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Von
Christoph Buggert |
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Die einzige Kunstgattung, die das Medium Radio in seiner 80-jährigen Geschichte entwickelt hat, ist für die Forschung schwerer zugänglich als die meisten anderen künstlerischen Disziplinen. Für jedes Hörspiel gibt es einen zeitlich fixierten Ursendetermin. Wenn es gut geht, folgen eine oder zwei Wiederholungen durch den produzierenden Sender sowie mehrere Übernahmen in andere Sendegebiete. Danach verschwinden fünfundneunzig Prozent aller Audiokunstwerke auf Nimmerwiedersehen in den Rundfunkarchiven. Der neuerdings boomende Hörbuchmarkt, der eine von Sendeterminen unabhängige Rezeption ermöglicht, sorgt keineswegs für systematische Spiegelung der Radioprogramme. Avantgardistische Hörwerke zum Beispiel bleiben so gut wie unberücksichtigt, stattdessen wird Bestseller-Verdächtiges bevorzugt. Und der Klassiker-Kanon, der sich innerhalb der Hörspielredaktionen selbst herausgebildet hat (brauchbar für Schwerpunktprogramme oder Retrospektiven), beschränkt sich auf 400 bis 500 Titel – aus geschätzten 100.000. Nach wie vor machen die Rundfunkanstalten ökonomische, organisatorische und urheberrechtliche Vorbehalte geltend, wenn sie um Zusendung von Archivkopien gebeten werden. Sogar der von Sender zu Sender reisende Forscher steht vor nahezu unüberwindlichen Schwierigkeiten. Wo soll er beginnen, an welchen Kriterien soll er sich orientieren, wenn auch die vor Ort angetroffenen Redakteure und Archivare die von ihnen verwalteten Schätze nicht mehr kennen? Ein Glücksfall Es bedurfte schon ungewöhnlicher Voraussetzungen, dass die nunmehr vorliegende "Kleine Geschichte des Hörspiels" von Hans-Jürgen Krug entstehen konnte. Als freier Kritiker und Medienjournalist ist der Autor seit vielen Jahren mit dem Hörspiel in Kontakt. Als Mitglied wichtiger Preisjurys konnte er unabhängige Wertungen und Standpunkte entwickeln. Akademische Lehraufträge, eine beträchtliche Zahl von Veröffentlichungen, nicht zuletzt auch persönliche Interessen trugen dazu bei, dass sich ein verlässlicher Überblick über die schwer zugängliche Materie aufgebaut hat. Bislang vorliegende Gattungsbeschreibungen – etwa von Richard Kolb (1932), Heinz Schwitzke (1963), Kurt Eugen Fischer (1964), Stephan B. Würffel (1978) – konnten auf dieser Basis bis in die Hörspiel-Gegenwart fortgeführt werden. Hans-Jürgen Krug schließt eine Lücke, die von Hörspielmachern, Wissenschaftlern und Pädagogen seit Langem beklagt wurde. Geschichten vom Radio Der Autor selbst nennt seine Studie eine "Erzählung" (S. 10). Ohne Frage bedarf es der subjektiven Perspektive, manchmal auch der summierenden Vereinfachung, wenn eine 80-jährige Gattungsgeschichte auf knapp 150 Seiten verdichtet werden soll. Die Tatsache, dass der Untersuchungsgegenstand sich in einem gänzlich neuartigen Medium entwickelt hat, machte das Vorhaben nicht einfacher. Wer Hörspielgeschichte schreibt, darf die Geschichte des Radios nicht aus den Augen verlieren. Nicht bloß ein immanenter Formenwandel hat das Hörspiel lebendig gehalten, auch permanente rundfunktechnische und rundfunkpolitische Veränderungen trugen dazu bei. Einflüsse also, die Wohl und Wehe der Gattung Hörspiel allenfalls am Rande berücksichtigen. Es zeugt von souveräner Stoffbeherrschung, dass Hans-Jürgen Krug diesen Sachverhalt nie vernachlässigt. Oft wird das Machtgefälle zwischen Medium und Gattung sogar zum Motor der 'Erzählung'. Es wirkt durchaus überzeugend, wenn der Autor mehrere Zäsuren, die er in der Formgeschichte des Hörspiels konstatiert, mit Umwälzungen der Produktionstechnik bzw. der Rundfunkpolitik begründet. Technische Formensprache Die Anfangsphase der Gattung wird in zwei Epochen aufgeteilt. Zunächst das experimentierfreudige Live-Spiel, das die ungewohnten medialen Möglichkeiten neugierig, manchmal auch kindlich nutzt. Darauf folgend die späten 20er und frühen 30er Jahre, in denen führende literarische Köpfe – wie z.B. Alfred Döblin, Bertolt Brecht, Friedrich Wolf, Walter Benjamin – das Radio für Ziele einzusetzen versuchten, die sie auch andernorts vertraten. Nach der Unterdrückung des Hörspiels im Propaganda-Rundfunk der Nazis wurde bewusst, teilweise sogar mit dem gleichen Personal, an diese Tradition angeknüpft. Folgerichtig gibt Hans-Jürgen Krug seinem Kapitel II die Überschrift: "Literarische Blütezeiten (1929 – 1968)". Der bis heute nachwirkende Innovationsschub des so genannten Neuen Hörspiels der späten 60er und 70er Jahre wurde nicht zuletzt durch die Einführung der Stereofonie verursacht, die den Radiomachern das räumliche Spiel sowie die vielfältigen Möglichkeiten der Parallelisierung und Schichtung klanglicher Informationen eröffnete (Collage, Montage, chorische Effekte, gleichrangiger Einsatz von Wort/Geräusch/Musik, sprachanalytische Choreographien). Die daran anschließende Rückbesinnung der Hörspielmacher auf den Kontakt mit dem Publikum sowie die Aktivierung des Hörers als Mitspieler (etwa im Originalton-Hörspiel) stellt Hans-Jürgen Krug in Zusammenhang mit der Einführung des dualen Rundfunksystems Anfang der 80er Jahre. Ein Gesichtspunkt, der bisher kaum beachtet wurde, aber sofort einleuchtet. Die plötzlich auftauchende Konkurrenz kommerzieller Rundfunkanbieter zwang dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein verstärktes Quotendenken auf. Auch Kulturwellen wurden davon nicht verschont. Schließlich hat die Einführung digitaler Produktionstechniken dem zeitgenössischen Hörspiel abermals einen Innovationsschub verpasst. Eine Zäsur, die sich mit der Revolutionierung der Formensprache im Neuen Hörspiel durchaus vergleichen lässt. Moderne Samplertechniken ermöglichen der Radiokunst ein nomadisches Dasein: Akustische Manifestationen nahezu aller übrigen Künste (Neue Musik, Pop und Rock, Film, Tanz, Bühne, Performance-Kunst, Bildende Kunst, Internetästhetik) werden systematisch erforscht und für das Radio nutzbar gemacht. Die anderen Stimmen Als ausgesprochen reizvoll empfinde ich es, dass Hans-Jürgen Krug über weite Strecken mit dem Mittel der Zitat-Montage arbeitet. Äußerungen von Hörspielmachern und Hörspieltheoretikern werden geschickt in den Erzählstrom eingefügt, ohne dass Überblick und Neutralität verloren gehen. Gegenüber schnellebigen Moden oder Selbstbeweihräucherungen, die auch der Gattung Hörspiel nicht fremd sind, verhält der Autor sich sympathisch resistent. Stattdessen hält er, neben der Geschichte-der-Gattung, nahezu ununterbrochen den ernst zu nehmenden Diskurs-über-die-Gattung präsent. Auf diese Weise wird beispielsweise sichtbar, dass Radiotheorien aus den Anfangszeiten des Rundfunks sich bis in einzelne Formulierungen hinein mit Programmzielen des Wiederbeginns nach 1945 decken. Hier wie dort ist die Rede von Demokratisierung der Kultur, von der besonderen gesellschaftlichen Verantwortung der Radiokünstler. Zweimal während der Radiogeschichte – wenn auch aus gänzlich unterschiedlichen Gründen – wurden solche hehren Vorsätze leichtfertig wieder aufgegeben. Wichtige Signale aus dem Medienmüll Die Geschichte des Hörspiels ist keineswegs identisch mit der Geschichte der Hörspiel-Avantgarde. Es ist Hans-Jürgen Krug als Verdienst anzurechnen, dass er auch die so genannten Gebrauchsgattungen – wie z.B. das Kinderhörspiel, den Krimi, das Dialekthörspiel, die Hörspiel-Serie – im Blick behält. Verständlich allerdings ist, dass er auf Innovation und radiophones Risiko das Hauptaugenmerk lenkt. Absolut folgerichtig endet die "Kleine Geschichte des Hörspiels" mit einer additiven Übersicht über die gegenwärtigen Arbeitsschwerpunkte der Hörspielredaktionen der ARD. Durch immanente Formanalyse scheint zeitgenössische Hörspielkunst nicht mehr darstellbar. Hauptsächliches Charakteristikum ist die Intermedialität geworden. Das zeitgenössische Hörspiel vagabundiert durch künstlerische Hörwelten außerhalb des Radios und fügt sie dem Formenkatalog des Radios bei. Der Mut und der Ideenreichtum der Münchener Hörspielarbeit ist in dieser Hinsicht bahnbrechend gewesen. Gerechterweise wird das nicht verschwiegen. In keiner anderen Kunstgattung dürfte die Vielschichtigkeit und Zerrissenheit des digitalen Zeitalters so authentisch abgebildet werden wie im zeitgenössischen Hörspiel. Um so unverständlicher ist es, dass der kulturelle Diskurs die Aktualität und Relevanz der Radiokunst nach wie vor vernachlässigt. Hans-Jürgen Krugs "Kleine Geschichte des Hörspiels" wird hoffentlich dazu beitragen, den für die gesamte Kunstszene abträglichen Zustand zu ändern.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in: "IASLonline" |