I did not die as the hero of
the saga did.
Now stay if you like
but, if you want to, go.
..(Charles Reznikoff)
Seine
Geburtsstadt Merzig liegt eine Fahrradtour von jenem Ort entfernt, in dem
ich ins Gymnasium ging. Heimat, wenn man so will. Verkehrt in jenes
Gegenteil, von dem die Heimat ungern spricht. Heimat, aus der man vor seinen
Landsleuten flieht.
Wir Kinder vom Land machten Abitur, ohne seinen Namen je gehört zu haben.
Argumente gegen eine Zeit, deren Pragmatismus uns quälend banal erschien,
fanden wir bei Novalis, Hesse und Thoreau.
"Magie
der ewig einen Chiffre Wald", wie Jean Améry es in den Unmeisterlichen
Wanderjahren so treffend ausgedrückt hat – wir waren ihr heillos
verfallen, ständig auf der Suche nach Beweisen, die uns bestätigten in
unserer zu spät gekommenen Sehnsucht nach einer Rebellion, die längst vorbei
war und nur in der Provinz noch eine letzte Nippflut erlebte.
Während wir uns gegenseitig übertrumpften in unserem Bescheidwissen über
deutsche Spießigkeit, lag der Jüdische Friedhof drei Straßen weiter. Wir
aber fragten nicht nach Adolf Kahn, Johanna Levy, Moritz Moses, stattdessen
nahmen wir das Dritte Reich in der Schule durch. Dort bestand es aus
ruckelnden Schwarzweiß-Filmen, nach denen wir uns mit belegter Zunge in den
Lärm der großen Pause verdrückten. Hätte uns damals jemand durch die Dörfer
geführt und gesagt: hier wohnte Eduard Maas, KPD-Mitglied, Häftling in
Dachau, erster Bürgermeister des Dorfes nach dem Krieg, gestorben an den
Folgen dessen, was seine Landsleute ihm angetan hatten; hier wohnte der
Bauarbeiter Nikolaus Hubig, der nach Frankreich floh und weiter nach
Spanien, sich zu den Internationalen Brigaden meldete und am Jarama fiel;
hier wohnte ein Bergarbeiter, der antinationalsozialistische Flugblätter in
Heuhaufen versteckte, damit die Bauern sie fänden … ich weiß nicht, wie wir
reagiert hätten. Nicht auszuschließen, dass wir in begriffsstutziges
Schweigen verfallen wären. Hatten wir nicht gelernt, der Faschismus stamme
von römischen Rutenbündeln ab?
"Das
starke Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit hatte grundlegende
Veränderungen in der Lebensführung aller Schichten zur Folge; es wurde
1974 durch die weltweite Rezession, die auch auf die Bundesrepublik
Deutschland übergriff, zeitweilig unterbrochen."
Mit
diesem Satz schließt das Geschichtsbuch, das uns in die Gegenwart entließ.
Besser könnte man die Ignoranz, die wir in unseren zu spät gekommenen
Träumen reproduzierten, nicht beschreiben. Groß geworden mit den
Existenzgründungserfolgen der sechziger und siebziger Jahre, hatten wir die
Dimensionen aus den Augen verloren. Indianische Weisheit und altdeutsche
Wehmut verkochten wir zu einem Rezept für die Rettung des Erdballs, anstatt
in nächster Umgebung bei der Sache zu bleiben. An den Familientischen war
immer irgendein Nachbar der Hundertfünfzigprozentige gewesen, hatte immer
irgendeine Tante den Russen, Polen, Franzosen Kartoffeln über den Zaun
geworfen (klammheimlich, versteht sich, damit der hundertfünfzigprozentige
Nachbar es nicht sah). Ansonsten war von Zukunft die Rede, von
Bausparverträgen – Deutschland hatte schließlich lange genug an Israel
gezahlt (sagen wird man es doch wohl noch dürfen). Dem hielten wir trotzig
die sterbenden Wälder entgegen. Hörten die musikalisch aufbereitete Rede des
Häuptlings Seattle an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, bis wir sie
auswendig wussten.
Wenn nach Feierabend die Kunst ihr Plätzchen bekam, glaubten wir, für
Augenblicke einig zu sein in einer verführerisch schönen Erinnerung, die
leider im emsigen Tagesgeschäft allzu rasch wieder verflog. Doch war die
Sehnsucht, der sie huldigte, erst recht nicht Trauer um einen Verlust,
dessen Realität jede Vorstellungskraft hätte sprengen müssen, sondern
sorgsam gepflegtes Erbe vermeintlich besserer Zeiten. Eichendorff-Trauer,
Tod-in-Venedig-Trauer. Wer sich danach noch für die Geheimnisse des Todes
dreiunddreißig bis fünfundvierzig interessierte, hatte mit den Erinnerungen
Albert Speers Phantastisches genug.
Spuren,
die zu Gustav Reglers Leben hätten führen können, enthält das besagte
Geschichtsbuch im Kleingedruckten: die Saarabstimmung von 1935. Der
Spanische Bürgerkrieg. Ihnen nachzugehen war im Lehrplan für Gymnasien des
Saarlandes nicht vorgesehen.
"Nackt werde ich sein wie ein Hintern über der Latrine." Mit diesem Satz aus
Reglers Großem Beispiel hätte das Kapitel zum Dritten Reich beginnen
müssen. Vielleicht wäre uns damit auch die so genannte Heimat näher gekommen
als in den Familientischerzählungen von einem Krieg, aus dem die Deutschen
von den Alliierten befreit werden mussten.
Geboren
1898, wuchs Gustav Regler in einem Haus auf, das nicht unbedingt typisch war
für eine deutsche Kleinstadt dieser Jahre. Sein Vater Michael, ein
kritisch-liberaler Kopf, führte eine Buchhandlung (diesen Beruf hatte er
gegen die ihm zugedachte Priesterlaufbahn durchgesetzt), die Mutter Helene,
mit einer Neigung zum Schwärmerischen, trug den drei Kindern selbst
verfasste Gedichte und Geschichten vor. Zu den Kindheitserinnerungen gehören
Spaziergänge an die deutsch-französische Grenze, wo der Vater dem jungen
Gustav den für damalige Verhältnisse geradezu hochverräterischen Beweis
erbringt, dass dem Geschmack nach nicht zu unterscheiden ist, welche Äpfel
germanisch sind und welche gallisch.
Doch ist der Achtzehnjährige so weit auch Kind seiner Zeit, dass er es kaum
erwarten kann, teilzunehmen am Großen Krieg. Die Realität der Schlachten
bringt eine schwere Erschütterung – der Patriot vom Chemin des Dames
erleidet nach Verwundung und Gasvergiftung einen Sprachverlust und wird im
Februar 1918 als "dienstunbrauchbar" entlassen.
Die
folgenden Jahre, geprägt von Widersprüchen, sind vielleicht gerade deshalb
typisch für diese Nachkriegszeit. Wandervogel und George-Verehrung,
Nietzsche, die deutsche Mystik, die Münchner Räterepublik – das alles fließt
im Tagebuch zusammen und lässt erkennen, dass die Gärung begonnen hat. Doch
wird sie noch einmal gestoppt. Die Ehe mit Charlotte Dietze beschert ihm den
Juniorchefsessel im Handelsunternehmen des Schwiegervaters, der außerdem die
Dissertation des frisch Promovierten in seinem eigenen Verlag publiziert und
dem jungen Paar großzügige Unterstützung gewährt. Lange hält Regler diese
"Existenz im Goldenen Käfig“ (Günter Scholdt) jedoch nicht aus, und das
Scheitern der Ehe ist wohl nur mehr willkommener Vorwand – 1926 sucht er
sein Heil in der Flucht. Im Tagebuch dieser Zeit heißt es: "Die Unruhe
wächst. Bücher häufen sich rings. Vorgeschobene Mauern vor der eigenen
Seele, die klopft."
In
seinem ersten Roman – Zug der Hirten (1928) – gestaltet er einen
Konflikt, der in vielerlei Formen in seinen Texten wiederkehren wird: den
Aufruhr eines Denkens, das glauben möchte, ohne seinen Frieden machen zu
müssen mit dieser Welt. In der Lebensgeschichte (Das Ohr des
Malchus) schreibt er zur Entstehung dieses Romans:
"Sich
nicht schrecken lassen vom oft Gehörten! Das Einfache noch einmal
einfach sagen! Wie oft hatte ich versucht, aus der Gewohnheit der
Bibelbetrachtung herauszukommen! Der Gekreuzigte sagte mir nichts mehr,
selbst der von Grünewald nicht, der wirklich eine neue Kraft des Leidens
darstellte. (…) Im Murmeln der Gewohnheit zerrieb sich selbst das
Vaterunser zu einem Geräusch über gefüllten Suppentellern."
Wenig
später, auf einer der zahlreichen Reisen, lernt er das Experiment Worpswede
kennen. Marieluise (Mieke) Vogeler wird seine große Liebe, ihr Vater
Heinrich führt ihn in die Ideen des Kommunismus ein.
Während er in den folgenden Jahren versucht, den Schriftsteller in sich zu
begreifen, huldigt das Volk der Dichter und Denker immer begeisterter der
Politik der "Metzgertänze" (Ernst Bloch). Die Massen, von denen George sich
so peinlich berührt abgewandt hatte im Namen des schönen Scheins – nun
brüllen sie wahrhaftig einem "Führer" ihren Applaus.
1933 kehrt Regler in seine Heimat – das dem Völkerbund unterstellte
Saargebiet – zurück, um am Abstimmungskampf teilzunehmen. In zahllosen
Kneipensälen tritt er vor Berg- und Hüttenarbeitern auf, versucht ihnen zu
erklären, dass ihre Vaterlandsliebe von einer Diktatur missbraucht wird. Und
er weiß, wovon er spricht. Er hat an Willi Münzenbergs Braunbuch über
Reichstagsbrand und Hitlerterror (1933) mitgearbeitet. Zwischen den
Veranstaltungen schreibt er an seinem Saar-Roman Im Kreuzfeuer
(1934), den er 26 Jahre später als "ein scheussliches Buch" bezeichnen wird.
Ein Agitationsroman in grellen Kontrasten, geschrieben unter dem Druck,
nichts als Worte zu haben, um die blinde Begeisterung für Hitler zur
Vernunft zu bringen. "Nix wie hemm!", lautete die griffige Parole des
Philologen Goebbels. "Unsere Losung hatte einen lateinischen Namen:
Status quo. Status quo vor Arbeitern, die nur die Volksschule besucht
hatten, Status quo vor Bauern, die zum Teil nicht lesen konnten (…)" (Das
Ohr des Malchus). Am 13. Januar 1935 findet die Abstimmung
statt. 89 Prozent wollen "hemm". Regler, zum Staatsfeind abgestempelt,
flieht nach Frankreich.
Die
beiden nächsten Kapitel der Lebensgeschichte spannen den Bogen, der
reißen wird: "Gott in Moskau" – "Madrid qui bien resiste …". Seine Teilnahme
am Moskauer Schriftstellerkongress von 1934 stellt Regler im Rückblick aus
der Perspektive des skeptischen Beobachters dar. Es ist nicht die einzige
Retusche in diesem Buch, das in den Augen vieler Kritiker einer seiner
literarisch besten Texte ist, der allerdings in biographischer Hinsicht
etliche Fragen offen lässt.
Klaus Mann, der ebenfalls am Kongress von 1934 teilgenommen hatte, sieht
Regler im Wendepunkt in jener Gruppe von Schriftstellern, die "das
marxistisch-leninistisch-stalinistische Dogma in seiner reinsten und
starrsten Form" vertreten. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass auch
Der Wendepunkt zuweilen überquillt von mythomanischer Plaudersucht – aus
der Luft gegriffen ist dieser "militante Glaubenseifer" (Klaus Mann) nicht.
Deutlicher als in der Lebensgeschichte ist die ideologische Krise im
ersten Spanien-Roman gestaltet, der 1940 auf Englisch erschien – The
Great Crusade (dt. Das große Beispiel, 1976), mit einem Vorwort
von Ernest Hemingway. Regler verteilt den Konflikt auf zwei Figuren,
konfrontiert die rigiden Ansichten des Politkommissars Albert mit der
melancholischen Hellsicht des Arztes Werner. Symbolisch kehrt mehrfach
Alberts Angina wieder: die Angst, die Enge – die Klemme, in der er steckt.
"Das ist ein besonders ergiebiger Fall", geht es Werner durch den Kopf. Und:
"Es wird nicht seine letzte Angina in diesem Krieg sein." Albert, der ihn
einen "roten Psychiater" nennt, verteidigt am Ende des Romans noch einmal
die harte Linie der Partei. In dem langen Gespräch, das sich daran
entzündet, macht Werner keinen Hehl mehr daraus, dass er den Glauben an
jegliche Dogmen verloren hat:
"Kannst
du jemand dienen, mit Begeisterung dienen, der dich ewig schief ansieht,
der mitten im Satz verstummt, wenn du ins Zimmer kommst? Ich nenne das
Erziehung zum Verräter. Man wird es aus Opposition. Aus Rache. Es ist
ein Befreiungsakt. Damit ihr endlich recht bekommt (…)."
In
der englischen Ausgabe, die sich an wesentlichen Stellen von der deutschen
unterscheidet (die im Übrigen keine Ausgabe letzter Hand ist), klingt es
noch etwas schärfer: "I could never be happy if I had to smell the police at
every street corner of our fine new world."
Im
Juni 1937 wird Regler bei Huesca so schwer verwundet, dass zahlreiche
Berichte seinen Tod verbreiten. Während der langwierigen Rekonvaleszenz
beginnt er mit der Arbeit am ersten Spanien-Roman; Juanita (1942
beendet, erschienen 1986) sollte der zweite werden. Außerdem leistet er nach
wie vor politische Aufklärungsarbeit im Widerstand gegen das Dritte Reich.
Etliche der Schriften, die in Tütchen mit Blumensamen oder eingefügt in
einen Reclam-Klassiker nach Deutschland geschmuggelt werden, stammen aus
seiner Feder.
Kurz nach dem Kriegsausbruch 1939 wird er in Südfrankreich interniert. Hier,
im Lager Vernet, kommt es zum endgültigen Bruch mit der Partei. Der
Hitler-Stalin-Pakt, die sowjetische Attacke gegen Finnland – es lässt sich
nicht mehr schönreden.
Dass er aus dem Lager entlassen wird und in die USA ausreisen darf, hat
Anlass zu bösen Beschuldigungen gegeben. Er habe sich die Freilassung mit
dem Verrat von Kameraden erkauft, lautete der schwerste Vorwurf. Er habe ein
Papier unterschrieben, dass er kein Stalinist sei, behauptete die mildere
Version. Egon Erwin Kisch fällt in der Zeitschrift Freies Deutschland
über ihn her (Februar 1942), es sind die bekannten Verleumdungen, die auch
gegen Arthur Koestler, Manès Sperber oder Ignazio Silone in Umlauf gebracht
wurden. Die Zeitung La Voz de México liefert eine unmissverständliche
Illustration dazu: der "Baum des Verrats", der aus Trotzkis verwitterndem
Schädel wächst. Auf einem der Äste, die sich als Schlangen winden, steht der
Name Regler.
Die vertriebene Autorität von Gottes Gnaden wartet nur darauf, im Gewand der
Theorie zurückzukehren. Dann reitet ausgerechnet in Jena, dem Treibhaus für
blaue Blumen, der Weltgeist ein. Und der Symphonie, die den Mann der Tat in
den Himmel hebt, folgt das Klavierkonzert, das den Tyrannen scheucht. Das
wäre die wichtigste Lektion gewesen, die wir, geboren um jenes Jahr, das
eben sein vierzigstes Jubiläum feiert, hätten lernen können. Waren wir denn
nicht aufgebrochen aus der längst als zu eng empfundenen Provinz, um uns
ernsthafter Lektüre zuzuwenden?
Jetzt
hätte ich ihm zum zweiten Mal begegnen können: in Mexiko, das ich mir ein
Studium lang von Malcolm Lowry beschreiben ließ. Ignotum per ignotius,
obscurum per obscurius …
pseudokabbalistischer
Budenzauber,
Urräume der Finsternis, Mystik des Deliriums. Während in Rufweite neben dem
alkoholisch verwilderten Paradies des Konsuls Gustav und Mieke auf der
Terrasse ihres Exils saßen. Ich habe sie nicht bemerkt.
Im
September 1945 stirbt Mieke an Krebs – nach zwölf Jahren freiwilligen Exils,
die sie ihm zuliebe auf sich genommen hat. Regler nimmt Abschied von ihr mit
einem Gedichtband, der ihren Namen als Titel trägt.
1946 heiratet er die Amerikanerin Margaret (Peggy) Irwin. Ihr Optimismus
wird "für den so umfassend Gescheiterten", den nicht selten Melancholien
heimsuchen, "zum Rettungsanker" (Günter Scholdt). Ein Handel mit
mexikanischer Kleidung, ein nicht ganz so erfolgreicher Versuch im Obst- und
Gemüsebau, die Einrichtung einer Pension für Feriengäste – dank dieser
Initiativen Peggys konnte Regler in den folgenden Jahren noch einmal eine
bewundernswerte Produktivität entwickeln. Jeder Schriftsteller würde diese
Frau auf Händen tragen, und ein Foto in der Biographie von Günter Scholdt
bezeugt, dass Regler das auch getan hat (soweit seine Konstitution nach der
Verwundung von Huesca es ihm erlaubte). Im Lande Wilhelm Meisters aber
blickt man bekanntlich tiefer, und da deutsche Intellektuelle seit jeher
ihre Schwierigkeiten haben mit Amerika, danken wir es an dieser Stelle
Ludwig Harig, dass er uns über die Phantasiefeindlichkeit von Peggys
Zeigefinger aufgeklärt hat (zu finden in dem Band Begegnung mit Gustav
Regler) – womit ein weiteres Mal bewiesen wäre, dass die
Beweihräucherung des Hinterwaldes kein Weimar produziert, sondern die zu
erwartende Stickluft.
Mexiko.
Vulkanisches Land, Verwunschenes Land – in den Texten der
Vierziger und Fünfziger Jahre nimmt es immer breiteren Raum ein, inspiriert
Regler zu poetischen Essays, die in ihrer Verknüpfung von Impression und
Reflexion vielleicht mit zum Besten gehören, was er geschrieben hat. Auch
hier setzt er die Erzählung der eigenen Geschichte fort, stattet seine
Figuren mit Bruchstücken seiner Biographie aus, führt in neuen Spielarten
das Gespräch zwischen Albert und Werner fort. Am Tag der Toten etwa, wenn er
einen Psychoanalytiker und einen Kommunisten jeweils ihre Version der
Entzauberung des karnevalistischen Jenseits-Kultes vortragen lässt. Oder
wenn er Jorge, ein mexikanisches Alter Ego, mit folgenden Worten
charakterisiert:
"Jorge
brauchte das Abrupte. Er haßte es, gerade Wege zu gehen. Er misstraute
dem Schönen, weil es ihm unwürdig schien, sich von seinem Glanz
verblenden zu lassen und die Scheußlichkeit der Welt zu vergessen. Er
misstraute aber ebenso seinem eigenen Zynismus."
Zugleich beobachtet er die Entwicklung im Nachkriegsdeutschland mit
wachsamer Skepsis. In Alfred Anderschs Zeitschrift Texte und Zeichen
erscheint 1956 Journal d`Europe, eine bitterböse Abrechnung mit der
Bundesrepublik Adenauers.
Mit
seinen letzten Werken setzt er sich noch einmal zwischen alle Stühle. 1961
beendet er ein umfangreiches Romanmanuskript über den Maler Uccello – die
Geschichte eines Raumbesessenen –, dem die Verlage reserviert
gegenüberstehen. Regler, der nach den Verunglimpfungen, die hier den
Renegaten, dort den Kommunisten meinen, Kritik an seiner Arbeit rasch als
politisch motiviert versteht, wittert ein Komplott, vermutet gar Direktiven
aus Rom, die das Erscheinen des Buches hätten verhindern sollen. Ähnliche
Querelen begleiten die Versuche, einen Verleger für seine letzte Arbeit zu
finden, Alles ist offen – Hellseher und Charlatane, zu der es in
einem Lektoratsgutachten heißt: "Der gebürtige Katholik Regler, ehemaliger
Kommunist, hat einen neuen Glauben gefunden, den an die Welt der Geister …"
(zit. n. Günter Scholdt).
Am
14. Januar 1963 stirbt Gustav Regler während einer Indien-Reise in
Neu-Delhi. Sein Leichnam wird dort verbrannt. Peggy bringt die Urne nach
Merzig, um sie im Grab der Eltern beisetzten zu lassen.
Seinen
Nachlassverwaltern hat er es nicht leicht gemacht. "Er war Dichter oder
literarischer Kolporteur, dazwischen kaum etwas." (Günter Scholdt) So ist es
auf seine Weise fast schon wieder gerecht, dass Gero von Wilperts Deutsches
Dichterlexikon von 1988 ihn aufführt, Metzlers Autorenlexikon von 1986
hingegen nicht.
Mit einem ästhetisch fragwürdigen Roman hat er 1934 Kopf und Kragen
riskiert, in der mit ungeheurer Wucht erzählten Lebensgeschichte
nimmt der Poet dem Augenzeugen immer wieder das Heft aus der Hand.
Kein Werk für analytische Askeseübungen, kein Werk für hermeneutisches
Ringelspiel. Wer sich strikt an den Buchstaben hält, stolpert schnurstracks
in ein Leben hinein. Darf sich erzählen lassen von einer Geschichte, die
wahr ist – einer Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Verwendete Literatur
Gustav Regler: Vulkanisches Land. Ein Buch von vielen Festen
und mehr Widersprüchen. Saarbrücken 1947.
Gustav Regler: Das Ohr des Malchus. Eine Lebensgeschichte.
Köln/Berlin 1958.
Gustav Regler: Das große Beispiel. Roman aus dem Spanischen
Bürgerkrieg. Frankfurt/Main 1976.
Klaus
Mann: Der Wendepunkt. München 1989.
Begegnung mit Gustav Regler.
Hg. v. VS Saar. Saarbrücken 1978.
Michael Rohrwasser: Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur
der Exkommunisten. Stuttgart 1991.
Günter Scholdt: Gustav Regler. Odysseus im Labyrinth der Ideologien.
Eine Biographie in Dokumenten. St. Ingbert 1998.
Hermann
Volk: Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und
der Verfolgung 1933 – 1945. Saarland.
Köln
1989
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