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Burgtheater Wien, Vestibül

"Was für ein Leben wünschst du dir?"
...

1932 die Große Depression zieht ihre Kreise. Armut und Hunger bringen verzweifelte
Menschen dazu, sich für die Aussicht auf 1.000 Dollar Preisgeld (nach heutigem
Geldwert etwa 37.000 Euro) bei einem erbarmungslosen Tanzmarathon
erniedrigen und verkaufen zu lassen.

V
on Martha Schlickenrieder
(23. 05. 2009)

...



Martha Schlickenrieder
dirulihu [at] web.de

geb. 1988 in Aichach,
verbrachte ihre Kindheit in
Bayern und machte dort auch
ihr Abitur. Seit Oktober 2008
studiert sie Kultur- und Sozial-
anthropologie in Wien und
engagiert sich in NGOs für
Entwicklungs- und
Schwellenländer.


 

 

Die Gesichter sind bleich
und verzerrt, die Augen
starren ausdruckslos
geradeaus. Schwarze,
gleichförmige Ganzkörper-
anzüge machen die Prota-
gonisten austauschbar.

 

 




(c) Georg Soulek, Burgtheater

 

 

Der ganze Wettbewerb,
der eigentlich zur Flucht
aus dem Nichts in ein
schöneres Leben helfen
sollte, gleicht einem
Karussell. "Wenn wir
rauskommen, sind wir
genau da, wo wir
angefangen haben."

 


 



(c)
ABC/Palamor Pictures, 1969.

Jane Fonda in dem Film
"They shoot horses,
don't they".

 


 

Ein wirres Spiel mit der
Zeit und der verzweifelte
Wahnsinn der Personen,
der die Rahmenhandlung
immer wieder unterbricht,
lassen das Stück befremd-
lich, fast wie episches
Theater wirken.

 

   Als sie diese Zumutung nicht mehr ertragen und zudem erfahren, dass vom verheißenen Hauptgewinn nach Abzug aller Kosten nichts bleiben wird, erlöst Robert die lebensmüde Gloria durch einen Schuss in die Schläfe. Dafür wird er zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Ausgemergelt und dürr steht das Paar vor dem Gericht. Ihre schlaffen, sehnigen Körper lassen eine längst vergangene athletische Spannung erahnen. Die Gesichter sind bleich und verzerrt, die Augen starren ausdruckslos geradeaus. Schwarze, gleichförmige Ganzkörperanzüge machen die Protagonisten austauschbar. Es geht hier nicht um Einzelschicksale, sondern um das Elend einer ganzen Generation.

   Eine dumpfe Stimme aus dem Off klagt Robert an. Ein Gnadenschuss? Das Tanzpaar schildert die Einzelheiten: Die ganze Idee war nur ein Ausweg. Verpflegung umsonst, solange man durchhält! Eine horrende Preissumme und damit die Aussicht auf eine vielleicht immer noch nicht vielversprechende, aber doch zumindest hoffnungsvollere Zukunft. Beide wollen ins Filmgeschäft. Groß rauskommen! Entdeckt werden beim Marathon! Das Geld würde man als Startkapital für eine große Karriere nutzen können. Doch die Anforderungen sind hoch. Alle Paare müssen sich so lange auf den Beinen halten wie sie können. Getanzt wird immer eine Stunde und 50 Minuten lang. Danach folgen zehn Minuten Pause, die zum Austreten, Essen, Schlafen oder Waschen genutzt werden dürfen. Schon nach der ersten Woche scheiden 61 Paare aus, ein Vergnügen ist es für niemanden. Die Teilnehmer sind gescheiterte Traurige kurz vor der Resignation. Eine Schwangere nimmt in der Hoffnung teil, ihr Kind ernähren zu können. Gloria und Robert lassen sich sogar überreden, vor dem Publikum zu heiraten, obwohl sie nie verliebt waren. Immerhin 50 Dollar (heute: rund 2.000 Euro) springen dabei für sie raus.

Zwischen den Tanzphasen finden aberwitzige Wettbewerbe statt, anspruchsvolle Geschicklichkeitsspiele, die die Erschöpfung und den Wahnsinn der Teilnehmer an den Tag bringen. Bei einem Denkspiel à la "Ich packe meinen Koffer" gerät die Situation plötzlich aus den Fugen. Es wird geschrien, grell, durcheinander, aneinander vorbei. Robert bricht zusammen – Eskalation. "Ich lebe ein gutes Leben im Falschen. Ich trenne meinen Müll ...". Das junge Paar stellt sich die Frage immer wieder: Wäre ein gutes Leben möglich gewesen? Doch Gloria will gar kein Leben mehr, sie ist gepeinigt, kraftlos, am Ende. "Willst du der Welt einen Gefallen tun?", fragt sie Robert, und er schießt. Der ganze Wettbewerb, der eigentlich zur Flucht aus dem Nichts in ein schöneres Leben helfen sollte, gleicht einem Karussell. "Wenn wir rauskommen, sind wir genau da, wo wir angefangen haben." Sie war schon lange lebensmüde, hatte nur nicht den Mut zu sterben. Man gibt ja auch Pferden den Gnadenschuss ...

   Mit aufgeschlitzter Kehle steht Robert da. Der Raum ist ein karges Bildnis des Elends seiner Insassen. Nur die Discokugel an der Decke erinnert an den Ruhm und den Glanz, den der Wettbewerb ursprünglich bringen sollte. Der Ansager, glänzend in seinem silbernen Anzug, ist gleichzeitig auch Richter und Konkurrent, der Böse im Stück. Sogar wir selbst, die Zuschauer, werden zum Feind, da wir ungefragt die wohlhabende, schaulustige Bourgeoisie auf der Tribüne verkörpern. Bedrückt schauen wir zu Boden, unsere Rolle beschämt uns im Angesicht der beklemmenden Lage der Protagonisten.

Regisseur Michael Höppner inszeniert gekonnt und nicht zu überladen. Die Schauspieler bringen die Stimmung auf den Punkt. Ein wirres Spiel mit der Zeit und der verzweifelte Wahnsinn der Personen, der die Rahmenhandlung immer wieder unterbricht, lassen das Stück befremdlich, fast wie episches Theater wirken. Zudem werden die Tänze mit einem wilden Musikmix hinterlegt: The Streets neben Gilbert Bécaud, Schlager der 60er und Marschmusik.

   Die Geschichte basiert auf dem Buch "They shoot horses, don´t they" von Horace McCoy aus dem Jahr 1935. Der gesellschaftskritische Stoff spiegelt die Brutalität der Leistungsgesellschaft wider und war Teil des damaligen Kampfes gegen Klassengesellschaft und Kapitalismus. In Zeiten der Weltwirtschaftskrise rief der Autor mit seinem Roman-Debut zur Mobilisierung der Massen gegen den Staat auf.

Die gleichnamige Verfilmung mit Jane Fonda in der Hauptrolle ist mittlerweile ein Klassiker. Sie erhielt 1970 den Oscar in der Kategorie "Bester Nebendarsteller". Sydney Pollack stellt die Leiden der Tänzer schonungslos drastisch dar. Laut New York Times ein "opulenter" und "auf eine kuriose Weise" optimistischer Film.

   Diesem vorbelasteten und nicht unbedingt leichten Stoff erweist Höppner alle Ehre. Durch den neuen szenischen Kontext bemerkt man fast achtzig Jahre später eine überraschende Übertragbarkeit in die heutige Situation. Dabei bewahrt das Stück sein Wesen und bleibt, was es schon immer war: ein Totentanz.

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