi-Geheimnisse wie aus Versehen der
breiteren Öffenntlichkeit kundgegeben, doch das Fürstentum gewann
schließlich die entscheidende Schlacht vor dem berüchtigten Bosna-Stand in
dem Salzburger Getreidegassen-Durchgang (da namhafte Fürsten sich auf
Kriegsführung und Geld ja selbstredend sehr viel besser verstehen als
irgendwelche BND-Helfershelfer), und die angesichts der Blamage
verständlicherweise auf einmal vom Zentrum fallen gelassenen Agenten machten
sich schleunigst in einem selbstgebastelten Ballon davon, der sich wie eine
Aktie aufblasen ließ, bevor er am Horizont dahin schwebte. Nach dem Sieg der
Liechtensteiner Banken setzten sich nun auch die Schweizer zur Wehr – auf
geistiger Ebene sowie auch mit Pfeil und Bogen.
Bald
hieß es, die Helfershelfer der fürstlichen Bankiersarmee seien allesamt mit
dem beschlagnahmten Geld und den vollautomatisch erstellten und versiegelten
Dokumenten im Internet verschwunden, was aber nicht wahr sein kann, denn im
Internet verschwindet in Wirklichkeit nichts und niemand. Viele verstecken
sich freilich darin, doch deswegen gibt es ja schließlich auch den Inspektor
und seine ansehnlichen kanadischen Mitarbeiter. "Jetzt einmal aufrichtig!"
So begann sein Verhör. "Was habt ihr vor?" Dunkle Wolken kündeten ein
baldiges Gewitter an. "Ja was haben wir denn vor?", fragte ein
Hauptverdächtiger in Handschellen. "Haben wir überhaupt was vor?", wagte es
ein anderer, während er seine Lesebrille absetzte. "Nicht dass ich wüsste.
Es ist ein gutes Land."
Der mehrfach
ausgezeichnete, offensichtlich gerade mal wieder diensthabende Epigone mit
Filzhut machte sich prompt daran, zu deklamieren: "Wir haben was vor. Wir
haben was vor. Was haben wir vor? Etwas Kolossales haben wir vor…" Und dann
biss er in seinen Apfel, der freilich von einem Pfeil durchschossen war.
Aber es hätte ja noch viel schlimmer kommen können.