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Hören – von
Musik wie von Sprache – wird in unserem mechanistischen Weltbild allzu
Von
Anselm Gerhard |
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Das Ohr unterscheidet sich auf erhebliche Weise von anderen Sinnesorganen. Im Gegensatz zum Auge können wir es nicht schließen, im Gegensatz zur Nase können wir seine Wahrnehmungsintensität nur in sehr geringem Maße steuern. Embryologische Forschungen zeigen, dass das dem Willen nicht zugängliche Hören zu den frühesten Erfahrungen des menschlichen Lebens im – wahrscheinlich unvorstellbar lärmigen – Mutterleib gehört. Hören lässt
sich aber nicht umstandslos auf das Ohr beschränken. Wer etwa bei populären
Fasnachtsritualen nur einen Schlag auf die große
Trommel gehört hat, weiß darum, wie Schall zur
überwältigenden elementaren körperlichen Erfahrung werden kann. Der
menschliche Körper ist gewollt und ungewollt Resonanzkörper von
Schallereignissen, was sich Sänger mit großer
Virtuosität zu Nutze machen. Gleichzeitig zeigt das Singen aber auch, dass
der Mensch selbst ohne jedes weitere Hilfsmittel Töne produzieren kann. Das
ist alles andere als banal, denkt man daran, dass die Produktion von Farben
nur auf dem Umweg über Hilfsmittel möglich ist. Physiologische und psychologische Forschung hat in ständig wachsender Präzision versucht, die Mechanik des Hörens zu entschlüsseln. Was jenseits der Übertragung von Schallereignissen mit dem Menschen geschieht, ist einem psychoakustischen Ansatz freilich nicht zugänglich. "Nirgends in der äußeren Welt ist [...] etwas von jenem innern Universum nachweisbar, in das wir das tönende Universum aufbereiten." Das komplizierte "Spiegelverhältnis" zwischen tönender Außenwelt und innerer Wahrnehmung "täuscht im Grunde auf höchst seltsame Weise über die äußeren Geschehnisse (die akustischen Schwingungen usw.), die völlig verlarvt in unser Inneres dringen". Der Gedanke,
den Ernst Kurth in seiner "Musikpsychologie"
von 1931 niedergeschrieben hat, blieb für die weitere wissenschaftliche
Diskussion praktisch folgenlos. Zwar werden
Ernst Kurths Thesen in den letzten Jahren wieder stärker diskutiert. Ob das
Interesse an diesem führenden Fachvertreter aus der Gründerzeit der
universitären Musikwissenschaft die Forschung über wissenschaftshistorische
Aspekte hinaus beeinflussen kann, ist aber derzeit nicht absehbar. So bleibt
als desillusioniertes Fazit, dass eine primär historisch orientierte
Musikwissenschaft heute wenig mehr sagen kann, als dass das Hören jenseits
der Psychoakustik in hohem Maß kulturell geprägt und
ent-sprechenden Wandlungen ausgesetzt ist. Der vom Historismus geprägte Blick auf das Hören mag unangemessen eng sein: Ob bei der Wahrnehmung von Musik in den verschiedensten Kulturen und Epochen von anthropologischen Konstanten ausgegangen werden kann, scheint weniger sicher denn je. In der begrenzten Anwendung auf die Musik unserer eigenen Kultur vermag historische Forschung aber durchaus zu bedenkenswerten Resultaten gelangen, insbesondere wenn man sie mit einer rezeptionsästhetischen Fragestellung verknüpft, also nach der Wechselwirkung zwischen dem Kunstwerk einerseits und dem Erwartungshorizont sowie der Aufnahmefähigkeit der Zuhörer andererseits fragt. Für die unvorbereiteten Hörer von 1808 musste das berühmte "Schicksals-Motiv" am Beginn von Beethovens Fünfter Symphonie zwanglos als Terz und Grundton eines Es-Dur-Dreiklangs gehört werden. Eine Symphonie stand in aller Regel in Dur und der Beginn ließ eine weitere Brechung dieses Dur-Dreiklangs in plakativen Fanfaren erwarten. Dass wir diese ersten beiden Takte nicht mehr ohne den Gedanken an die Fortsetzung in c-moll hören können, zeigt, in welchem Maße das Hören von historischen Erfahrungen konditioniert ist. Und doch ist der – von vornherein zum Scheitern verurteilte – Versuch, das "Schicksals-Motiv" zunächst in Es-Dur zu hören, um sich dann von der Wendung nach c-moll überraschen zu lassen, für uns die einzige Chance, dem provokativen Charakter von Beethovens kompositorischer Idee gerecht zu werden.
Die
Anfangstakte aus Beethovens Fünfter Symphonie
Dabei geht es
freilich in weit stärkerem Maße als in jeder anderen
Kunst um Zeit, alles in Musik ist vergänglich, und die Entscheidung unserer
Schriftlichkeitskultur, Musik auch jenseits des einmaligen Klangereignisses
verfügbar zu machen, ist nur um den Preis einer extremen Abstraktion
möglich: Darüber, ob und inwieweit die Partitur von Beethovens Fünfter
Symphonie ein musikalisches Werk ist, ließe sich
lange streiten, und es ist offensichtlich, dass dieses schriftliche Substrat
nicht erlaubt, die Musik 200 Jahre später in einer Weise hörbar zu machen,
die auch nur annähernd dem entspricht, was zu Beethovens Lebzeiten erklungen
war.
Dabei rechnet
solche Musik natürlich genau mit einem Hörer, der nun auch über größere
Strecken das zeitliche Nacheinander einer einstündigen Symphonie oder einer
mehrstündigen Oper durch konzentrierte Wahrnehmung zu einer intellektuellen
Synthese zu führen vermag. Wenn Beethoven in einer weniger bekannten
Klaviersonate (Es-Dur, opus 31 Nr. 3) die Musik gleichsam mit der
Überleitung zur Kadenz in einem Solokonzert-Satz beginnen lässt, wird mit
der Hörerwartung des zeitgenössischen Publikums gespielt, dem hier
musikspezifische intellektuelle Leistungen abgefordert werden, von denen ein
Vivaldi, Händel oder Bach noch nicht einmal geträumt hatten.
So
beginnt Beethovens Sonate in Es-Dur (opus 31 Nr . 3). Aber auch
die Vorliebe für wiederkehrende Motive in abendfüllenden Opern gehört in
diesen Zusammenhang: Das erstmals in der Pariser Oper der 1780er
Jahre eingeführte Verfahren, präzisen dramatischen Situationen oder
einzelnen Bühnenfiguren musikalische Chiffren zuzuordnen, die dann in
ähnlichen Situationen oder beim erneuten Auftreten dieser Figuren von Neuem
erklingen, appelliert an das Vermögen eines Hörers, den zeitlichen Ablauf
einer Theatermusik nachschaffend zu analysieren – eine nur dem Musiktheater
zugängliche faszinierende Möglichkeit dramatischer Gestaltung.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in: "UniPress" (Universität Bern). |