"Weißt, Fritzl, vom Frieden derfst jetzt nicht reden,
der ist eine kommunistische Sache!"
So
zitiert der österreichische Bestsellerautor Hermann Schreiber – zum
neunzigsten Geburtstag an zentraler Stelle in Literatur und Kritik (LuK)
443/444 (Mai 2010) positioniert – den nicht nur in Österreich namhaften
Monsignore Otto Mauer im Gespräch mit dem Historiker Friedrich Heer, dessen
ehemaligen Schüler. "Wien schrieb das Jahr 1952, die Stadt war von den
Siegermächten besetzt", hält Schreiber den ansonsten eher unbeständigen
Zeitgeist in seinem
–
angesichts der Distanz des Lesepublikums (und auch vieler Fachleute) zu den
literarischen und sonstigen Hintergründen der zweiten Republik
–
durchaus aufschlussreichen Beitrag fest. In
dem berichtet der in Wiener Neustadt geborene Wahlmünchner jetzt, 58 Jahre
später, aus österreichischer Perspektive über den internationalen
PEN-Kongress in Nizza. Um die Dichtkunst und das Zusichfinden geht es darin
ebenso wie um den literarischen Neubeginn einer an "wachsamen Zentren" in
London und New York baumelnden Kulturpolitik und das Verhängnis der
Österreicher, sich "mitten drin", das heißt zwischen Ost und West, mit den
Entscheidungsfaktoren arrangieren zu müssen. "Die Woche der Dichter und ein
ganz persönliches Erwachen" bringt Information, Reflexion und Stimmung, die
sich in dieser Form anderweitig wohl schwer auftreiben ließen.
Ein Komplott: Hermann
Schreibers vorzüglich gestaltete literarisch-räumlich-zeitliche
Betrachtungen sind zwischen einschlägigen Beiträgen von Daniela Strigl und
Evelyne Polt-Heinzl eingebettet: "Kleine Post von Hermann Schreiber" bzw.
"Kleine Post für Hermann Schreiber". Also gleich dreimal Schreiber. Dazu das
Editorial des Herausgebers Karl-Markus Gauß, in dem Titel und Thema wie
beiläufig zusammenfinden: "Hermann Schreiber". Ja wenn das nicht
gezielt
ist.
Im
Mai 2010 erschien
Literatur und Kritik in gewissem Sinne zum vierhundertvierundvierzigsten
Mal – aber eben nur in gewissem Sinne, denn es handelt sich ja schon seit
geraumer Zeit um Doppelnummern; immerhin: zweihundertzweiundzwanzig Stück
Literatur und Kritik, je zweimal
gezählt; oder: viertausend mal
Literatur und Kritik? Eine
starke Auflage. Die Mitstreiter: Österreichische Kraftkerle, die dem Guten,
dem Wahren, dem Schönen und dem Notwendigen auf dem Umweg peinlichster
Hinterfragung nachgehen.
Als Besitzer der
Zeitschrift wirbt der Otto Müller Verlag auf ihren Seiten
natürlich
für seine Autoren. Dass Erwin Riess, der
Verfasser der Groll-Romane, den Leser anschaut, nein, nicht anschaut,
sondern vielmehr mit seinem Blick streift (denn Riess guckt ja nicht etwa
aus dem Heft heraus, sondern er scheint sich, den Kopf nach links gewandt,
das Hemd leicht aufgeknöpft, über die gefallene Brille hinweg die
Kurzvorstellungen der LuK-Autoren auf Seite 111 vorzunehmen), daran
hat man sich ja mittlerweile gewöhnt; irgendeinen Groll gibt’s halt immer zu
präsentieren. Mit Gewinn soll man sowas lesen, und fette Gewinne soll es
Autor und Verlag erbringen.
"Vergnüglich
bis zur Gewinnmaximierung" findet denn auch Robert Streibel in "die Presse"
(sic) das dem Verlag offensichtlich als zutreffend erscheinende Wort, wohl
ohne zu ahnen, was Gewinnmaximierung eigentlich bedeutet: die Anpassung der
Produktionsmenge zur Erreichung eines Marktgleichgewichts. Dies ist dann
gewährleistet, wenn die Grenzkosten dem Grenzerlös entsprechen. Vergnügen
jenseits des Sprachvermögens? Nein, Groll. Ein bisschen gequält, in
allerhöchsten Tönen, empfohlen.
Im Otto Müller Verlag –
und auch gleich als Werbung in LuK – gibt es allerdings wieder einmal
nicht nur Groll, sondern auch Grill. Genauer: Auch Andrea Grill ist im Heft
abgebildet, blickt geradeaus, gutmütig, nein, gelassen, keineswegs jedoch
auf den Leser, sondern vielmehr über diesen hinweg, so als suche sie etwas,
als wisse sie etwas. Es geht ihr um Das Schöne und Notwendige, und,
so Daniela Strigl, sie wahrt dabei die Balance zwischen Weinen und Lachen
("Die Furche"). Noch besser würde die Werbung sitzen, wenn sich in Strigls
Lob nicht ein kleines, ungelenkes Komma zwischen Subjekt und Prädikat
eingeschlichen hätte – aber wer schaut schon so genau hin?
Anders
als Riess, der "Erfinder" von Groll, der dem Blick des Lesers ein bisschen
verstimmt und zugleich wie unwillig ausweicht, doch keine Anstalten macht zu
gehen, wirkt Grill auf dem Bild irgendwie eingeengt und abschiedsbereit, als
würde sie nicht mehr lange auf Seite 24 weilen wollen, wo sie gleichsam
durch ein Versehen an dem Furche-Zitat von Strigl kleben blieb, letztere wie
Grill selbst im Beirat – und auch in den Seiten – von LuK mit dabei.
Die Zeitschrift, das ist die große Familie.
Heimat lässt sich – im
Unterschied zur sprachlich verklärten Mikroökonomie vergnüglichster
Gewinnmaximierung – aber schwer quantifizieren. In der Rubrik
"Österreichisches Alphabet" stellt Veronica Steyr den 1918 in Innsbruck in
eine k. und k. Adelsfamilie geborenen, als Kind nach Czernowitz (dann 1940
in ein sowjetisches Arbeitslager im Südural, 1945 in den GULAG usw.)
gekommenen und 2006 in Moskau gestorbenen Schriftsteller Peter Demant vor,
der, das "bukowina-deutsche" Wort im Sack, die Aufarbeitung des am eigenen
Leibe erfahrenen Stalin-Terrors als zwingende Berufung, die Bergluft in den
Adern, dem Verlust seiner beiden Heimaten Österreich und Rumänien gleichwohl
nicht nachtrauert, mit 87 noch nach Innsbruck fährt, um eine Lesung zu
halten – als Ausländer, denn, so ein Referent der Tiroler Landesregierung,
"Herr Demant habe keinerlei Verdienste um die Republik Österreich
vorzuweisen" (nach Steyr zitiert). Staatsbürgerschaft? Guter Witz. Einmal
weg, immer weg.
Mentalitäten
von früher, Mentalitäten von heute – sie bedingen sich wechselseitig. Dass
die durch Steyrs Beitrag gewährleistete Bereicherung der Gegenwart um einen
verlorengegangenen und dann wiedergefundenen Österreicher ohne Pass, der
sich über sein eigenes tragisches Schicksal hinweg den Menschen hier wie da
verbunden fühlt, irgendwie als Schmuggelware anmutet, hat damit zu tun, dass
es den großen Söhnen des k. und k. Kulturraums oft in vielerlei Hinsicht
schwer fällt, in die kleine Republik "zurück" zu kehren. Zu unpässlich ist
diese für deren Verdienste, zu weit entfernt vom exotisch klingenden Farbton
ihrer Sprache, zu eingeengt in Paragraphen. Und doch.
Ein Heft, das mit Hermann
Schreiber anfängt und mit Peter Demant aufhört, steckt nicht nur mittendrin
im hinreißenden Zeitgeschehen, sondern umspannt aus höchst reflektierter und
erlebnisreicher Perspektive ein tüchtiges Stück immer noch
aufarbeitungsbedürftiger Vergangenheit. Der von heutigen Generationen als
Selbstverständlichkeit geerbte Frieden in Europa hat viel mit den meist
unbekannten Dingen zu tun, von denen nur derart wachsame und engagierte
Zeugen der Geschichte adäquat zu erzählen wissen. Davon darf man, davon muss
man jetzt reden – denn letztendlich sind diese Dinge ja jedermanns Sache.