Der
1968 in Dresden geborene Arzt und Schriftsteller Uwe Tellkamp erhielt 2004
den Bachmann-Preis (für die Erzählung "Der Schlaf in den Uhren") und wurde
später u.a. mit dem Deutschen Buchpreis, dem Deutschen Nationalpreis und dem
Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet. "Der Turm", sein
monumentaler Roman über die letzten Jahre des Sozialismus, über die "tausend
kleinen Dinge", die so zwischen Geschichte und Märchenwelt herumliegen, über
die stillstehende Zeit und ihre immerfort tickenden Uhren, über "die
Wirklichkeit der Erinnerung" und "die süße Krankheit Gestern", wurde ein
Bestseller. Eine der zahlreichen Rezensionen zum "Turm" erschien in der
Zeitschrift der Germanisten Rumäniens 33-36 (2008-2009). Im vorliegenden
Interview äußert sich Uwe Tellkamp zu seinem Verhältnis zum
"deutschsprachigen Rumänien", das ihn schon immer angezogen hat, zum
"rumänischen Huhn" der 80er Jahre, zur Zeit des Märchens (der "Immerzeit")
und zur Zeit des Alltags, zum mutmaßlich eigenartig klingenden Gefühl,
"einen Teil meiner familiären Wurzeln in Rumänien suchen zu müssen" – oder
eben auch mal einfach zu Mircea Cărtărescus büffelgroßen Schmetterlingen.
AM:
Lieber Herr Tellkamp, "Der Turm" wurde bereits – einschließlich der
"süßen Krankheit Gestern" – in viele Sprachen übersetzt. Mit seinen
Bewohnern, den "Türmern", dürfte das freilich eine andere Sache
sein. Wie wichtig ist Ihnen die Beibehaltung der im Deutschen
mitschwingenden Konnotation des Türmens?
Uwe Tellkamp:
Der Turm ist als Begriff und Titel vielschichtig, das war mir wichtig.
Ich mag Titel, die in die Kindheit, in die Begrifflichkeit der Märchen
zurückführen, sie sind mit den unverlierbaren Eindrücken und Phantasien
eines Alters imprägniert, in dem man die Dinge zum ersten Mal und
deshalb besonders prägend erfährt. Titel wie etwa "Wie wir sind, können
wir nicht ändern" oder "Worüber wir reden, wenn wir über Liebe reden"
sind Erwachsenentitel, abstrakt, unanschaulich, uneinprägsam. "Das
Schloß" oder "Der Zauberberg" rufen ganz andere Dimensionen auf und an.
"Der Turm" assoziiert den Elfenbeinturm, in dem viele Bewohner meines
Buchs leben, aber auch Gefängnis und das wehrhaft-starke Bauwerk, das
übers Land blickt und Angreifer abwehrt. Am wichtigsten war mir die
Beziehung zum Dornröschenmärchen. Dornröschen sticht sich im Turm der
13. Fee an einer Spindel und fällt, wie auch das Land, in einen
hundertjährigen Schlaf. So kam mir der Sozialismus vor. Die Assoziation
des "Türmens" spielte demgegenüber eine untergeordnete, gleichwohl nicht
unberücksichtigte Rolle.
AM:
Ihre "Geschichte aus einem versunkenen Land" ist im gewissen Sinne die
Geschichte vieler Menschen aus dem sogenannten Ostblock, eine
Geschichte, in der man sich – oder etwa am liebsten die anderen – leicht
erkennt, eine Geschichte, über die viele sagen können: Ja, so war das –
auch wenn es ganz anders war; ein durchaus nachvollziehbares Zeugnis.
Wann regte sich bei Ihnen der Verdacht, den Nerv der Zeit getroffen zu
haben? Besser: Entstand erst der Verdacht oder war es von Anfang an
Gewissheit?
Uwe Tellkamp:
Den Verdacht, einen Nerv der Zeit getroffen zu haben, hatte ich beim
Schreiben nie, ganz im Gegenteil. Ich lebte in Karlsruhe, einer Stadt
weit im Westen Deutschlands, in der sich so gut wie niemand für diese
Geschichten interessierte und ich das Gefühl hatte, vom Mars zu stammen
und ein Buch zu schreiben, das niemals verlegt, geschweige denn gelesen
werden würde. Mich selbst hatte das Buch gefangen, ich spürte einen Sog,
einen Zwang, es zu schreiben, ganz gleich, wie seine Erfolgsaussichten
beschaffen waren. Es war zu guten Teilen meine Geschichte, und ich hatte
das Gefühl: Wenn du dieses Buch nicht fertigbringst, werden dich seine
Geister für immer verfolgen.
AM:
Schreiben Sie gerne aus dem Stegreif?
Uwe Tellkamp:
Nein, keineswegs, abgesehen davon, dass wohl jeder Anfang, sei es ein
Satz oder ein Kapitel, gewisse Züge von Stegreifschreiben trägt. Wenn
der Stift übers Papier spazierengeht, entsteht, was mich betrifft,
schweifende, assoziative Prosa ohne Struktur, und je mehr ich
fortschreite von Anfang zu Anfang, was heißt: von Text zu Text, desto
stärker interessiert mich eine Prosa, die von der Schönheit der
Sinngefüge, den Beziehungs- und Handlungsstrukturen, also dem "inneren
Design" lebt und weniger vom sprachlichen Bild, das lyrischen Ursprungs
ist und in erzählender Prosa meiner Meinung nach nicht dominieren
sollte.
AM:
"Brücken zwischen Bukarest und Prag und Warschau und Berlin" schlagen:
Ist das anhand des gemeinsamen Nenners des Zusammenbruchs eines Systems
leichter als etwa Brücken zwischen Berlin und Berlin zu schlagen? Und:
versunkenes Land vs. untergegangenes Land – sind die zwei Begriffe
austauschbar?
Uwe Tellkamp:
Die Bewohner der Städte, die Sie beispielhaft nennen, teilen manche
Erfahrung miteinander, das verbindet manchmal stärker als die
(scheinbar) gemeinsame Sprache. Jeder, der den Sozialismus erlebt hat,
ganz gleich, ob in Warschau oder Bukarest oder Leningrad, weiß etwas mit
dem Begriff Stromausfall anzufangen, kennt das Schlangestehen vor den
Geschäften, weiß, was sich hinter dem Begriff "Vitamin B"
("Beziehungen") verbirgt, kennt die Aufmärsche vor Tribünen, die
Indoktrination seitens eines absolutistisch verfassten Staates – kennt
aber auch die schwejkschen Schlitzohrigkeiten, mit deren Hilfe es
gelang, den Alltag zu meistern, weiß etwas anzufangen mit Improvisation
und dem sonderbaren Phänomen, dass aus einer Glasmurmel eine ganze Welt
steigen kann, dass die Intensität des Erlebens den Mangel wettmacht, ein
einziger vergessener Farbtupfen in unseren aschegrauen Städten etwas
Unvergessliches bedeutet hat, das sich Besucher aus dem saturierten
Westen, der freilich seine eigenen, anderen Probleme hatte und hat, nur
schwer erklären konnten. Ein versunkenes Land ist eines, das nicht
wieder auftaucht, ein untergegangenes Land könnte das, deswegen halte
ich die beiden Begriffe auseinander. Ich glaube nicht, dass es etwas wie
die DDR je wieder geben wird. Andere Gesellschaftsentwürfe sind denkbar,
ich glaube, nicht so etwas wie die DDR.
Aber wie sagt schon James Bond: Sag
niemals nie …
AM:
Es gibt in Ihrem "Turm" ein paar wenige explizite Rumänien-Bezüge
– und sogar ein paar rumänische Wörter, etwa pasaport, papuci und
priculici. Wo kommen die her? Was bewerkstelligen sie?
Uwe Tellkamp:
Der Turm ist auch Sprachen-Buch. Ihre Frage führt in die motivischen
Tiefen. Geäußert werden diese Worte von einer alten Frau, die aus
Siebenbürgen stammt, dessen Sprache sich, soweit ich weiß, mit
Rumänismen durchmischt hat. (Jedenfalls hatte ich diesen Eindruck, wenn
Oskar Pastior sprach – auch dann, wenn es nicht seine Gedichte waren, in
denen er diese Durchmischung ja auch pflegt.) Mich hat dieses Deutsch,
das lange vom Wein einer anderen Sprache getrunken hat, immer schon
fasziniert; vielleicht hängt das auch mit meiner Familiengeschichte
zusammen, denn meine Großmutter stammte aus Schlesien, auch sie sprach
ein solches in meinen Ohren merkwürdig klingendes, den Jungen, der ich
war, überaus fesselndes Deutsch. Auch ganz Privates spielt eine Rolle.
Mich hat das deutschsprachige Rumänien, also das Banat, Siebenbürgen,
das Buchenland, immer angezogen, ich konnte mir nie recht erklären,
warum. Von meinem Großvater mütterlicherseits weiß ich absolut nichts,
es gibt keinen Namen, kein Foto, keinerlei biographische Anhaltspunkte;
meine Großmutter hat über ihn bis ins Grab geschwiegen. Eginald
Schlattner sagte mir anlässlich eines Besuchs, ich hätte "so ein liebes
Hermannstädter Gesicht", und auch der Name Uwe sei für Siebenbürgen
nicht so ungewöhnlich. Seltsam und bewegend für mich, dass er mir das
sagte. Das mag für Sie etwas eigenartig klingen, aber ich hatte immer
das Gefühl, einen Teil meiner familiären Wurzeln in Rumänien suchen zu
müssen.
AM:
Im sozialistischen Atlantis versinkt nicht nur das DDR-Regime,
sondern die Welt kommunistischer Diktaturen überhaupt, eine Welt, die
einst sozusagen vom Elbischen Fluss bis zum Donaudelta (und darüber
hinaus) reichte. Sie sprechen von einem tief in den
mythologisch-märchenhaften Schichten des Romans versteckten
Rumänienbild. Könnten Sie bitte näher darauf eingehen?
Uwe Tellkamp:
Auch Ihre Frage nach dem Rumänienbild des Buchs zielt in die Tiefen der
Motivarbeit. Dieses Rumänienbild existiert ja nicht explizit, es ist
verwoben mit dem für mich sehr wichtigen Märchengewebe, auf das alle
anderen Schichten des Romans aufgearbeitet sind wie Ornamentik auf den
Grund eines Stoffs, "Rumänien" ist dann eher eine Metapher für
"Märchen", wie ja auch Ceauşescus Herrschaft etwas von einem finsteren
Märchen hatte. Bauten wie der Palatul Parlamentului sind ja nicht mehr
europäisch, sondern scheinen aus Vorzeiten aufzutauchen, aus der Welt
der Pharaonen, der legendären Könige Assurs, und mich hat immer
fasziniert, wie so etwas mitten im 20. Jahrhundert mitten in Europa
möglich ist. Der dritte Schwarzkönig des 20. Jahrhunderts, Ihr
Conducator, und die Schwarzkönigin, seine Frau, erschienen mir, was ihre
Macht, ihre Handlungen und Wirkungen betrifft, eigentlich nur
vergleichbar mit Pharaonen, deren Gottvertretung und Hohepriestertum, ja
Gottgleichheit sie anstrebten.
AM:
Ein Thomas-Bernhard-Zitat: "Europa, das schönste [Märchen], ist tot; das
ist die Wahrheit und die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist, wie die
Wahrheit, kein Märchen, und Wahrheit ist niemals ein Märchen gewesen."
Stimmt das? Oder: Spricht Sie das an?
Uwe Tellkamp:
Thomas Bernhard verkennt eine entscheidend wichtige Wirklichkeit in
seiner Aussage, nämlich die der Erinnerung, zu der ja alle Wirklichkeit,
ist sie vergangen, wird. Ich glaube, er hat abseits seiner
vielbeschworenen düsteren Kindheitserfahrungen von den Wirklichkeiten
des 20. Jahrhunderts, gerade auch denen im Sozialismus, nicht viel
gewusst. Nur so kann ich mir eine derart flache und ahnungslose Aussage
erklären. Märchen beschreiben doch nichts anderes als (verdichtete)
Wirklichkeiten, genauer: Sie beschreiben das, was davon in den
Vorstellungen der Menschen geblieben ist, und jede Wirklichkeit ist auch
eine Wahrheit. Ist es kein Märchen, dass ein Schusterssohn aus
Scorniceşti ein Imperium errichtet, in dem er sich als Sonne der
Karpaten feiern lässt? Hat das sogenannte "rumänische Huhn" der 80er
Jahre, das nur aus Krallen und Hahnenkämmen zu bestehen schien, nicht
das Ansehen eines ziemlich märchenhaften Tiers? Ist die Errettung eines
Mannes, der den Holocaust in einem Antwerpener Zoo unter Affen
überlebte, als Mitglied ihrer Herde, nicht märchenhaft – nämlich dann,
wenn etwas für die Wirksamkeit von Wirklichkeiten Entscheidendes
hinzukommt: das Vergehen von Zeit, das ja auch nicht so ganz geheuer
ist. Im übrigen würde ich solchen Äußerungen, gerade auch von Bernhard,
der die pointierte Rede liebte, nicht allzuviel Bedeutung beimessen. Der
Text "Amras" ist ein zutiefst romantischer, also auch märchenhafter
Text, und Bernhard hat ihn als seine Lieblingsarbeit bezeichnet.
AM:
Der Generationenkonflikt, der Vater-Sohn-Konflikt umspannt Ihren Roman
in mehrfacher Hinsicht, besonders dramatisch etwa bei Altbergs indirekt
geschildertem Vatermord, der eine – freilich verzerrte – Widerspiegelung
der Ermordung Hildebrants durch Hadubrant darstellt. Schon im zweiten
Kapitel des Turms wird im Vorfeld dieses hierin breit
thematisierten Konflikts – zum Teil sogar auf gut Althochdeutsch – aus
dem Hildebrandslied zitiert. "Ik gihorta dat seggen / dat sih
urhettun / aenon muotin". Oder: "sunufatarungo". Das hört sich sehr
urtümlich an. Wann beginnt Ihre Geschichte eigentlich?
Uwe Tellkamp:
Sie beginnt in der kreisenden, das heißt: allgegenwärtigen Zeit der
Märchen.
AM:
"
... aber dann auf einmal ...
schlugen die Uhren": Zeit, das ist bei Ihnen ein Schlüsselbegriff, mit
dem aus oft unwahrscheinlicher Perspektive experimentiert wird. Und es
gibt im "Turm"
– wenn schon keinen Urgroßvater – immerhin einen Uhrengroßvater, was
sich (leider nur im Deutschen) angesichts des auch phonetisch vorzüglich
inszenierten semantischen Transfers besonders gut anhört. Im Turm dreht
sich alles um die Zeiger, um die Pendel. Es tickt andauernd, es klickt,
und dann kommt auf einmal der Doppelpunkt, dann kommt die Wende: das
vorläufige Ende Ihres Romans. Mögen Sie Uhren?
Uwe Tellkamp:
Uhren faszinieren mich seit meiner Kindheit. Es gehört zu meinen
prägendsten Kindheitseindrücken, an warmen Tagen, wenn die Fenster
geöffnet waren und ich von der Schule kam, die Uhren des Viertels
schlagen zu hören. Ins Viertel kam ein alter Uhrmacher aus Glashütte,
einem für seine Uhrenbautradition bekannten Städtchen im Erzgebirge. Er
reparierte und wartete die Uhren in unserem Viertel, und ich durfte ihm
dabei zusehen, wodurch ich auch in viele Wohnungen kam und deren
Bewohner kennenlernte. Jede dieser Uhren, die großen Standuhren, die
Pendulen und Stutzuhren, die Regulatoren, hatte eine Geschichte. Ich
erinnere mich an eine sogenannte Schwalbenschwanzuhr, eine Uhrenart, die
im Iser- und im Riesengebirge gebaut wurde. Sie war der alten Dame, bei
der ich sie sah, einst zur Hochzeit geschenkt worden, bei der das
Brautgut, ein buntbemalter Schrank, ein Pfostenbett, die Kinderwiege,
das sogenannte Brothäusel mit Topfbrett auf einem Erntewagen gebracht
wurde und das ganze Dorf auf den Beinen war. So erfuhr ich angesichts
einer Uhr etwas über Hochzeiten im Isergebirge.
AM:
"Aber man
darf nur die Hälfte von dem glauben, was die Ärzte sagen, und wenn sie
etwas schreiben, sollte man besonders misstrauisch sein": So zitiert
Altberg seinen Vater, den Apotheker. Sie, Herr Tellkamp, sind ein Arzt,
der etwas zu sagen hat, und der das, was er zu sagen hat, sogar
schreiben kann. Wieviel darf man, wieviel soll man von Ihren
Geschichten, von Ihren Märchen, von Ihrer Wahrheit und Ihrer
Wirklichkeit glauben?
Uwe Tellkamp:
Diese Frage beantworte ich mit einem verschwiegenen Lächeln, dem Lächeln
der Geschichtenerzähler, die wissen, dass die Phantasie die Wirklichkeit
von morgen sein kann, und die Wirklichkeit von gestern in unseren
Erzählungen fortlebt. Mircea Cărtărescu schreibt in seinem Roman "Die
Wissenden“ (Orbitor. Aripa Stângă) von büffelgroßen Schmetterlingen, die
die aus Bulgarien kommende Sippe der Badislavs in der zugefrorenen Donau
erblickt, und nachdem ich das, was er auf einzigartige Weise und mit
größter poetischer Kraft schildert, gelesen habe, weiß ich, dass es
büffelgroße Schmetterlinge gibt, deren Flügel weiches, essbares Fleisch
haben.
AM:
"Übersetzer sind die genauesten Leser." Diese Worte lassen Sie Baron
Arbogast aussprechen. Sie beziehen sich zu Beginn und dann wieder gegen
Ende des Romans auf die "zwei Riesen", die die Glocke auf dem
Kroch-Hochhaus in Leipzig anschlagen. In Wirklichkeit schlagen die zwei
Glockenmänner aber gar nicht die selbe Glocke an. Die große Glocke wird
vom rechten Glockenmann angeschlagen, und die mittlere Glocke vom linken
Glockenmann. Gehen hier Sein und Schein auseinander?
Uwe Tellkamp:
Bravo, Sie sind wirklich ein sehr genauer Leser. Diese Frage stellen Sie
mir, ein Rumäne, nicht etwa ein Leipziger oder sonst überhaupt ein
(deutscher) Leser! Zwei Riesen – zwei Zeiten: die des Märchens (die
Immerzeit) und die des Alltags.
AM:
Mittlerweile wurden Inszenierungen des "Turms" in Dresden und Wiesbaden
aufgeführt. Geht etwas verloren, wenn man ihre monumentale Geschichte
der "tausend kleinen Dinge", Ihre langatmigen Geschichten aus einem
versunkenen (und von Ihnen nun gleichsam geborgenen) Land in zweieinhalb
Stunden Bühnenzauber verpackt? Wird etwas gewonnen?
Uwe Tellkamp:
Dazu muss ich sagen, dass ich nur die Dresdner Inszenierung kenne, ich
habe keine weitere Aufführung des dramatisierten Turm-Stoffs gesehen. In
Dresden wird das Buch (und übrigens recht gut) auf seinen Handlungskern,
die Szenen, zurückgeschnitten. Nun ist aber Handlung nicht alles, wie
jeder Proust-Leser weiß.
AM:
Am Anfang hatte die Zeit Geduld mit den Menschen, so der 1980
verstorbene rumänische Erfolgsautor Marin Preda in seinem Roman "Morometii"
(Schatten über der Ebene). Auch in Ihrem "Turm" sieht es am Anfang ganz
so aus, als hätte die Zeit sozusagen sehr viel Geduld – und am Ende gibt
es dann fast nur noch Snapshots. Die Zeit verliert ihre Geduld. Für wen
schlagen Ihre Glocken, nein, Ihre Uhren?
Uwe Tellkamp:
Am Anfang scheint tatsächlich alles stillzustehen, man scheint durch
Leim zu waten. Am Ende des Buchs rast die Handlung, rast die Zeit. Für
wen? Ich fürchte, für die Epoche der Zahlen, die nach der mit den
Umwälzungen von 1989 endenden Epoche des Sozialistisch-Atlantischen
Reichs anbrach.
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