Eine
Industriehalle, eine alte Straßenbahn, der Keller einer Kirche, der
Sportsaal eines Gymnasiums –
unkonventionelle Orte wie diese sind es, die das rumänische Sibiu
(Hermannstadt) jedes Jahr für 11
Tage in einen weitläufigen Schauplatz für das Internationale Theaterfestival
verwandeln. Zusammen mit den zwei
vorhandenen Theaterhäusern entsteht damit eine einmalige Atmosphäre. Das
wichtigste Theaterfestival Rumäniens, das heuer von 28. Mai bis 7. Juni in
der Kulturhauptstadt Europas 2007 stattfand, bot ein umfangreiches
kulturelles Programm, von klassischem Theater über Tanztheater bis hin zu
Straßentheater. Auch wenn das Wetter den Organisatoren einen Strich durch
die Rechnung machte und die offizielle Eröffnung erst drei Tage später
zustande kam, war der Spielplan äußerst abwechslungsreich.
Mythologie auf dem
Parkplatz, Walpurgisnacht in der Fabrikhalle
Ein
Festival-Hit sollte es werden! Für Ovids "Metamorphosen" in der Regie von
Silviu Purcarete wurde der Parkplatz des Nationaltheaters in ein riesiges
Wasserbecken verwandelt. Nachdem am ersten Tag die Veranstaltung im wahrsten
Sinne des Wortes ins Wasser fiel, fand die rumänische Erstaufführung der
"Metamorphosen" am nachfolgenden Abend bei fast winterlichen Temperaturen
statt. Fünfhundert Regenmäntel und heißer Tee wurden dem enthusiastischen
Publikum von den Organisatoren kostenlos zur Verfügung gestellt. Das Stück
entstand 2007 in Zusammenarbeit mit dem Dramatiker Alain Garlan und dem
Escher Theater Luxemburg und wurde im Centre Culturel de Rencontre Abbaye de
Neumünster unter ähnlichen Wetterbedingungen uraufgeführt. Anhaltender Regen
und Kälte führten dazu, dass die zweite Vorstellung erst am Schlusstag des
Festivals nachgeholt werden konnte.
Zu den
Höhepunkten des Programms zählte Purcaretes spektakuläre Inszenierung von
Goethes "Faust I", die in der Industriehalle "Balanta", einem Raum mit einer
Fläche von ca. 1.700 Quadratmeter gespielt wurde. Helmut Stürmers prunkvolle
Szenografie nützte die Einrichtungen der Fabrik (Ketten, Innenkräne,
Traversen, Metallwagen) voll aus. Die vielfältige Besetzung (mit der
Preisträgerin des rumänischen Theaterverbandes Ofelia Popii in der Rolle des
Mephisto) umfasste neben den Schauspielern des örtlichen Nationaltheaters
Radu Stanca ungefähr siebzig Pyrotechniker und Tänzer und auch Studenten der
Schauspielabteilung der Lucian Blaga Universität sowie eine live spielende
Rockgruppe. Die beeindruckende interaktive Produktion wird beim
Theaterfestival in Edinburgh vom 18. bis zum 22. August fünfmal zu sehen
sein.
Ebenfalls in
einer Fabrikhalle wurde das Gastspiel des Cherkasky Shevcenko Academic Drama
Theater "Woyzeck" von Georg Büchner in einer Inszenierung des ukrainischen
Star-Regisseurs Andriy Zholdak gezeigt. Ein weiteres Gastspiel, Tschechows
"Der Kirschgarten", gehörte zweifellos zu den größten Attraktionen des
Festivals. Das mit einer Dauer von fast fünf Stunden bei weitem längste
Stück des Festivals unter der Leitung des international bekannten
litauischen Regisseurs Eimuntas Nekrosius an der Moskauer Stanislavsky
Foundation erwies sich als fabelhaftes Meisterwerk.
"Ein- und Ausstieg
ausnahmslos am Friedhof "
Die
vermutlich originellste Aufführung spielte in einer alten Straßenbahn, die
anderthalb Stunden lang von der Endstation am Friedhof bis zu den Vororten
und retour dahinschlich. In dem Gemeinschaftsprojekt "Eine Straßenbahn
namens Popescu", einer viersprachigen Vorstellung, wurden Szenen aus dem
Leben des rumänischen Dichters Cristian Popescu, dem Autor des Stückes,
wiedergegeben, wobei die Schauspieler des Nationaltheaters Hermannstadt die
nach der Bunraku-Form gefertigten Puppen (die die Familie Popescu
verkörpern) bedienten. Ungeachtet des heftigen Regens versuchten mehrere
Passanten ihr Glück, eine Zusatzkarte zu bekommen, ohne zu wissen, dass nur
insgesamt siebenundzwanzig Teilnehmer in den Wagen hineinpassen.
Silviu
Purcarete, der seit Anfang der 1990er Jahre bereits mehrmals als
Gastregisseur im Ausland gearbeitet hatte, zeigte beim Hermannstädter
Festival eine dritte Inszenierung: "Die Riesen vom Berge" von Luigi
Pirandello, eine Produktion des Nationaltheaters aus Iasi. Martin McDonaghs
"The Pillowman", Heiner Müllers "Hamletmachine" und Shakespeares "Richard
III" sind nur einige der von landesweiten rumänischen Theaterhäusern
präsentierten Highlights in Inszenierungen von bedeutenden nationalen
Theaterregisseuren wie Radu Afrim, Alexandru Dabija, Victor Ioan Frunza,
Dragos Galgotiu und Gábor Tompa.
Darüber hinaus
zeigten Künstler und Ensembles aus der ganzen Welt bejubelte Produktionen
oder Koproduktionen in Originalsprache mit Übertiteln, unter anderem ein
Shakespeare aus Japan ("Titus Andronicus", Regie: Masahiro Yasuda), eine
umstrittene italienische Studie nach Euripides ("Medea", Regie: Antonio
Latella) und ein Beckett ("Endspiel") aus Hermannstadt in der Regie von
Charles Muller (Luxemburg).
Tanzakrobatik und
Schneckensuppe
Die
größte Innovation des Festivals
–
im Vergleich mit anderen
rumänischen Veranstaltungsreihen –
bestand allerdings darin, dass mehr als die Hälfte der Vorstellungen im
Freien stattfanden. Die kleine, aber dank ihrer mittelalterlichen
Kunstschätze bezaubernd schöne Innenstadt ist die passende Plattform für
Straßenshows. Für Aufsehen sorgte die britische Künstlergruppe
"Neighbourhood Watch Stilts International" mit ihren Schmetterlings- und
Riesenvögel-Acts sowie Ameisenorchester-Prozessionen. Die akrobatischen
Kokons der französischen Gruppe "Treteaux du Coeur Volant", Künstler und
Jongleure unter anderem aus Australien, Deutschland, Belgien und Portugal,
faszinierten mit ihren interaktiven pantomimischen Darbietungen, kombiniert
mit Zirkusakrobatik und Lichteffekten, das Publikum in der Innenstadt. Zu
den ungewöhnlichsten Außenvorstellungen zählte der Auftritt der
französischen Blaskapelle "Taraf Goulamas", die zu orientalischen
Musikklängen Schneckensuppe kochte und den Zuschauern servierte.
Tanzgruppen aus
China, Israel, Italien, Japan, Polen und Spanien, aus der Elfenbeinküste und
Senegal lieferten auf den städtischen Spielplätzen, aber auch in der
Fußgängerzone erstklassige Shows. Über zwölf Flamenco-Variationen bot die
"Compania Flamenca Adrian Sanchez" aus Spanien. Die israelische Tanzgruppe
"Nadine Bommer" brachte eine originelle Bühnenumsetzung von Cartoons. In nur
acht Minuten zeigte die "Peking Modern Dance Company" die Anpassung eines
jungen Paares an das Stadtleben.
Musik
aus Irland, Kanada, Mexiko und Russland, Fado-Konzerte, Konferenzen (wie
z.B. über Grotowski und Kantor), eine
dem polnischen Regisseur Tadeusz Kantor
gewidmete
Fotoausstellung, eine Ausstellung des Karikaturisten-Königs Stefan Popa
Popa's sowie Buchvorstellungen, Lesungen (wie z.B. Dea Lohers "Unschuld"
oder Wajdi Mouawads "Verbrennungen"), Workshops u.v.m. ergänzten das
Angebot.
Im europäischen
Jahr der "Kreativität und Innovation" lief die XVI. Auflage des Festivals
unter dem Motto "InnOvationen". Während bei der ersten Auflage 1994 nur acht
Vorstellungen gezeigt wurden, erhöhte sich heuer die Zahl der
internationalen und rumänischen Events auf etwa 200, sodass das
Theaterfestival in Hermannstadt mittlerweile zu einem der größten in Europa
zählt. Der engagierte Festivalleiter Constantin Chiriac hat sich von Anfang
an darauf konzentriert, kulturell hochwertige Darbietungen aus der ganzen
Welt nach Hermannstadt zu bringen, immer wieder Neues und Innovatives zu
präsentieren.