Das Sprichwort drückt etwas
aus, was in unserem Zeitalter des Visuellen gerne vergessen wird: Hören ist
der Primärsinn des Menschen. Studien belegen eindeutig, dass taub geborene
Kinder in ihrer geistigen Entwicklung sehr viel stärker beeinträchtigt sind
als blind geborene. Oder als Erfahrung aus dem Alltag: Wer früh aufstehen
muss, verlässt sich kaum auf die Weckkraft des aufkommenden Tageslichts,
sondern stellt einen Wecker – das Ohr schläft nicht. Wir tragen da ein Stück
Evolutionsprinzip mit uns herum, das sehr sinnvoll war. Der schlafende
Mensch ist schutzlos, sein Gehörsinn aber warnt ihn auch in diesem
Bewusstseinszustand vor kommender Gefahr. Daher ist leicht einzusehen, dass
Gehörtes selbst in anderen Zusammenhängen den Menschen unmittelbarer
erreicht als Gesehenes, Geschmecktes, Ertastetes.
Vor diesem Hintergrund staunt man fast ein wenig, dass das Hörbuch erst seit
einigen Jahren "marktgängig" ist. Angebote gab es ja schon viel früher: Seit
reproduzierbare Tonaufzeichnungsverfahren existieren, wurden neben
musikalischen Aufnahmen, die ja einen Siegeszug ohnegleichen angetreten
haben, immer wieder Lesungen aufgenommen. Aber sebst wenn die beeindruckend
vorlesenden Schriftsteller wie Karl Kraus, Joachim Ringelnatz und Thomas
Mann oder die professionellen Sprecher Gustaf Gründgens, Will Quadflieg und
Gert Westphal rezitierten – Tondokumente mit Rezitationen oder Lesungen
konnten den Status eines Objekts für Liebhaber nie überwinden.
Es könnte mit der Rezeptionsgeschichte des Lesens zusammenhängen ("Lesen ist
ein einsames Geschäft"), dass der konservierten Autoren- oder Textbegegnung
die Aura von etwas Zusätzlichem, mithin Entbehrlichem anhaftete.
Wie
auch immer, die Geschichte des Hörbuches beginnt nicht mit den zum großen
Teil bis heute hörenswerten historischen Produktionen der Deutschen
Grammophon, sondern mit dem USA-Aufenthalt eines gewissen Erich Schumm,
während dem er diese Form der Literaturweitergabe als ein längst
erfolgreiches Produkt entdeckte. 1978 gründete er den Verlag Schumm
Sprechende Bücher als ersten deutschen Hörbuchverlag. Nach einem
Besitzerwechsel firmiert er heute unter steinbach sprechende bücher
und zählt, als eher kleines, unabhängiges Unternehmen, dennoch zu den fünf
größten Anbietern von Hörbüchern in Deutschland.
Aber auch das war noch nicht der Durchbruch für eine Entwicklung, deren
vorläufiges Ende wir heute in fast jeder Buchhandlung sehen können: die
separate Hörbuchabteilung.
Im Jahr 1993 hatten einige Leute das richtige Gespür, als sie den heutigen
Marktführer gründeten: den Hörverlag. Vieles musste zusammenkommen
und kam zusammen, um diese Erfolgsgeschichte zu schreiben: Die Entscheidung,
den Buchhandel zum Vertriebsweg zu machen, die Idee, Buchverlage als
Gesellschafter mit ins Boot zu nehmen, die Art der Werbung und manches mehr.
Aber all dies hätte auf Dauer möglicherweise nicht so sehr gefruchtet, wenn
nicht eine einzige weitere Entscheidung gefallen wäre: den Roman "Harry
Potter und der Stein der Weisen" von Rufus Beck vorlesen zu lassen. 1999 kam
dieses Hörbuch, bestehend aus 6 MCs, auf den Markt, löste zuerst den Boom
auf die Potter-Vertonung aus und lenkte später den Blick einer erstaunten
Öffentlichkeit auf das mittlerweile schon ganz ordentliche Angebot an
Hörbüchern in Deutschland. Jetzt erst waren Hörbücher, weil wirtschaftlich
interessant geworden, ein Thema für die Medien – analog übrigens zu Joanne
Rowlings Harry Potter-Büchern. Erst als Band 3 erschien, bemerkten die
wichtigen Magazine und Feuilletons, dass da bereits Erstaunliches geschehen
war und berichteten groß darüber.
Nun
waren natürlich Begehrlichkeiten geweckt, jeder wollte ein Stück vom neuen
Kuchen abbekommen. Verlage gründeten sich neu, Buchverlage erweiterten das
Angebot um Tonträger, Rundfunkanstalten suchten Partner, um ihre riesigen
Archive mit Hörspielen verwerten zu können. Heute gibt es eine enorme
Vielfalt an Produkten und Anbietern.
Bei den aufwendigen Produktionen ist sicher ganz zuvorderst das Hörspiel
"Der Herr der Ringe" zu nennen, das Opus magnum von J.R.R. Tolkien, das
seine Bedeutung schon allein dadurch beweist, dass es sowohl als Buch, als
Hörbuch wie als Film funktioniert. Das Hörspiel ist dabei von ausgesuchter
Fein- und Schlichtheit. Ganz wenig Effekte, sparsame musikalische Umrandung,
geradezu minimalistische akustische Symbolik. Ohne Übertreibung: ein
Meisterwerk. Ein kleines Aperçu am Rande: Dieses Hörspiel kann man zwar im
Buchhandel erwerben, aber leider nicht mehr im Radio hören. Der SWR, als
Rechtsnachfolger des seinerzeit als Produzent fungierenden SDR, kann es sich
angesichts der enormen auf ihn zukommenden Honorar- und Rechteforderungen
eingestandernermaßen nicht leisten, diesen Meilenstein der
Rundfunkgeschichte ein weiteres Mal in Fortsetzungen zu senden.
Auf
der gleichen Qualitätsstufe steht ein Hörspiel von Valerie Stiegele: Thomas
Manns "Der Zauberberg". Auch hier, und vielleicht ist das ja das Geheimnis,
wird die Wirkung durch Reduktion erzielt. Ein äußerst sparsamer Einsatz
aller Techniken, einschließlich der verhaltenen Stimmen, schafft die
vorherrschende Stimmung von Ungewissheit. Mit Udo Samel und Konstantin
Graudus sind, ein entscheidender Kunstgriff, gleich zwei verschiedene
Erzähler eingesetzt, was dem gesamten Hörspiel eine eigenartig
vorwärtsdrängende Dynamik verleiht.
Als Drittes seien die vertonten Tagebücher von Victor Klemperer genannt, bei
deren Lesung wiederum Udo Samel es schafft, in kunstvoll gleichmütiger
Stimmlage gleichzeitig die Resignation des Tagebuchschreibers angesichts der
von ihm vorhergesehenen Unabwendbarkeit der kommenden Gräuel auszudrücken
und im selben Atemzug die souveräne geistige – und damit letztlich
entscheidendende – Überlegenheit des Intellektuellen über den
stumpfsinnigen, dumpfbackigen Nazifuror zu beweisen.
Erwähnen muss man, weil so perfekt, gekonnt und berührend gesprochen, Senta
Bergers leicht wienerische Version von Arthur Schnitzlers tragischem Monolog
"Fräulein Else".
Hat
die kurze Geschichte des Hörbuches bei uns schon einige "Klassiker"
hervorgebracht, so verwundert es nicht, dass bereits heute "Stars" zum
Erfolg einzelner Produktionen maßgeblich beitragen. Es sind dies oft, aber
beileibe nicht immer, bekannte Schauspieler. Hannelore Hoger, Manfred Krug,
Martin Semmelrogge, Senta Berger, Hans Zischler oder Frank Arnold, die Liste
ist lang. Aber die Gattung hat auch eigene Interpreten hervorgebracht: Will
Quadflieg und Gert Westphal als sozusagen Altmeister des Hörbuchs. Neuere
Entdeckungen sind beispielsweise Rufus Beck, Felix von Manteuffel und,
sicher der Erfolgreichste von allen, Christian Brückner, den die meisten
zuvor nur als deutsche Synchronstimme von Robert de Niro kannten.
Darüber hinaus gibt es aber auch AutorInnen, die ihre eigenen Werke selbst
kompetent und gekonnt vortragen. Es hat natürlich einen eigenen Reiz, die
Verfasser der Texte zu hören. Urteilen Sie selbst, ob Wiglaf Droste sich so
schräg anhört, wie seine Texte sich lesen. Bei Raoul Schrott bemerkt man,
dass seine warme Stimme mit der immer durchzuhörenden tirolerischen Färbung
dem Vortragen alter Lyrik durchaus nicht abträglich ist. Und wer glaubt, die
Lektüre von Sven Regeners Roman "Herr Lehmann" sei an Komik nicht zu
übertreffen, höre doch einmal in die (leider gekürzte) Hörfassung hinein.
Eine
Ausnahmestellung hat zweifellos Elke Heidenreich: sie liest sowohl eigene
Werke als auch Texte anderer Schriftsteller. In diesem Frühjahr liegt ihr
offensichtlich vor allem William Shakespeare am Herzen; sie spricht in zwei
Produktionen, der Geschichten-Box, einer Mischung aus
Dramen-Rezitation und Nacherzählung, sowie einer Macbeth-CD.
Zur Zeit herrscht auf dem Hörbuchmarkt eine erfrischende Vielfalt, mehr als
6000 Titel (CDs und Kassetten) sind lieferbar. Aber es ist wohl zu erwarten
oder vielmehr zu befürchten, dass hier in naher Zukunft die übliche
"Marktbereinigung" stattfinden wird. Kleinere Labels, unabhängige Verlage
werden es schwer haben gegen Konzerntöchter oder Ableger von Großverlagen.
Man muss schon sehr optimistisch sein, um zu glauben, dies täte der Qualität
insgesamt keinen Abbruch. Es ist hier wie überall: die Quote entscheidet.
Und merkantiler Erfolg sowie künstlerischer Anspruch gehen eben nicht immer
zusammen.
Aber noch ist es nicht soweit, die Frühjahrsprogramme der Verlage
präsentieren sich erfreulich reichhaltig. Ein paar Produktionen sollen hier
erwähnt werden, mit der deutlichen Aufforderung an die LeserInnen, in den
Buchhandlungen nach den Publikumsprospekten zu fragen. Der Fundus ist groß,
man kann sich regelrecht als Schatzsucher, besser als Schatzheber fühlen –
und sich damit auf längere Autofahrten, größere Mengen von Bügelwäsche oder
einfach entspannte Stunden auf der Couch freuen.
Der
oben schon erwähnte Hörverlag beschenkt uns mit einer echten
Preziose:
"Dickie Dick Dickens. Der gefährlichste Mann, den Chicagos Unterwelt je
ausspuckte". Vielleicht klingelt es jetzt bei manchen? Ja, stimmt: seit 1957
strahlte der Bayerische Rundfunk mehrere Dutzend Hörspielfolgen dieser
Krimisatire aus.
Gerüchteweise soll es deswegen früher zu regelmäßigen Besuchen bei ansonsten
nicht so geliebten Nachbarn gekommen sein, nur weil diese einen Radioapparat
besaßen. Hört man heute in diese mehr als vierzig Jahre alten Sendungen
hinein, ist man verblüfft angesichts der vollkommenen Frische der
Inszenierung. "Dickie Dick Dickens" ist eine der köstlichsten Parodien auf
ein Genre, das sich selber manchmal ein wenig zu ernst nimmt.
Unbedingt anhören sollten sich Interessierte auch eine neue CD aus dem
Freiburger AUDIOBUCH Verlag: "Der Feuerreiter" versammelt klassische
deutsche Balladen. Neben dem Titel gebenden dramatischen Gedicht Eduard
Mörikes finden sich unter anderen die Droste mit "Der Knabe im Moor",
Schillers "Der Handschuh" oder Goethes "Totentanz". Allesamt bekannte Werke,
kreisend um Düsternis, Tragik und Tod. Die Darbietung der Texte aber ist
neu. Tosende Musikkaskaden, filigrane Geräuscheffekte, atemlose Stille,
zusammengehalten von Joachim Kerzel, einem Sprecher, der in Erinnerung
bleibt. Man mag einwenden, dass hier von allem ein wenig zu viel geboten
wird, dass die Gedichte diesen Aufwand nicht bräuchten, dass es irgendwie
immer nach großem Kino klänge. Mag sein, fest steht aber auch, dass im
Zusammenwirken all dieser Elemente die Texte plötzlich zu leuchten beginnen,
um eine Dimension erweitert werden und man sie dadurch leichter begreift.
Es
wird immer mehr üblich, für Hörbücher eine eigene, gekürzte Fassung des
betreffenden Buches zu nehmen. Deutsche Grammophon Literatur und
steinbach sprechende Bücher machen diese Entwicklung bisher
glücklicherweise kaum mit. Demzufolge kommt hier Theodor Fontane in
gebührender Vollständigkeit zu Wort; sein Roman "Schach von Wuthenow",
gesprochen von dem unvergessenen Gert Westphal, kommt im Juli auf den Markt.
Ob Paulo Coelhos "Elf Minuten" oder "Die große Hörbibel" mit
dreißig Stunden Spieldauer, ob Nietzsches "Zarathustra" (beim
wirklich feinen Label Onomato), "Neues von Robert Gernhardt" oder
Strittmatters Roman "Der Laden", vom Autor selbst gelesen – die
Auswahl ist riesig und die Qualität stimmt zumeist. Eines darf natürlich
nicht unerwähnt bleiben: Soeben ist der neue Harry Potter erschienen,
gelesen wieder von Rufus Beck auf 27 CDs.
Was hätte Heinrich Heine wohl über Hörbücher gedacht? Oder in seinem späten
Gedicht "Zur Theleologie" geäußert, wo es heißt:
"… Ohren gab uns Gott die beiden
Um von Mozart, Gluck und Haydn
Meisterstücke anzuhören –
Gäb es nur Tonkunst-Kolik
Und Hämorrhoidal-Musik
Von dem großen Meyerbeer,
Schon ein Ohr hinlänglich wär."
Das aktuelle Reservoir an Hörbüchern rechtfertigt in jedem Falle zwei Ohren
pro Kopf.
Der Beitrag
von Peter Jakobeit ist zuerst erschienen in:
www.literaturblatt.de |