Bitte gestatten Sie mir,
ausnahmsweise mal sehr direkt zu sein: Heute hab ich Robert Musil auf dem
St. George Campus der University of Toronto angetroffen. ("No kidding: the
Great Non-Localized Austrian? Did he ever come to North America?") Er sah
ganz so aus wie in Wirklichkeit, das heißt, er sah ganz so aus, wie er wohl
in Wirklichkeit ausgesehen haben mag. Den genauen Zeitpunkt dieses
unwahrscheinlichen Ereignisses kann ich übrigens zufälligerweise gerne
angeben, denn das gesamte Studentenvolk rund um die Mensa herum wartete
gerade auf den dritten Glockenschlag – da kann man nämlich immer offiziell
(mit dem Segen des Polizeichefs und des Präsidenten der Uni) dreißig Minuten
lang kräftig zulegen. Und dreißig Minuten machen in Toronto mehr als eine
halbe Stunde aus!
Ich hatte aber nur ein
durchschnittliches österreichisch-kanadisches Sandwich in meiner Tasche und
wollte es wie immer halb gehend, halb stehend, halb schreibend und halb
lesend verschlingen (und dazu einen tüchtigen Toronto Linzer, der aber
freilich gar kein echter Linzer ist, sondern eben ein Toronter). Klar, ein
bisschen unerwartet kam die ganze Geschichte schon.
Das beste Wort liegt
manchmal in der Tat am besten Ort geborgen, wie ein moderner Autor
möglicherweise sagen würde. Man muss nur danach greifen. Man muss nur die
Leute ansprechen, die wissen, was Wissen ist: Hallo, Herr Musil, wie geht’s
noch mit der ganzen k. und k. Wahrscheinlichkeitstheorie und dem tieferen
Sinn des Lebens? Was meint seine Durchlaucht zum Verlauf der
fünfundvierzigsten Parallele?
Nein, so war’s nicht. Hand
aufs Herz: Wie hätte es auch so sein können? Wenn man einen Unsterblichen
antrifft, plaudert man nie mit sterblichen Wörtern. Man denkt sich einen
Konzentrationspunkt des Seins, wo das große Infinit und das kleine Infinit
einander unmittelbar gegenüberstehen. Und dann denkt man sich Zeit und Raum
und Geist und Seele und den Brennpunkt einer Idee.
Mit dem Sprachvermögen ist
das auch immer so eine Sache. Bei einer internationalen k. und k.
Berühmtheit wird man sich doch nicht einfach dem Small Talk hingeben. Zuerst
hatte ich nämlich überhaupt keine Ahnung, was da zu sagen sei. Und mein
Linzer steckte noch im Mund, was jetzt aber nicht heißen will, dass ich in
dem Augenblick ohne Linzer sprachlich erfolgreicher gewesen wäre. Am Anfang
ist jeder Gelegenheitsphilosoph in derartigen Situationen sowieso sprachlos,
denn es wird einem spontan österreichisch zumute, und Österreicher überlegen
sich gerne, was sie sagen wollen. Aber dann dringen nach einer kurzen Weile
wie auf Kommando all die vielen altösterreichischen Schachtelsätze hervor
ans Tageslicht, die den Schrecken der Studenten ausmachen. Dann ensteht
anstelle eines bloßen Satzes womöglich ein ganzer Diskurs! Und wenn sich
Diskurs an Diskurs reiht, wird letzten Endes noch ein Kongress daraus. In
der Kongressstadt Toronto aber ist jedes Wort bestens aufgehoben. Ein echter
Wiener geht nie unter.
Ja, angetroffen hab ich
ihn. So seltsam das auch klingen mag – wiewohl Toronto eigentlich in der
alten Sprache der Indianer nichts anderes als "Treffpunkt"
bedeutet, was das mutmaßlich Seltsame dieser meiner ungestümen
Berichterstattung wohl gewissermaßen aufhebt. Und schließlich bin ich Musil
ja nicht begegnet – das wäre freilich strenggenommen
schon rein terminologisch kaum möglich. Denn Robert Musil wird
verständlicherweise schwerlich durch den größten kanadischen Campus
herumstreifen wie ein x-beliebiger Doktorand, dem die wunderlich sinnvolle
und originelle Idee zu seiner im voraus amtlich genehmigten These gerade aus
heiterem Himmel einfallen will, es aber nie tut. Doch antreffen, ja, das
geht, antreffen kann man so einen Koloss immer, besonders wenn das
metaphorisch gemeint ist.
Aber in meinem Falle war es
eben nicht metaphorisch gemeint, sondern
–
sagen wir mal –
bibliothekarisch. Genauer gesagt, ich lieh mir gerade eine
Rowohlt-Monographie aus, ein recht ansprechendes Ding, auf das mein Blick
zufällig gefallen war, als ich mal in der E. J. Pratt
Library auf Lauer lag, um ein paar nicht allzu dicke
Bücher für den unmittelbaren Bedarf zu holen. Gewöhnliche, unauffällige,
harmlose und garantiert haltbare, leichte Bände
–
je sauberer, desto besser. Vier Wochen lang darf man das Zeug behalten,
bevor sich die Campus Police einschaltet.
Eigentlich hatte ich es zu
dem Zeitpunkt, ehrlich gesagt,
gar nicht auf die Musil-Monographie abgesehen, die ich mir erst später –
sozusagen in fleißigeren Zeiten
–
vornehmen wollte, zum Beispiel kurz vor Weihnachten oder, noch besser,
während der Reading Week, in der ich freilich auch noch eine ganze Menge
Hesse nachholen muss. Das ist – wenigstens theoretisch betrachtet – an sich
ohne weiteres miteinander verträglich, obwohl der Steppenwolf kein
eigentlicher Mann ohne Eigenschaften ist, sondern bloß ein recht einsames,
dabei jedoch seinen Mitmenschen zutiefst verbundenes Menschenkind, das dem
prädestinierten Alleinsein pointiert mit liebevollem
Bleistift trotzt.
Ein kollektives Über-Ich im
individualistischen kanadischen Megalopolis? Der Gedanke mutet eher
unbehaglich an. Nach der wenigstens statistisch
betrachtet uneigentlichen Musil-Offenbarung jetzt noch etwa Harry Haller in
Person anzutreffen, wäre für mich natürlich erst recht eine Zumutung. Aber
ein klein bisschen im Steppenwolf herumlesen: durchaus machbar – denn
so viele Seiten sind es auch wieder nicht, obwohl recht viele Ichs
drinstecken. Außerdem gibt’s da auch noch einen Haufen Mozart und Goethe und
tonnenweise verstaute Liebe und szenische Magie. (What’s not to like?).
Eins steht jedenfalls fest: Was immer ich auch an Gedrucktem zu
schleppen vermag, wird schleunigst ausgeliehen. Die Library Card quietscht
an allen Ecken, denn in jedem Germanisten steckt ein geborener Bücherwurm
und Buchstabenmeister. Wie campusweit bekannt ist, hält mein Schreibtisch
sowieso ohne Weiteres bis zu hundert Kilo
aus.
Nur: Während der Reading
Week liest man ja nicht. Und wer weiß, ob die fleißigeren Zeiten in der Tat
je kommen? Mit dem Mann ohne Eigenschaften geht es nämlich wider
Erwarten leider äußerst langsam voran (ich meine, gemessen am Umfang des
Buches, denn strenggeommen sind vierhundert Seiten ja gar nicht so wenig,
besonders wenn man sich, wenn schon nicht mühsam, so
doch durchaus wohlbedacht einfühlen muss – und sonst könnte man das Ding ja
gar nicht entsprechend genießen, was sehr schade wäre). Im ORF ist das
allerdings zur Zeit auch zu hören (ein Kapitelchen pro Tag, drei bis vier
Tage pro Woche).
Als uns der Präsident der
University of Toronto vorgestern in der großen Aula mitteilte, dass wir
dringend einen Ausschuss brauchen, um endlich die zum Übertreffen der
Amerikaner offensichtlich nötige Originalidee in ihrer mutmaßlich
atemberaubenden Urtümlichkeit zu erfassen, hatte ich gar nicht an die
Parallelaktion der Altösterreicher gedacht. Jetzt weiß ich: Wer sich was
einfallen lassen will, muss die Feiertage so feiern, wie sie kommen.
Weihnachten ist vor Silvester. Silvester ist vor der Reading Week. Air
Canada steht vor Austrian Airlines. Seine Durchlaucht steht vor seiner
Exzellenz. Toronto steht vor Zürich.
Musils weitläufiger Satzbau
führt bestimmt wo hin. Am besten, man besucht gleich einmal die Endstation
seines Lebens: die liebe käsefreundliche Schweiz – ein Land mit vielen
Löchern. "Dem späten Autor auf der Spur" – dazu ließe
sich unter Umständen ein deftiges Stipendium auftreiben. Oder Wien:
"Die Parallelität des Parallelprojekts – A Continent
with Qualities." Ach Quatsch! Das ist wieder so ein Mischmasch.
Ich hab’s mir
ausgerechnet: Wenn jeder Torontoner eventuell im Rahmen eines denkbar
möglichen Vielvölker-Verständigungsprojekts tapfererweise je einen
Buchstaben davon lesen würde, so wäre Musils Werk vielleicht in einer Art
mathematischer Kollektivlektüre an einem einzigen Tag zu bewältigen. Dieser
Tag könnte zum Beispiel der heutige sein! Dann ließe sich sogar die
neuerdings überall lautstark postulierte Unmittelbarkeit der
Universal-Lektüre in einem Schlag erleben.
Und wenn jeder
Österreicher gnädigerweise auch nur je ein Drittel eines Buchstabens lesen
würde, dann ginge es auch. Dann hätten wir sowas wie eine internationale
Verselbstigung der österreichischen Idee der Stunde, des Jahres, ja des
Jahrhunderts! Dann wäre unter anderem die so heftig thematisierte, an sich
freilich kaum tatsächlich bestehende Parallelaktion vielleicht bald eine
Sache der Wirklichkeit. Dann könnte der Konjunktiv wegfallen. Dann war der
Kaiser nie tot, sondern bloß weg.
Aber ich muss nun eben
einmal vorerst den Steppenwolf bleiben lassen und den Mann ohne
Eigenschaften ganz allein schaffen. Zeile für Zeile, Blatt für Blatt,
Eigenschaft für Eigenschaft (die er nicht hat, aber haben könnte). Weder die
Kanadier noch die Österreicher werden mir da helfen, obwohl es hierzulande
regelmäßige Fernsehkampagnen zum Thema "Canada reads"
gibt – dann liest das ganze Land wie besessen und man versucht sich im
Nachhinein gemeinsam an das Gelesene zu erinnern, was
natürlich nicht immer leicht fällt). Na ja. Morgen ist ein neuer Tag. Ich
bin hungrig. Mein Sandwich war aber klein! Ob die beim Hemingway
Restaurant in ein paar Stunden was Leckeres haben?
Freilich könnte man
aufgrund eines der Öffentlichkeit entsprechend unterbreiteten Vorschlags
einer massenhaften Teillektüre sowas wie eine demokratische
Gesamtinterpretation stückweisiger Wahrnehmung computergesteuert
simulieren und als themenübergreifendes "Projekt über
ein Projekt" in den österreichisch destillierten nordamerikanischen Raum
methodologischer Auseinandersetzungen stellen.
Ein zu großes Wagnis? Man
denkt sich ein paar Mikrofone und einen tüchtigen Ausschuss dazu, und schon
steckt einer mittendrin in der internationalen Kulturpolitik.
Über die Haltbarkeit eines solchen sich selbst beinhaltenden Projekts
könnte man jahrelang mit großem Schwung debattieren, ja es ließe sich
durchaus argumentieren, dass eine derartige Aufgabe interdiziplinär,
multikulturell, tolerant, postmodern, umweltfreundlich, feministisch,
altruistisch und allgemein-menschlich sei. Dann hätte ich Idee und These
problemlos im Sack.
Nur kann denn leider der
Begriff "Projekt über ein Projekt" schon lange nicht
mehr als originell betrachtet werden, und über die Ideen, die ihnen nie
einfielen, haben auch zu viele geschrieben, als dass ich jetzt noch
beiläufig eine Dissertation zum Thema loswerden könnte. Oder wäre das doch
machbar?
Schnell rüber zu Nathan
Phillip Square, wo heute Markttag ist. Speck, Brot und Zwiebel sollte man
essen. Und Knoblauch. Das flößt nämlich Mut ein. Ist morgen wirklich ein
neuer Tag?
Ich hätte früher anfangen
sollen. Jeder Mensch sollte anfangen zu schreiben, bevor es zu spät ist. Es
wird mit der Zeit schrecklich eng in der Literatur, und das Alphabet ist
immer noch dasselbe – von A bis O. Darüber hinaus nichts. Was zu sagen war,
wurde bereits gesagt. Kein Loch mehr im Käse. Langsam, aber sicher geh ich
runter zum See, um zu erkunden, ob noch Schiffe da sind, das Bündel Getippte
unterm Arm, den CN-Turm andauernd im Blick: ein
stolzes Bild unserer Postmoderne. Als ewige Wahrheit,
die weder ewig noch wahr ist. Rührend. Ich hab Schnupfen.
Was würde Ulrich tun, wenn
er jetzt in Toronto wäre? Wozu würde er sich entscheiden? Nein, das ist
nicht die Frage, oder besser gesagt, das ist zwar eine mögliche, aber
keineswegs eine wahrscheinliche Frage. Ulrich würde sich ja gar nicht in
Toronto aufhalten, denn Toronto ist bekanntlich keine Kaiserstadt, sondern
höchstens eine Königsstadt (wobei viele freilich
neuerdings meinen, es handle sich eher um eine sogenannte
General-Manager-Stadt).
Auf der anderen Seite gibt
es in Toronto das Fields Institute for Research in Mathematical Science.
Ein mal eins macht eins, zwei mal eins macht keins. Die Hexenfrage, die
keine Hexenfrage sei: Würde Ulrich als Mathematiker (der er ja nun einmal
ist) etwa da einen festen Arbeitsplatz finden oder ganz im Gegenteil durch
diesen naturwissenschaftlich wie geisteswissenschaftlich zwar einleuchtenden
Umstand des Zuhandenseins einer international relevanten mathematischen
Einrichtung auch in Zukunft philosophisch und beinahe melancholisch und
mitunter sogar ziellos tiefenpsychologisch ins Weite blicken (an der
es ja hierzulande nicht fehlt)?
Würde er heiraten? Würde
der aus seiner Anonymität
herausgerissene Möglichkeitsmensch als Abfindung dafür, dass ihm selber
keine Eigenschaft beschieden war und er folglich in aller Ewigkeit dem Drang
des Aufgehobenseins erliegen musste, eine langfristige Bindung mit der
Versinnbildlichung übermäßiger Tatsächlichkeit
eingehen? Bekäme der Mann ohne Eigenschaften zuletzt noch eine Frau mit
Eigenschaften, genauer gesagt, eine Frau mit allen möglichen (und
wünschenswerten) Eigenschaften? Doch nein: Wer sich
so ganz ohne eindeutig identifizierbare Attribute durch das kleine
Österreich und in die liebe weite Welt traut, schreckt vor nichts zurück.
Der lässt sich nicht in literarische oder metaliterarische Schranken weisen
– selbst bei mangelhafter Übersetzung. Der kommt ganz bestimmt auch ohne
Abfindung zurecht.
Festgenagelt sein, das ist
nichts für einen Möglichkeits-Mann, und schon gar nicht für einen k. und k.
Möglichkeits-Mann. Bei den Frauen vermag ich das jetzt aber nicht so genau
zu beurteilen, vor allem weil sich ja Clarisse bekanntlich ein Kind von
Ulrich wünschte, aber Ulrich ...
Nun ja , Ulrich: Der hatte über mehr als tausend Seiten immer wieder
eine Menge Dinge vor. Der hat sich bis auf den allerletzten Gedankenzug
nicht festnageln lassen. Der würde sich auch hier wohl kaum so einfach
festnageln lassen. Nichts wie raufsteigen auf den Turm und den Horizont
erkunden. Der blickt nämlich immer weit in die Ferne.
Ich schweife ab. Tut mir
leid. Passiert immer, wenn dichter Nebel durchs Uni-Gelände zieht. Dann kann
man rundherum leider nicht so viel sehen. Aber ahnen lässt sich doch
immerhin einiges. Da drüben zum Beispiel: Ist das
dort ein Mensch oder nur ein Schneemann? Was aus seinem Mund heraushängt,
ähnelt einer Karotte oder einer Zigarre. Die Kälte in seinem Blick mag
irreführend sein. He! Mr. Snowman! Entschuldigung! Wo bin ich denn? Keine
Antwort. Ist einfach an mir vorbei gegangen. Ein Mann
ohne Manieren! Kontaktscheu. Egozentrisch. Individualistisch. Will von
anderen Lebewesen nichts wissen und hat wohl seine eigene kleine
Parallelaktion, die er für den Mittelpunkt der Seins hält.
Was kann man schon erwarten? Von weltfremden Wissenschaftlern wimmelt
es nur so in der Welt.
Eine Standortbestimmung
wäre im Augenblick offensichtlich dringend vonnöten, und zwar nicht nur im
übertragenen Sinne. Mal sehn ...
Mein Kompass steckt gewöhnlich in der Hosentasche. Also gut, das ist
jetzt der Norden ... Moment! Dieser Weg führt ja gar
nicht zum Department of German! Und in fünf Minuten muss ich unterrichten:
Introduction to the history of German thought. Könnte den Studenten
wohl noch einmal Goethes Hexeneinmaleins zuspeisen. Oder besser: "Der
Mann ohne Eigenschaften –
eine Charakterisierung." Wo steckt bloß die Campus Map?
Der erste Deutsche war ein
Österreicher: Diese Erkenntnis stellt einen der wichtigsten Fortschritte in
der komparatistischen Betrachtung des deutschsprachigen Kulturraums dar.
Weil aber jeder Fortschritt zugleich auch ein Rückschritt ist, schien es –
wenigstens während der Arbeit am Roman – ratsam, vorerst von einer
diesbezüglichen Verständigung der breiteren Öffentlichkeit abzusehen. Als
Ulrich nämlich die Entdeckung machte, war es zu spät. Der Autor hatte
aufgehört zu schreiben, und die Worte seines "autornahen"
Helden wurden vom Winde verweht (genauer gesagt vom Nordwind – und der bläst
nach Kanada).
Das alles hat mir Musil
natürlich nicht erzählt, als ich ihn heute auf dem akademischen Gebiet der
University of Toronto antraf. Sonst würde ja sein schriftliches Werk durch
einen nicht authorisierten parallelen Redetext
vollendet werden. Und alle Welt weiß, dass Musils Werk nie aufhört und das
es schier unmöglich ist, eine Parallele dazu zu zeichnen. Nein, er hat’s mir
nicht verraten. Ich bin ganz von selbst darauf gekommen.
Auch über andere Dinge
wahrte er das Schweigen. Und wenn man’s recht bedenkt, war der berühmte
österreichische Autor der Moderne vor seiner (Wieder-)Entdeckung
selber sowas wie ein Geheimtipp.
Musil redefined?
Der ließe sich womöglich mit ein bisschen Geschick noch einmal
wiederentdecken! The man with all the qualities. Ich werde auf
alle Fälle noch kurz in die Schweiz fliegen. Vielleicht findet sich dort was
für meine These. Auf ins Tunnelparadies! Kein Mann sollte je ohne Abfindung
aus dieser Welt scheiden.
Ich hab Angst. Ich spüre
eine große Leere um mich herum. Hätte all das Forschen einen Sinn, und wäre
der Sinn ein erfassbarer, dann hätte ich doch längst darauf kommen müssen.
Im Vertrauen: Die Sekundärliteratur schafft kein Mensch, und Primärliteratur
ist längst passé – ein offenes Geheimnis. Ich
blättere mich trotzdem fleißig durch hunderttausend kleingeschriebene Seiten
(oder sind es nur zehntausend?), aber der eigentliche Text entschwindet
innerhalb heimtückisch verpackter Antinomien, verbarrikadiert sich zwischen
den grauen Zeilen einer kapriziös verselbstigten Schrift, reißt ein großes
Loch in das gemeine Sein lebloser Kongruenzen, schmeißt althergebrachte wie
neu postulierte Weltanschauungen in einen unkatalogierbaren Haufen. Mein
Tunnel führt in die absolute Sagbarkeit: alles da.
Alles weg. Hinter der E.
J. Pratt Library liegt die Burwash Residence, hinter der Burwash
Residence liegt die Elmsley Hall. Das Iglu hier vorne steht aber nicht auf
der Karte. Brrr! ... Center for Polar Studies.
Es sieht ganz so aus, als hätte ich mich nun endgültig verirrt. Global
Warming Institute. Lauter Neubauten. Wenn sich der Nebel lüftet, ist
bestimmt wieder alles gut. Nur lüftet sich leider der Nebel im Dezember so
selten.
Aber vielleicht kommt bald
ein anderer Schneemann vorbei, zum Beispiel ein freundlicher
Geografieprofessor, der sich nicht zu schade ist, sein Wissen ausnahmsweise
mal zu einem praktischen Zweck herzugeben. Der wird mir möglicherweise auch
sagen, ob die fünfundvierzigste Parallele wirklich
als geographisch modellierte Vermittlerin im Sinne der intendierten
Parallelaktion verläuft.
Dieser Kulturkreis ist
meine Heimat, und zwar auch im geographischen Sinne. Ich erhebe Ansprüche
auf meinen Ort der Sagbarkeit. Kein Wort ohne Ort. Denn wer sich nicht
orientiert, kann nirgendwo hin
–
und die Abfindung wartet dann vergeblich auf den Mann ohne Abfindung.
Der Kaiser wäre jetzt sehr
alt, wenn er noch da wäre. Er wäre sehr müde und würde wohl ein paar Minuten
verschnaufen und sich die Ideen seiner Untertanen durch den Kopf gehen
lassen. Ich will mich jetzt mal auf diese Bank hinsetzen und versuchen, die
Idee zu erfassen, die zu erfassen ist. Lassen Sie sich nicht aufhalten.
Meine vorletzte Überlegung:
Könnte es vielleicht sein, dass ein methodologisch vertretbarer Ausweg aus
dieser vielfachen Sackgasse eines Projekts über ein Projekt darin bestände,
einfach stillschweigend weiterzumachen oder gar anzugeben, ein Ziel erreicht
zu haben, von dem man in Wirklichkeit gar nicht wissen kann, ob es da ist?
Das ethische Dilemma wäre auf jeden Fall für den Ethics Council reif.
Na ja. Im Nachwort steht
nichts darüber. Werde wohl demnächst meinen Doktorvater oder aber den
Abteilungsvorstand fragen. Und die präfabrizierte Antwort zeichnet sich
schon gleichsam in meiner Inbox ab – noch bevor ich die Frage richtig
formuliere. Ja, das könnte durchaus sein. |