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Vergnüglich bis zur Gewinnmaximierung
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Im heurigen Frühsommer erschien die österreichische Literaturzeitschrift
"Literatur und Kritik" zum 222. Mal. Seit ihren Anfangstagen im Jahre 1966 versucht das
mittlerweile zu einer Institution gewordene Magazin "dem Guten, dem Wahren, dem Schönen
und dem Notwendigen auf dem Umweg peinlichster Hinterfragung nachzugehen",
wie es unser Autor
Vasile V. Poenaru ausdrückt.

Von Vasile V. Poenaru
(01. 09. 2010)

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Vasile V. Poenaru
bardaspoe [at] rogers.com

geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Derzeit
Doktorand an der
Universität Toronto.


 

 

 

 

Literatur und Kritik,
gegründet im April 1966.
Das bedeutende, aus der
seit 1955 bestehenden
Zeitschrift "Wort in der Zeit"
hervorgegangene Literaturorgan
betonte im Unterschied zu
seiner Vorgängerin die
Präsentation jüngerer öster-
reichischer Autorinnen und
Autoren. Auch Übersetzungen
aus der Literatur der Nach-
folgestaaten der österrei-
chisch-ungarischen Monar-
chie räumte es mehr Platz
ein. Herausgeber und Redak-
teure der Anfangszeit waren
Gerhard Fritsch und Jeannie
Ebner. Nach dem Weggang
von Kurt Klinger wurde das
Blatt in den 90er Jahren von
Karl-Markus Gauß neu
gestaltet und wird seitdem
von ihm herausgegeben.
(Quelle: ÖLA)

 

 

 

 

 

 

Im Otto Müller Verlag
gibt es allerdings wieder
einmal nicht nur Groll,
sondern auch Grill.
Genauer: Auch Andrea
Grill ist im Heft abgebildet,
blickt geradeaus, gutmütig,
nein, gelassen, keines-
wegs jedoch auf den
Leser, sondern vielmehr
über diesen hinweg.

 

 

 

 

 

 

 

Peter Demant: Ein
verlorengegangener und
dann wiedergefundener
Österreicher ohne Pass,
der sich über sein eigenes
tragisches Schicksal hin-
weg den Menschen hier
wie da verbunden fühlt.

 

 

 

 

 

 

 

 

Der von heutigen Gen-
erationen als Selbstver-
ständlichkeit geerbte
Frieden in Europa hat viel
mit den meist unbekannten
Dingen zu tun, von denen
nur derart wachsame und
engagierte Zeugen der
Geschichte adäquat zu
erzählen wissen.

 

"Weißt, Fritzl, vom Frieden derfst jetzt nicht reden,
der ist eine kommunistische Sache!"

   So zitiert der österreichische Bestsellerautor Hermann Schreiber – zum neunzigsten Geburtstag an zentraler Stelle in Literatur und Kritik (LuK) 443/444 (Mai 2010) positioniert – den nicht nur in Österreich namhaften Monsignore Otto Mauer im Gespräch mit dem Historiker Friedrich Heer, dessen ehemaligen Schüler. "Wien schrieb das Jahr 1952, die Stadt war von den Siegermächten besetzt", hält Schreiber den ansonsten eher unbeständigen Zeitgeist in seinem angesichts der Distanz des Lesepublikums (und auch vieler Fachleute) zu den literarischen und sonstigen Hintergründen der zweiten Republik durchaus aufschlussreichen Beitrag fest. In dem berichtet der in Wiener Neustadt geborene Wahlmünchner jetzt, 58 Jahre später, aus österreichischer Perspektive über den internationalen PEN-Kongress in Nizza. Um die Dichtkunst und das Zusichfinden geht es darin ebenso wie um den literarischen Neubeginn einer an "wachsamen Zentren" in London und New York baumelnden Kulturpolitik und das Verhängnis der Österreicher, sich "mitten drin", das heißt zwischen Ost und West, mit den Entscheidungsfaktoren arrangieren zu müssen. "Die Woche der Dichter und ein ganz persönliches Erwachen" bringt Information, Reflexion und Stimmung, die sich in dieser Form anderweitig wohl schwer auftreiben ließen.

Ein Komplott: Hermann Schreibers vorzüglich gestaltete literarisch-räumlich-zeitliche Betrachtungen sind zwischen einschlägigen Beiträgen von Daniela Strigl und Evelyne Polt-Heinzl eingebettet: "Kleine Post von Hermann Schreiber" bzw. "Kleine Post für Hermann Schreiber". Also gleich dreimal Schreiber. Dazu das Editorial des Herausgebers Karl-Markus Gauß, in dem Titel und Thema wie beiläufig zusammenfinden: "Hermann Schreiber". Ja wenn das nicht gezielt ist.

   Im Mai 2010 erschien Literatur und Kritik in gewissem Sinne zum vierhundertvierundvierzigsten Mal – aber eben nur in gewissem Sinne, denn es handelt sich ja schon seit geraumer Zeit um Doppelnummern; immerhin: zweihundertzweiundzwanzig Stück Literatur und Kritik, je zweimal gezählt; oder: viertausend mal Literatur und Kritik? Eine starke Auflage. Die Mitstreiter: Österreichische Kraftkerle, die dem Guten, dem Wahren, dem Schönen und dem Notwendigen auf dem Umweg peinlichster Hinterfragung nachgehen.

Als Besitzer der Zeitschrift wirbt der Otto Müller Verlag auf ihren Seiten natürlich für seine Autoren. Dass Erwin Riess, der Verfasser der Groll-Romane, den Leser anschaut, nein, nicht anschaut, sondern vielmehr mit seinem Blick streift (denn Riess guckt ja nicht etwa aus dem Heft heraus, sondern er scheint sich, den Kopf nach links gewandt, das Hemd leicht aufgeknöpft, über die gefallene Brille hinweg die Kurzvorstellungen der LuK-Autoren auf Seite 111 vorzunehmen), daran hat man sich ja mittlerweile gewöhnt; irgendeinen Groll gibt’s halt immer zu präsentieren. Mit Gewinn soll man sowas lesen, und fette Gewinne soll es Autor und Verlag erbringen.

   "Vergnüglich bis zur Gewinnmaximierung" findet denn auch Robert Streibel in "die Presse" (sic) das dem Verlag offensichtlich als zutreffend erscheinende Wort, wohl ohne zu ahnen, was Gewinnmaximierung eigentlich bedeutet: die Anpassung der Produktionsmenge zur Erreichung eines Marktgleichgewichts. Dies ist dann gewährleistet, wenn die Grenzkosten dem Grenzerlös entsprechen. Vergnügen jenseits des Sprachvermögens? Nein, Groll. Ein bisschen gequält, in allerhöchsten Tönen, empfohlen.

Im Otto Müller Verlag – und auch gleich als Werbung in LuK – gibt es allerdings wieder einmal nicht nur Groll, sondern auch Grill. Genauer: Auch Andrea Grill ist im Heft abgebildet, blickt geradeaus, gutmütig, nein, gelassen, keineswegs jedoch auf den Leser, sondern vielmehr über diesen hinweg, so als suche sie etwas, als wisse sie etwas. Es geht ihr um Das Schöne und Notwendige, und, so Daniela Strigl, sie wahrt dabei die Balance zwischen Weinen und Lachen ("Die Furche"). Noch besser würde die Werbung sitzen, wenn sich in Strigls Lob nicht ein kleines, ungelenkes Komma zwischen Subjekt und Prädikat eingeschlichen hätte – aber wer schaut schon so genau hin?

   Anders als Riess, der "Erfinder" von Groll, der dem Blick des Lesers ein bisschen verstimmt und zugleich wie unwillig ausweicht, doch keine Anstalten macht zu gehen, wirkt Grill auf dem Bild irgendwie eingeengt und abschiedsbereit, als würde sie nicht mehr lange auf Seite 24 weilen wollen, wo sie gleichsam durch ein Versehen an dem Furche-Zitat von Strigl kleben blieb, letztere wie Grill selbst im Beirat – und auch in den Seiten – von LuK mit dabei. Die Zeitschrift, das ist die große Familie.

Heimat lässt sich – im Unterschied zur sprachlich verklärten Mikroökonomie vergnüglichster Gewinnmaximierung – aber schwer quantifizieren. In der Rubrik "Österreichisches Alphabet" stellt Veronica Steyr den 1918 in Innsbruck in eine k. und k. Adelsfamilie geborenen, als Kind nach Czernowitz (dann 1940 in ein sowjetisches Arbeitslager im Südural, 1945 in den GULAG usw.) gekommenen und 2006 in Moskau gestorbenen Schriftsteller Peter Demant vor, der, das "bukowina-deutsche" Wort im Sack, die Aufarbeitung des am eigenen Leibe erfahrenen Stalin-Terrors als zwingende Berufung, die Bergluft in den Adern, dem Verlust seiner beiden Heimaten Österreich und Rumänien gleichwohl nicht nachtrauert, mit 87 noch nach Innsbruck fährt, um eine Lesung zu halten – als Ausländer, denn, so ein Referent der Tiroler Landesregierung, "Herr Demant habe keinerlei Verdienste um die Republik Österreich vorzuweisen" (nach Steyr zitiert). Staatsbürgerschaft? Guter Witz. Einmal weg, immer weg.

   Mentalitäten von früher, Mentalitäten von heute – sie bedingen sich wechselseitig. Dass die durch Steyrs Beitrag gewährleistete Bereicherung der Gegenwart um einen verlorengegangenen und dann wiedergefundenen Österreicher ohne Pass, der sich über sein eigenes tragisches Schicksal hinweg den Menschen hier wie da verbunden fühlt, irgendwie als Schmuggelware anmutet, hat damit zu tun, dass es den großen Söhnen des k. und k. Kulturraums oft in vielerlei Hinsicht schwer fällt, in die kleine Republik "zurück" zu kehren. Zu unpässlich ist diese für deren Verdienste, zu weit entfernt vom exotisch klingenden Farbton ihrer Sprache, zu eingeengt in Paragraphen. Und doch.

Ein Heft, das mit Hermann Schreiber anfängt und mit Peter Demant aufhört, steckt nicht nur mittendrin im hinreißenden Zeitgeschehen, sondern umspannt aus höchst reflektierter und erlebnisreicher Perspektive ein tüchtiges Stück immer noch aufarbeitungsbedürftiger Vergangenheit. Der von heutigen Generationen als Selbstverständlichkeit geerbte Frieden in Europa hat viel mit den meist unbekannten Dingen zu tun, von denen nur derart wachsame und engagierte Zeugen der Geschichte adäquat zu erzählen wissen. Davon darf man, davon muss man jetzt reden – denn letztendlich sind diese Dinge ja jedermanns Sache.

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