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Kein Mann ohne Abfindung
...

Was immer ich auch an Gedrucktem zu schleppen vermag, wird schleunigst ausgeliehen.
Die Library Card quietscht an allen Ecken, denn in jedem Germanisten steckt ein geborener
Bücherwurm und Buchstabenmeister. Wie campusweit bekannt ist, hält mein Schreibtisch
sowieso ohne Weiteres bis zu hundert Kilo aus. Dieses Mal fiel meine Wahl auf
eine
Rowohlt-Monographie über Robert Musil.

..
V
on Vasile V. Poenaru
(01. 05. 2007)

...



Vasile V. Poenaru
bardaspoe@rogers.com

geboren 1969, zweisprachig
aufgewachsen, Studium der
Germanistik in Bukarest,
darauf Verlagsarbeit und
Übersetzungen. Derzeit
Doktorand an der
Universität Toronto.

 

 

 

Robert Musil.
Der Mann ohne
Eigenschaften.
Rowohlt, 1994, 1040 S.
ISBN: 3499134624

 


 

 

Aber dann dringen nach
einer kurzen Weile wie
auf Kommando all die
vielen altösterreichischen
Schachtelsätze hervor
ans Tageslicht, die den
Schrecken der Studenten
ausmachen.

 

 

 

 

Wilfried Berghahn.
Robert Musil.
Rowohlt, 1963, 192 S.
ISBN: 3499500817

 

 

Musils weitläufiger Satzbau
führt bestimmt wo hin. Am
besten, man besucht gleich
einmal die Endstation
seines Lebens: die liebe
käsefreundliche Schweiz –
ein Land mit vielen Löchern.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wenn jeder Torontoner je
einen Buchstaben davon
lesen würde, so wäre Musils
Werk vielleicht in einer Art
mathematischer Kollektiv-
lektüre an einem einzigen
Tag zu bewältigen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hierzulande gibt es
 regelmäßige Fernseh-
kampagnen zum Thema
"Canada reads" – dann liest
das ganze Land wie
besessen und man
versucht sich im Nachhinein
gemeinsam an das
Gelesene zu erinnern.

 

 

 

 

 

 

 

 

Interdiziplinär, multikultu-
rell, tolerant, postmodern,
umweltfreundlich, femi-
nistisch, altruistisch und
allgemein-menschlich.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jeder Mensch sollte
anfangen zu schreiben,
bevor es zu spät ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Was würde Ulrich tun,
wenn er jetzt in Toronto
wäre? Wozu würde er sich
entscheiden?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Würde er heiraten?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ulrich: Der hatte über mehr
als tausend Seiten immer
wieder eine Menge Dinge
vor. Der hat sich bis auf den
allerletzten Gedankenzug
nicht festnageln lassen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich hab Angst. Ich spüre
eine große Leere um mich
herum. Hätte all das Forschen
einen Sinn, und wäre der
Sinn ein erfassbarer, dann
hätte ich doch längst darauf
kommen müssen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

   Bitte gestatten Sie mir, ausnahmsweise mal sehr direkt zu sein: Heute hab ich Robert Musil auf dem St. George Campus der University of Toronto angetroffen. ("No kidding: the Great Non-Localized Austrian? Did he ever come to North America?") Er sah ganz so aus wie in Wirklichkeit, das heißt, er sah ganz so aus, wie er wohl in Wirklichkeit ausgesehen haben mag. Den genauen Zeitpunkt dieses unwahrscheinlichen Ereignisses kann ich übrigens zufälligerweise gerne angeben, denn das gesamte Studentenvolk rund um die Mensa herum wartete gerade auf den dritten Glockenschlag – da kann man nämlich immer offiziell (mit dem Segen des Polizeichefs und des Präsidenten der Uni) dreißig Minuten lang kräftig zulegen. Und dreißig Minuten machen in Toronto mehr als eine halbe Stunde aus!

Ich hatte aber nur ein durchschnittliches österreichisch-kanadisches Sandwich in meiner Tasche und wollte es wie immer halb gehend, halb stehend, halb schreibend und halb lesend verschlingen (und dazu einen tüchtigen Toronto Linzer, der aber freilich gar kein echter Linzer ist, sondern eben ein Toronter). Klar, ein bisschen unerwartet kam die ganze Geschichte schon.

   Das beste Wort liegt manchmal in der Tat am besten Ort geborgen, wie ein moderner Autor möglicherweise sagen würde. Man muss nur danach greifen. Man muss nur die Leute ansprechen, die wissen, was Wissen ist: Hallo, Herr Musil, wie geht’s noch mit der ganzen k. und k. Wahrscheinlichkeitstheorie und dem tieferen Sinn des Lebens? Was meint seine Durchlaucht zum Verlauf der fünfundvierzigsten Parallele?

Nein, so war’s nicht. Hand aufs Herz: Wie hätte es auch so sein können? Wenn man einen Unsterblichen antrifft, plaudert man nie mit sterblichen Wörtern. Man denkt sich einen Konzentrationspunkt des Seins, wo das große Infinit und das kleine Infinit einander unmittelbar gegenüberstehen. Und dann denkt man sich Zeit und Raum und Geist und Seele und den Brennpunkt einer Idee.

   Mit dem Sprachvermögen ist das auch immer so eine Sache. Bei einer internationalen k. und k. Berühmtheit wird man sich doch nicht einfach dem Small Talk hingeben. Zuerst hatte ich nämlich überhaupt keine Ahnung, was da zu sagen sei. Und mein Linzer steckte noch im Mund, was jetzt aber nicht heißen will, dass ich in dem Augenblick ohne Linzer sprachlich erfolgreicher gewesen wäre. Am Anfang ist jeder Gelegenheitsphilosoph in derartigen Situationen sowieso sprachlos, denn es wird einem spontan österreichisch zumute, und Österreicher überlegen sich gerne, was sie sagen wollen. Aber dann dringen nach einer kurzen Weile wie auf Kommando all die vielen altösterreichischen Schachtelsätze hervor ans Tageslicht, die den Schrecken der Studenten ausmachen. Dann ensteht anstelle eines bloßen Satzes womöglich ein ganzer Diskurs! Und wenn sich Diskurs an Diskurs reiht, wird letzten Endes noch ein Kongress daraus. In der Kongressstadt Toronto aber ist jedes Wort bestens aufgehoben. Ein echter Wiener geht nie unter.

Ja, angetroffen hab ich ihn. So seltsam das auch klingen mag – wiewohl Toronto eigentlich in der alten Sprache der Indianer nichts anderes als "Treffpunkt" bedeutet, was das mutmaßlich Seltsame dieser meiner ungestümen Berichterstattung wohl gewissermaßen aufhebt. Und schließlich bin ich Musil ja nicht begegnet – das wäre freilich strenggenommen schon rein terminologisch kaum möglich. Denn Robert Musil wird verständlicherweise schwerlich durch den größten kanadischen Campus herumstreifen wie ein x-beliebiger Doktorand, dem die wunderlich sinnvolle und originelle Idee zu seiner im voraus amtlich genehmigten These gerade aus heiterem Himmel einfallen will, es aber nie tut. Doch antreffen, ja, das geht, antreffen kann man so einen Koloss immer, besonders wenn das metaphorisch gemeint ist.

   Aber in meinem Falle war es eben nicht metaphorisch gemeint, sondern sagen wir mal bibliothekarisch. Genauer gesagt, ich lieh mir gerade eine Rowohlt-Monographie aus, ein recht ansprechendes Ding, auf das mein Blick zufällig gefallen war, als ich mal in der E. J. Pratt Library auf Lauer lag, um ein paar nicht allzu dicke Bücher für den unmittelbaren Bedarf zu holen. Gewöhnliche, unauffällige, harmlose und garantiert haltbare, leichte Bände je sauberer, desto besser. Vier Wochen lang darf man das Zeug behalten, bevor sich die Campus Police einschaltet.

Eigentlich hatte ich es zu dem Zeitpunkt, ehrlich gesagt, gar nicht auf die Musil-Monographie abgesehen, die ich mir erst später – sozusagen in fleißigeren Zeiten vornehmen wollte, zum Beispiel kurz vor Weihnachten oder, noch besser, während der Reading Week, in der ich freilich auch noch eine ganze Menge Hesse nachholen muss. Das ist – wenigstens theoretisch betrachtet – an sich ohne weiteres miteinander verträglich, obwohl der Steppenwolf kein eigentlicher Mann ohne Eigenschaften ist, sondern bloß ein recht einsames, dabei jedoch seinen Mitmenschen zutiefst verbundenes Menschenkind, das dem prädestinierten Alleinsein pointiert mit liebevollem Bleistift trotzt.

   Ein kollektives Über-Ich im individualistischen kanadischen Megalopolis? Der Gedanke mutet eher unbehaglich an. Nach der wenigstens statistisch betrachtet uneigentlichen Musil-Offenbarung jetzt noch etwa Harry Haller in Person anzutreffen, wäre für mich natürlich erst recht eine Zumutung. Aber ein klein bisschen im Steppenwolf herumlesen: durchaus machbar – denn so viele Seiten sind es auch wieder nicht, obwohl recht viele Ichs drinstecken. Außerdem gibt’s da auch noch einen Haufen Mozart und Goethe und tonnenweise verstaute Liebe und szenische Magie. (What’s not to like?).

E
ins steht jedenfalls fest: Was immer ich auch an Gedrucktem zu schleppen vermag, wird schleunigst ausgeliehen. Die Library Card quietscht an allen Ecken, denn in jedem Germanisten steckt ein geborener Bücherwurm und Buchstabenmeister. Wie campusweit bekannt ist, hält mein Schreibtisch sowieso ohne Weiteres bis zu hundert Kilo aus.

   Nur: Während der Reading Week liest man ja nicht. Und wer weiß, ob die fleißigeren Zeiten in der Tat je kommen? Mit dem Mann ohne Eigenschaften geht es nämlich wider Erwarten leider äußerst langsam voran (ich meine, gemessen am Umfang des Buches, denn strenggeommen sind vierhundert Seiten ja gar nicht so wenig, besonders wenn man sich, wenn schon nicht mühsam, so doch durchaus wohlbedacht einfühlen muss – und sonst könnte man das Ding ja gar nicht entsprechend genießen, was sehr schade wäre). Im ORF ist das allerdings zur Zeit auch zu hören (ein Kapitelchen pro Tag, drei bis vier Tage pro Woche).

Als uns der Präsident der University of Toronto vorgestern in der großen Aula mitteilte, dass wir dringend einen Ausschuss brauchen, um endlich die zum Übertreffen der Amerikaner offensichtlich nötige Originalidee in ihrer mutmaßlich atemberaubenden Urtümlichkeit zu erfassen, hatte ich gar nicht an die Parallelaktion der Altösterreicher gedacht. Jetzt weiß ich: Wer sich was einfallen lassen will, muss die Feiertage so feiern, wie sie kommen. Weihnachten ist vor Silvester. Silvester ist vor der Reading Week. Air Canada steht vor Austrian Airlines. Seine Durchlaucht steht vor seiner Exzellenz. Toronto steht vor Zürich.

   Musils weitläufiger Satzbau führt bestimmt wo hin. Am besten, man besucht gleich einmal die Endstation seines Lebens: die liebe käsefreundliche Schweiz – ein Land mit vielen Löchern. "Dem späten Autor auf der Spur" – dazu ließe sich unter Umständen ein deftiges Stipendium auftreiben. Oder Wien: "Die Parallelität des Parallelprojekts – A Continent with Qualities." Ach Quatsch! Das ist wieder so ein Mischmasch.

Ich hab’s mir ausgerechnet: Wenn jeder Torontoner eventuell im Rahmen eines denkbar möglichen Vielvölker-Verständigungsprojekts tapfererweise je einen Buchstaben davon lesen würde, so wäre Musils Werk vielleicht in einer Art mathematischer Kollektivlektüre an einem einzigen Tag zu bewältigen. Dieser Tag könnte zum Beispiel der heutige sein! Dann ließe sich sogar die neuerdings überall lautstark postulierte Unmittelbarkeit der Universal-Lektüre in einem Schlag erleben.

Und wenn jeder Österreicher gnädigerweise auch nur je ein Drittel eines Buchstabens lesen würde, dann ginge es auch. Dann hätten wir sowas wie eine internationale Verselbstigung der österreichischen Idee der Stunde, des Jahres, ja des Jahrhunderts! Dann wäre unter anderem die so heftig thematisierte, an sich freilich kaum tatsächlich bestehende Parallelaktion vielleicht bald eine Sache der Wirklichkeit. Dann könnte der Konjunktiv wegfallen. Dann war der Kaiser nie tot, sondern bloß weg.

   Aber ich muss nun eben einmal vorerst den Steppenwolf bleiben lassen und den Mann ohne Eigenschaften ganz allein schaffen. Zeile für Zeile, Blatt für Blatt, Eigenschaft für Eigenschaft (die er nicht hat, aber haben könnte). Weder die Kanadier noch die Österreicher werden mir da helfen, obwohl es hierzulande regelmäßige Fernsehkampagnen zum Thema "Canada reads" gibt – dann liest das ganze Land wie besessen und man versucht sich im Nachhinein gemeinsam an das Gelesene zu erinnern, was natürlich nicht immer leicht fällt). Na ja. Morgen ist ein neuer Tag. Ich bin hungrig. Mein Sandwich war aber klein! Ob die beim Hemingway Restaurant in ein paar Stunden was Leckeres haben?

Freilich könnte man aufgrund eines der Öffentlichkeit entsprechend unterbreiteten Vorschlags einer massenhaften Teillektüre sowas wie eine demokratische Gesamtinterpretation stückweisiger Wahrnehmung computergesteuert simulieren und als themenübergreifendes "Projekt über ein Projekt" in den österreichisch destillierten nordamerikanischen Raum methodologischer Auseinandersetzungen stellen.

   Ein zu großes Wagnis? Man denkt sich ein paar Mikrofone und einen tüchtigen Ausschuss dazu, und schon steckt einer mittendrin in der internationalen Kulturpolitik. Über die Haltbarkeit eines solchen sich selbst beinhaltenden Projekts könnte man jahrelang mit großem Schwung debattieren, ja es ließe sich durchaus argumentieren, dass eine derartige Aufgabe interdiziplinär, multikulturell, tolerant, postmodern, umweltfreundlich, feministisch, altruistisch und allgemein-menschlich sei. Dann hätte ich Idee und These problemlos im Sack.

Nur kann denn leider der Begriff "Projekt über ein Projekt" schon lange nicht mehr als originell betrachtet werden, und über die Ideen, die ihnen nie einfielen, haben auch zu viele geschrieben, als dass ich jetzt noch beiläufig eine Dissertation zum Thema loswerden könnte. Oder wäre das doch machbar?

Schnell rüber zu Nathan Phillip Square, wo heute Markttag ist. Speck, Brot und Zwiebel sollte man essen. Und Knoblauch. Das flößt nämlich Mut ein. Ist morgen wirklich ein neuer Tag?

   Ich hätte früher anfangen sollen. Jeder Mensch sollte anfangen zu schreiben, bevor es zu spät ist. Es wird mit der Zeit schrecklich eng in der Literatur, und das Alphabet ist immer noch dasselbe – von A bis O. Darüber hinaus nichts. Was zu sagen war, wurde bereits gesagt. Kein Loch mehr im Käse. Langsam, aber sicher geh ich runter zum See, um zu erkunden, ob noch Schiffe da sind, das Bündel Getippte unterm Arm, den CN-Turm andauernd im Blick: ein stolzes Bild unserer Postmoderne. Als ewige Wahrheit, die weder ewig noch wahr ist. Rührend. Ich hab Schnupfen.

Was würde Ulrich tun, wenn er jetzt in Toronto wäre? Wozu würde er sich entscheiden? Nein, das ist nicht die Frage, oder besser gesagt, das ist zwar eine mögliche, aber keineswegs eine wahrscheinliche Frage. Ulrich würde sich ja gar nicht in Toronto aufhalten, denn Toronto ist bekanntlich keine Kaiserstadt, sondern höchstens eine Königsstadt (wobei viele freilich neuerdings meinen, es handle sich eher um eine sogenannte General-Manager-Stadt).

   Auf der anderen Seite gibt es in Toronto das Fields Institute for Research in Mathematical Science. Ein mal eins macht eins, zwei mal eins macht keins. Die Hexenfrage, die keine Hexenfrage sei: Würde Ulrich als Mathematiker (der er ja nun einmal ist) etwa da einen festen Arbeitsplatz finden oder ganz im Gegenteil durch diesen naturwissenschaftlich wie geisteswissenschaftlich zwar einleuchtenden Umstand des Zuhandenseins einer international relevanten mathematischen Einrichtung auch in Zukunft philosophisch und beinahe melancholisch und mitunter sogar ziellos tiefenpsychologisch ins Weite blicken (an der es ja hierzulande nicht fehlt)?

Würde er heiraten? Würde der aus seiner Anonymität herausgerissene Möglichkeitsmensch als Abfindung dafür, dass ihm selber keine Eigenschaft beschieden war und er folglich in aller Ewigkeit dem Drang des Aufgehobenseins erliegen musste, eine langfristige Bindung mit der Versinnbildlichung übermäßiger Tatsächlichkeit eingehen? Bekäme der Mann ohne Eigenschaften zuletzt noch eine Frau mit Eigenschaften, genauer gesagt, eine Frau mit allen möglichen (und wünschenswerten) Eigenschaften? Doch nein: Wer sich so ganz ohne eindeutig identifizierbare Attribute durch das kleine Österreich und in die liebe weite Welt traut, schreckt vor nichts zurück. Der lässt sich nicht in literarische oder metaliterarische Schranken weisen – selbst bei mangelhafter Übersetzung. Der kommt ganz bestimmt auch ohne Abfindung zurecht.

   Festgenagelt sein, das ist nichts für einen Möglichkeits-Mann, und schon gar nicht für einen k. und k. Möglichkeits-Mann. Bei den Frauen vermag ich das jetzt aber nicht so genau zu beurteilen, vor allem weil sich ja Clarisse bekanntlich ein Kind von Ulrich wünschte, aber Ulrich ... Nun ja , Ulrich: Der hatte über mehr als tausend Seiten immer wieder eine Menge Dinge vor. Der hat sich bis auf den allerletzten Gedankenzug nicht festnageln lassen. Der würde sich auch hier wohl kaum so einfach festnageln lassen. Nichts wie raufsteigen auf den Turm und den Horizont erkunden. Der blickt nämlich immer weit in die Ferne.

Ich schweife ab. Tut mir leid. Passiert immer, wenn dichter Nebel durchs Uni-Gelände zieht. Dann kann man rundherum leider nicht so viel sehen. Aber ahnen lässt sich doch immerhin einiges. Da drüben zum Beispiel: Ist das dort ein Mensch oder nur ein Schneemann? Was aus seinem Mund heraushängt, ähnelt einer Karotte oder einer Zigarre. Die Kälte in seinem Blick mag irreführend sein. He! Mr. Snowman! Entschuldigung! Wo bin ich denn? Keine Antwort. Ist einfach an mir vorbei gegangen. Ein Mann ohne Manieren! Kontaktscheu. Egozentrisch. Individualistisch. Will von anderen Lebewesen nichts wissen und hat wohl seine eigene kleine Parallelaktion, die er für den Mittelpunkt der Seins hält. Was kann man schon erwarten? Von weltfremden Wissenschaftlern wimmelt es nur so in der Welt.

   Eine Standortbestimmung wäre im Augenblick offensichtlich dringend vonnöten, und zwar nicht nur im übertragenen Sinne. Mal sehn ... Mein Kompass steckt gewöhnlich in der Hosentasche. Also gut, das ist jetzt der Norden ... Moment! Dieser Weg führt ja gar nicht zum Department of German! Und in fünf Minuten muss ich unterrichten: Introduction to the history of German thought. Könnte den Studenten wohl noch einmal Goethes Hexeneinmaleins zuspeisen. Oder besser: "Der Mann ohne Eigenschaften eine Charakterisierung." Wo steckt bloß die Campus Map?

Der erste Deutsche war ein Österreicher: Diese Erkenntnis stellt einen der wichtigsten Fortschritte in der komparatistischen Betrachtung des deutschsprachigen Kulturraums dar. Weil aber jeder Fortschritt zugleich auch ein Rückschritt ist, schien es – wenigstens während der Arbeit am Roman – ratsam, vorerst von einer diesbezüglichen Verständigung der breiteren Öffentlichkeit abzusehen. Als Ulrich nämlich die Entdeckung machte, war es zu spät. Der Autor hatte aufgehört zu schreiben, und die Worte seines "autornahen" Helden wurden vom Winde verweht (genauer gesagt vom Nordwind – und der bläst nach Kanada).

   Das alles hat mir Musil natürlich nicht erzählt, als ich ihn heute auf dem akademischen Gebiet der University of Toronto antraf. Sonst würde ja sein schriftliches Werk durch einen nicht authorisierten parallelen Redetext vollendet werden. Und alle Welt weiß, dass Musils Werk nie aufhört und das es schier unmöglich ist, eine Parallele dazu zu zeichnen. Nein, er hat’s mir nicht verraten. Ich bin ganz von selbst darauf gekommen.

Auch über andere Dinge wahrte er das Schweigen. Und wenn man’s recht bedenkt, war der berühmte österreichische Autor der Moderne vor seiner (Wieder-)Entdeckung selber sowas wie ein Geheimtipp.

Musil redefined? Der ließe sich womöglich mit ein bisschen Geschick noch einmal wiederentdecken! The man with all the qualities. Ich werde auf alle Fälle noch kurz in die Schweiz fliegen. Vielleicht findet sich dort was für meine These. Auf ins Tunnelparadies! Kein Mann sollte je ohne Abfindung aus dieser Welt scheiden.

   Ich hab Angst. Ich spüre eine große Leere um mich herum. Hätte all das Forschen einen Sinn, und wäre der Sinn ein erfassbarer, dann hätte ich doch längst darauf kommen müssen. Im Vertrauen: Die Sekundärliteratur schafft kein Mensch, und Primärliteratur ist längst passé – ein offenes Geheimnis. Ich blättere mich trotzdem fleißig durch hunderttausend kleingeschriebene Seiten (oder sind es nur zehntausend?), aber der eigentliche Text entschwindet innerhalb heimtückisch verpackter Antinomien, verbarrikadiert sich zwischen den grauen Zeilen einer kapriziös verselbstigten Schrift, reißt ein großes Loch in das gemeine Sein lebloser Kongruenzen, schmeißt althergebrachte wie neu postulierte Weltanschauungen in einen unkatalogierbaren Haufen. Mein Tunnel führt in die absolute Sagbarkeit: alles da.

Alles weg. Hinter der E. J. Pratt Library liegt die Burwash Residence, hinter der Burwash Residence liegt die Elmsley Hall. Das Iglu hier vorne steht aber nicht auf der Karte. Brrr! ... Center for Polar Studies. Es sieht ganz so aus, als hätte ich mich nun endgültig verirrt. Global Warming Institute. Lauter Neubauten. Wenn sich der Nebel lüftet, ist bestimmt wieder alles gut. Nur lüftet sich leider der Nebel im Dezember so selten.

Aber vielleicht kommt bald ein anderer Schneemann vorbei, zum Beispiel ein freundlicher Geografieprofessor, der sich nicht zu schade ist, sein Wissen ausnahmsweise mal zu einem praktischen Zweck herzugeben. Der wird mir möglicherweise auch sagen, ob die fünfundvierzigste Parallele wirklich als geographisch modellierte Vermittlerin im Sinne der intendierten Parallelaktion verläuft.

   Dieser Kulturkreis ist meine Heimat, und zwar auch im geographischen Sinne. Ich erhebe Ansprüche auf meinen Ort der Sagbarkeit. Kein Wort ohne Ort. Denn wer sich nicht orientiert, kann nirgendwo hin und die Abfindung wartet dann vergeblich auf den Mann ohne Abfindung.

Der Kaiser wäre jetzt sehr alt, wenn er noch da wäre. Er wäre sehr müde und würde wohl ein paar Minuten verschnaufen und sich die Ideen seiner Untertanen durch den Kopf gehen lassen. Ich will mich jetzt mal auf diese Bank hinsetzen und versuchen, die Idee zu erfassen, die zu erfassen ist. Lassen Sie sich nicht aufhalten.

   Meine vorletzte Überlegung: Könnte es vielleicht sein, dass ein methodologisch vertretbarer Ausweg aus dieser vielfachen Sackgasse eines Projekts über ein Projekt darin bestände, einfach stillschweigend weiterzumachen oder gar anzugeben, ein Ziel erreicht zu haben, von dem man in Wirklichkeit gar nicht wissen kann, ob es da ist? Das ethische Dilemma wäre auf jeden Fall für den Ethics Council reif.

Na ja. Im Nachwort steht nichts darüber. Werde wohl demnächst meinen Doktorvater oder aber den Abteilungsvorstand fragen. Und die präfabrizierte Antwort zeichnet sich schon gleichsam in meiner Inbox ab – noch bevor ich die Frage richtig formuliere. Ja, das könnte durchaus sein.

Ausdrucken?

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