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Es
ist ein altes Klischee, dass Liebe und Tod, Eros und Thanatos
wesensverwandt seien.
Von
Manfred Kern |
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Denkt man den Tod auf das Phänomen der Synästhesie hin, so kann dies nur im Modus eines tragischen Zynismus geschehen: Der Tod beschreibt in zweierlei Hinsicht einen finalen synästhetischen Exzess. Er ereignet sich als Kollaps der Sinne und als Kollaps der Vorstellungen. Er lässt sich nicht erfahren, sondern nur imaginieren. Gerade deshalb ist er aber ein liebstes Kind der Poesie. Gegen das Unsagbare schlechthin, gegen die absolute Leere des Todes setzt sie die Fülle des poetischen Geschwätzes; auf den Kollaps der Sinne und des Sinns, auf die Bitternis der absoluten Frage antwortet sie mit einem süßen Strudel von Metaphern, mit wirren wie wilden Beschwörungen des Sinnlichen und mit radikalen Verschiebungen von Sinnebenen. Mit ihren lügnerischen Simulationen bändigt sie den einen, wahren Tod. Terror wird Spiel, um eine Formel von Hans Blumenberg abzuwandeln. Im Folgenden soll von der poetischsten Todesart die Rede sein – vom Liebestod. Und es soll einem der wichtigsten und viel zu selten gelesenen Romane der mittelalterlichen Literatur das Wort gegeben werden, dem Tristanroman Gottfrieds von Straßburg, der um 1210 entstanden ist. Es handelt sich nicht um die erste, wohl aber um die bedeutendste Bearbeitung des Sujets. Der Roman ist allerdings Fragment geblieben und bricht an einer entscheidenden Stelle ab: Tristan und Isolde sind von König Marke von Cornwall, Isoldes Ehemann und Tristans Onkel, beim Ehebruch ertappt worden. Tristan flieht nach Arundel, lernt dort eine zweite Isolde, Isolde Weißhand, kennen und gerät in einen Zweispalt. Soll er seine "echte" Isolde, Isolde die Blonde, mit der er den Liebestrank getrunken hat, verraten und diese neue Isolde zur Frau nehmen? Genau hier endet Gottfrieds Text. Die weitere Geschichte, Tristans Heirat mit Isolde Weißhand, seine andauernde Liebe zur blonden Isolde, seine Fahrten zurück zu ihr nach Cornwall, die neuen Ränkespiele der Ehebrecher – von all dem berichtet erst die Fortsetzung von Gottfrieds Roman durch Heinrich von Freiberg aus den Jahren um 1280. Und hier erst gehen die beiden Liebenden in den Liebestod. Was ist geschehen? Tristan ist im Kampf von einem vergifteten Speer verwundet worden. Nur die blonde Isolde kann ihn heilen. Man schickt deshalb ein Schiff nach Cornwall. Es soll weiße Segel setzen, wenn es mit Isolde zurückkehrt, im anderen Fall aber schwarze. Isolde zögert natürlich keine Sekunde und begibt sich sofort nach Arundel. Ausschau nach dem Schiff hält pikanterweise Tristans Frau, die andere Isolde, Isolde Weißhand. Und was macht sie, als sie das Schiff sieht? Sie lügt! Sie meldet dem todkranken Tristan, es habe schwarze Segel gesetzt. Tristan stirbt augenblicklich und wird im Münster aufgebahrt. Als die blonde Isolde erfährt, dass sie zu spät gekommen sei, tritt sie leichenblass und mit versteinertem Herzen an die Bahre:
Meine Prosaübersetzung der
mittelhochdeutschen Reimpaarverse kann natürlich nur einen ungefähren
Eindruck davon geben, was hier sprachlich und poetisch abläuft. Dass es sich
um einen synästhetischen Tod, um einen Tod handelt, der alle Sinne bedient,
mag aber deutlich werden. Dies gilt zunächst auf der rhetorisch-ästhetischen
Ebene: Der Text operiert mit sprachlichen Parallelismen, mit Wiederholungen
und Variationen, die eine eindringliche Atmosphäre des Klangsinns und des
Sinnklangs, der Wortkörper und der Bedeutungen, erzeugen. Und vor dem
inneren Auge der Lesenden gerinnt die Szene zu einem schönen Bild, das
leicht zu malen wäre, wie schon die mittelalterlichen Darstellungen zeigen
(Abb. 1):
Abb. 1: Tristan und Isoldes Liebestod.
Miniatur aus einer im
Ins schwülstige Bild ist dies von Rogelio de Egusquiza (1845-1915) gebracht worden (Abb. 2). Eine entblößte Isolde wird hier dem (männlichen) Blick als Augenschmaus serviert, angerichtet auf Tristans Leiche als dem Tablett. Damit wird zur Kenntlichkeit gebracht, was schon für den mittelalterlichen Roman gilt: Es ist der weibliche Körper, der die Beweislast des Liebestodes zu tragen hat. Denn strenggenommen stirbt nur die kerngesunde Isolde diesen physiologisch unmöglichen Tod und nicht der ohnehin sterbenskranke Tristan. Die große Idee verrät sich damit zugleich als männliche Sinnstiftung, die die Geschlechtersymmetrie, die der Roman annähernd herzustellen weiß, wieder zum Kippen bringt.
Abb. 2: Rogelio de Egusquiza (1845-1915): Tristan und Isolde
Der Vergleich des Liebesaktes mit dem schönen Kunstwerk bedeutet zudem ein Stillstellen der Handlung, ein Einfrieren der Szene. Insofern verweist nicht nur der Liebestod bei Heinrich von Freiberg zurück auf die letzte Liebesszene bei Gottfried von Straßburg, sondern lässt sich diese Liebesszene als eine Vorwegnahme der letzten, letalen Vereinigung lesen. Der Tod ist im Tristanroman der ständige Begleiter der Liebe. Die synästhetische Totalität der Liebeserfahrung färbt dabei auf den Tod ab, sie macht den Tod zum Ereignis einer sensuellen Konfusion. Synästhesie, Verwirrung der Sinne und Todesnähe kennzeichnen folgerichtig auch den Beginn dieser Liebe. Als Tristan und Isolde den Liebestrank trinken, verfangen sich die Blicke der beiden, verwunden sich die Herzen, verschränken sich die Worte zu einem Liebesgeständnis, dessen Klangsinn in Geruch und Geschmack des ersten Kusses übergeht. Schon hier stellt der Text klar, dass es sich um eine Sinnverwirrung zum Tode hin, um eine moribunde Synästhesie handelt. Denn diese Liebe ist illegitim, sie ist eine Ehebruchsliebe, sie steht gegen das Gesetz. Der fortwährende Verweis auf den Tod sichert zum einen die Ernsthaftigkeit des Textes, der mit seinen Szenen von Trug und Intrige hart am Komischen entlang gedichtet ist. Die Todesbedrohung verweist aber auch auf den hohen Einsatz, den Tristan und Isolde leisten. In dieser Liebe manifestiert sich die Fülle der Existenz und deshalb kostet sie das Leben. Es ist ein altes Klischee, dass Liebe und Tod, Eros und Thanatos wesensverwandt seien. Die Wahrheit ist, dass sie von der Poesie zusammengedacht und -gereimt werden. Um synästhetische Exzesse geht es in beiden Fällen, dies mag ein wesentlicher Konvergenzpunkt sein. Freilich handelt es sich um eine Konvergenz der Gegensätze, um eine paradoxe Symmetrie: hier die absolute Positivität der Synästhesie, dort ihre absolute Negativität. Im Tristanroman weiß nun nicht der Tod die Liebe, sondern die Liebe den Tod zu löschen. Nicht ist Eros eine Maske des Thanatos, sondern umgekehrt. Der Tod verweist zurück auf Leben und Liebe. Und unter dieser Perspektive entpuppt sich Richard Wagners Tristan als ein fundamentales Missverständnis. Über die Einmaligkeit des großen Todes triumphiert die Vielmaligkeit der kleinen Tode, die Tristan und Isolde im Roman durchleben. Ihr Liebestod ist nicht die Vernichtung, sondern eine paradoxe Apotheose der Sinne und des Sinns. Diese Verschiebung ist gerade in Anbetracht der mittelalterlichen Jenseitsfixierung prekär. Denn der theologischen Auffassung nach sind die Sinne Instrumente des Trugs und der Sünde und im Tode werden sie ihrer Hinfälligkeit und Wertlosigkeit überführt. Der Tristanroman behauptet dagegen vor der Zeit die Würde diesseitiger Sinnlichkeit. Dem Absolutismus der Transzendenz und der apokalyptischen Drohung hält er ein genuin literarisches wie sinnliches Prinzip entgegen: das Prinzip der Wiederholung.
Dieses Prinzip der
Wiederholung manifestiert sich nicht zuletzt im Akt des Lesens, in der
Lektüre, die das eine singuläre Leben fortwährend neu erfahrbar macht, die
es in einer unendlichen Schleife verfügbar hält. In der Vorrede von
Gottfrieds Tristanroman erklärt uns die Erzählerstimme, dass der Liebestod
Tristans und Isoldes für die Lesenden das lebende Brot sei. In der Lektüre
leben und sterben die großen Liebenden immer wieder, in der Lektüre wird ihr
Tod zur Feier des Lebens, in der Lektüre erweist sich die moribunde
Synästhesie als Lebens- und Leseelixier. Der erzählte Tod ist das lebende
Brot der Lesenden. Wenn wir lesen, betasten und riechen wir das Buch, wir
sehen die Zeichen und hören die Worte. Sie zergehen uns bittersüß auf der
Zunge. Auch dies ein synästhetischer Exzess. |