Über die Aurora

Aktuelle Ausgabe

Frühere Ausgaben

Suche

   Schwerpunkte    Theater     Kulturphilosophie     Belletristik      Literatur     Film     Forschung    Atelier     Musik  

......
Handgreiflich
...

Eine der stärksten und zugleich entscheidenden Gesten in Hermann Nitschs Orgien
Mysterien Theater
ist d
er Griff ins rohe Fleisch, das Betasten und Betatschen blutig-feuchten
Gewebes. Eine Geste, die alle frühen bildnerischen Experimente und erste auf Text basierende
Arbeiten in ein synästhetisches, alle Sinne beanspruchendes Ganzes verwandelt.

Von Hanno Millesi
(01. 09. 2007)

...




(c) Hans Schabus

Hanno Millesi
hanno.millesi [at] chello.at

geboren 1966 in Wien.
Studium an der Universität
Wien und der Hochschule für
Angewandte Kunst Wien.
Z
wischen 1985 und 1999 Mit-
arbeit in der Galerie Krinzinger
(
Wien), Assistenzarbeit für
Hermann Nitsch, Archiv des
Orgien Mysterien Theaters,
wissenschaftlicher Mitarbeiter
des Museums moderner
Kunst in Wien
.
Millesi ist
Mitbegründer des intermedi-
ären Internetprojektes
www.ignorama.at (mit Heinz
Cibulka und Norbert Math).
Er lebt und arbeitet als freier
Schriftsteller in Wien
und Berlin.

Publikationen

Von Hanno Millesi ist zuletzt
der Kurzgeschichtenzyklus
"Wände aus Papier“ erschie-
nen (Verlag Luftschacht, Wien
2006), demnächst wird von
Luftschacht die zweite Auf-
lage des 2003 erstmals
publizierten Romans "Im
Museum der Augenblicke“
herausgegeben.

Siehe auch:
www.luftschacht.com

 

 

 

Hermann Nitsch
(Biographie)

Der 1938 in Wien geborene
Hermann Nitsch gilt als der
wichtigste Initiator des Wiener
Aktionismus. Diesen vertritt
Nitsch, im Gegensatz zu den
anderen Aktionisten Brus, Mühl
und Schwarzkogler, der 1969
verstarb, auch heute noch.
Bereits im Jahr 1957 entwick-
elte Nitsch seine Idee vom
Orgien-Mysterien-Theater
(OMT). Dieses Projekt, das
von der Vorstellung eines
Gesamtkunstwerkes, unter
Einbeziehung der Malerei, der
Architektur und der Musik,
ausgeht und auf der Grundlage
griechischer Mysterienfeste,
eine Kartharsis (Reinigung)
zum Ziel hat, bestimmt bis
heute Nitschs künstlerische
Arbeit. Die Sinne des Menschen
werden im Laufe des Spiels
fast bis zu einem orgias-
tischen Höhepunkt angeregt,
auf den dann, im Idealfall,
ein Erkennen des Selbst folgt.
Seit 1971 finden die meisten
der "Orgien-Mysterien-Theater"
Veranstaltungen in dem von
Nitsch erworbenen Schloß
Prinzendorf in Niederösterreich
statt. Zunächst jedoch beschäf-
tigte sich Nitsch in den späten
50er und frühen 60er Jahren,
angeregt durch den Tachismus
und den abstrakten Express-
ionismus, mit der Malerei.
Ursprünglich kam Nitsch von
der Graphik, da er die graph-
ische Lehr- und Versuchsan-
stalt in Wien absolviert hat.
Neben seiner Malerei veran-
staltete er aber ab 1960 auch
erste "theatralische Malak-
tionen", zum Teil gemeinsam
mit Otto Mühl und Adolf
Frohner. Bis in die 80er Jahre
widmete sich Nitsch dann
ausschließlich der Verwirk-
lichung seiner Idee des OMT,
erst Mitte des letzten Jahr-
zehnts begann er wieder mit
der Fertigung autonomer
Malerei. Nitsch war 1971
und 1973 Gastdozent an der
Kunstakademie und an der
Hochschule für bildende Kunst
in Frankfurt, wo er auch als
Professor von 1989-95 tätig
war. In zahlreichen wichtigen
Ausstellungen, zum Beispiel
mehrfach auf der "documenta"
in Kassel, wurde das Werk
von Hermann Nitsch einem
größeren Publikum präsentiert.
Besondere Berühmtheit erlang-
te Hermann Nitsch 1995 durch
seine Ausstattung und Regie-
beteiligung an der Oper "Hero-
diade" von Jules Massenet
an der Wiener Staatsoper.
(Quelle: Essl Museum).


 


Linktipp

www.hermann-nitsch-
museum.at

 

 

Buchtipp
 

Danielle Spera.
Hermann Nitsch.
Leben und Arbeit.

Brandstätter Verlag,
2005, 366 S.
ISBN: 3854984340

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fröhlich, in einzelnen
Momenten aber auch wie
irrsinnig lachend, beteiligen
sich bald alle anwesenden
Akteure an dieser merkwür-
digen Schlacht. Sogar die
festgebundenen passiven
Akteure nehmen daran teil,
indem sie das ihnen in den
Mund gegossene Blut in
heiteren Fontänen von
sich spucken. Man könnte
meinen, sie belustigen sich
daran, im Inneren zer-
fetzt zu sein.

 

   Die ideale Aufführungsform des Orgien Mysterien Theaters sieht vor, dass sich alle an einer Mitwirkung Interessierten einige Tage vor Durchführung der Aktion in Prinzendorf einfinden. Erst im Verlauf der Proben, während der verschiedenen Versuche, die in der Partitur notierten Anweisungen zu realisieren beziehungsweise eine Synchronisation von Musik und Aktion zu erreichen, findet jeder Teilnehmende die für ihn geeignete und von ihm gewünschte Form einer Partizipation. Lediglich auf spezifische Begabungen oder das Privileg einer bestimmten Ausbildung, wie zum Beispiel die zum Musiker, kann nicht verzichtet werden. Oftmals trägt ein spezielles Know-how zur Orientierung des Einzelnen innerhalb der Aktionsstruktur und des Kollektivs der Mitwirkenden bei. Im Idealfall wird keiner der Beteiligten zu einer bestimmten Aufgabe gedrängt.

Selbst für jemanden, der mit aktionistischer Kunst als Rezipient vertraut ist, stellt es sich als völlig uneinsichtig dar, welch unterschiedlicher Sparten an Betätigungen eine derartige Produktion bedarf. Das Spektrum an Begabungen reicht von einer bestimmten ästhetischen Vorstellung entsprechenden körperlichen Statur ohne vor einer Zur-Schau-Stellung derselben zurückzuschrecken , über diverse handwerkliche Fähigkeiten, Erfahrung im Umgang mit künstlerischer Betätigung in nahezu allen gängigen Medien, Beleuchtungswesen, Aufnahmetechniken sowie Talent in organisatorischer Hinsicht. Damit ist lediglich ein geringer und auf die visuellen Kategorien ausgerichteter Teil des Tätigkeitsfeldes angesprochen. Tatsächlich reicht die Mitwirkung an der Aktion bis zu jener Anwesenheitsform, der im traditionellen Theater die Rolle eines Zusehers entsprechen würde.

   Im Laufe der Proben sollte sich herausstellen, wie intensiv sich ein grundsätzlich an der Mitwirkung Interessierter am Spielgeschehen beteiligen möchte. Nimmt er aktiv an der Erstellung einzelner Aktionsabschnitte – die Diktion des Orgien Mysterien Theaters ist hier etwas verwirrend, da sie zwischen Akteur und passivem Akteur, womit das (passive) Modell gemeint ist, unterscheidet – oder vorrangig als Rezipierender teil. Das Aktionsgeschehen lässt sich in mehrfacher Hinsicht wahrnehmen, eine jeweilige Form sollte mit der psychischen Bereitschaft des Teilnehmers, der Teilnehmerin korrespondieren; sie kann nicht allgemeingültigen Kriterien entsprechen. Einzelne Stellen der Partitur – wie Essen und Trinken, Prozessionen beziehungsweise Passagen, in denen das Aktionsgeschehen Volksfestcharakter annimmt – integrieren die Zuseher ohnehin in den Spielablauf.

Gemäß dieser Überlegung kommt dem Begriff Spielteilnehmer, welcher für den nicht unmittelbar am Geschehen Beteiligten vorgesehen ist, seine ursprüngliche Bedeutung zu. Alle Anwesenden führen sich in gewisser Weise das Aktionsgeschehen selbst vor, das heißt realisieren es um seiner selbst Willen. Vom konventionellen Theatergefüge, dem entsprechend eine (professionelle) Gruppe von Schauspielern einem Publikum gegenübersteht, ist eine solche Teilnahme aller Mitwirkenden, auch jener, die in der Folge die Funktion eines Zusehers übernehmen, einen entscheidenden Schritt entfernt.

   Dem Einstudieren eines Opernwerkes vergleichbar, liegt beim Training von Aktionsabläufen eine wesentliche Herausforderung in der Synchronisation der von den Orchestermitgliedern eingeübten musikalischen Version mit den von ihren eigenen Notwendigkeiten abhängigen aktionistischen Tätigkeiten. Entweder gibt die Musik bestimmte Zeiteinheiten vor und das Spielgeschehen muss sich dieser Dynamik anpassen, oder ein Aktionsvorgang benötigt ganz einfach eine bestimmte Zeitspanne, die im Vorfeld nicht absehbar ist.

Der Ablaufplan mit all den dafür notwendigen Einteilungen und Strukturierungen existiert erst unmittelbar vor der Durchführung der Aktion. Ein Durchlauf erfolgt lediglich in Form von Stichproben. Die exorbitante Länge der Aktionen des Orgien Mysterien Theaters machen einen vollständigen Durchlauf im Vorfeld nahezu unmöglich. Ein solcher brächte außerdem die Gefahr aufkommender Routine unter den Teilnehmenden mit sich. Vielmehr gilt es, die Akteure mit den Grundbegriffen, die den immer wiederkehrenden Geschehnissen, Vorgehensweisen und Arrangements zugrunde liegen, vertraut zu machen, bevor sie in den Aktionsablauf entlassen werden können, innerhalb dessen sie dann mehr oder weniger auf sich alleine gestellt agieren. Während der Aktion ist die Einflussnahme eines Spielleiters auf geringfügige Korrekturen beschränkt. Allen Mitwirkenden kann eingangs lediglich eine bestimmte Zielvorstellung vermittelt werden. Erst die Durchführung der Aktion selbst zeigt, wie weit ihre Realisierung von den Erwartungen im Vorfeld beziehungsweise von der theoretischen Konzeption abweicht.

   In gewisser Hinsicht kann der Griff ins rohe Fleisch, das Betasten und Betatschen blutig-feuchten Gewebes als die entscheidende Geste in Hermann Nitschs Theaterprojekt verstanden werden. Eine Geste, die alle frühen bildnerischen Experimente und erste auf Text basierende Arbeiten in ein synästhetisches, also alle Sinne beanspruchendes Ganzes verwandelt. Schließlich geht mit dem Fleisch und dem Blut und den verschiedenartigen Flüssigkeiten auch ein spezifischer Geruch einher.

Auf die frühen malerischen und zeichnerischen Versuche, die in erster Linie dem Kopieren und Interpretieren klassischer Meister gewidmet sind (etwa Rembrandt oder El Greco), folgen dramatische Texte, in denen Nitsch beim Expressionismus eines Hans Henny Jahnn oder Georg Kaiser ansetzt. In den zum Monolog tendierenden Texten des späteren Aktionisten beansprucht die Beschreibung verschiedener Gefühlszustände und Befindlichkeiten freilich bald am meisten Raum und lässt den Künstler, ausschließlich auf die Sprache gestützt, an ähnliche Grenzen stoßen, wie sie ihm zuvor der rein bildnerische Ausdruck aufgezeigt hat. Nitschs Idee, zusätzlich und in der Folge anstatt der verbalen Beschreibung der Sensation des Berührens, Betastens und Riechens sinnlich aufgeladener Substanzen, tatsächlich rohes Fleisch durch die Zuschauerreihen tragen zu lassen und jeden und jede aufzufordern, hin zu greifen und darin zu wühlen, lässt sich als Initialzündung seines Gesamtkunstwerks synästhetischer Prägung, später Orgien Mysterien Theater genannt, bezeichnen.

   Das Betasten, Berühren und händische Verarbeiten verschiedener Materialien nimmt von da an eine zentrale Position in Nitschs Werk ein. Neben den so genannten Ausweide-Aktionen, bei denen Akteure immer wieder Blut und Gedärme in einen aufgeklafften Tierkadaver stopfen, dem Blut, das passiven Akteuren in den Mund gegossen wird und ihnen an Wange, Kinn und Oberkörper entlang rinnt, werden Farben händisch auf Boden und Wand aufgetragen und verschmiert, werden Weintrauben und Tomaten zerquetscht, werden belegte Brote zum Mund geführt und mit den Zähnen zermalmt. Der Spielablauf besteht größtenteils aus Handgriffen, man könnte fast sagen, dass innerhalb des Orgien Mysterien Theaters der Handgriff das Wort sukzessive verdrängt hat, denn die Sprache begnügt sich mit so genannten Regieanweisungen. Hinweisen, welche Handgriffe zu welchem Zeitpunkt zu erledigen sind. Das eigentliche Theatererlebnis findet im Berühren aufreizender, Ekel erregender Substanzen vor der Kulisse der Malerei, gleichzeitig mit dem Erklingen der Musik, berauscht vom Wein, gesättigt von Speisen, von einem bestimmten Geruch in Ekstase versetzt, statt.

Obgleich der ideale Rezipient des Orgien Mysterien Theaters selbst zur Realisierung der Aktion beiträgt, Spielteilnehmer ist, werden auch zurückhaltende Gäste an bestimmten Stellen der Partitur aufgefordert, hin zu greifen, zuzulangen und damit die Assoziationsaura des Hörens und Sehens und Schmeckens und Riechens um das Tasten zu erweitern.

   Bei Einbruch der Dämmerung bricht ein Prozessionszug von Schloss Prinzendorf in Richtung der nahe gelegenen Weinkelleransammlung Eselstadt auf. Alle Akteure und Spielteilnehmer beteiligen sich an diesem Zug. Die Akteure tragen eine Blumen geschmückte Stiertrage, auf die sich ein Modell gestellt hat, das ein metallenes Kultgerät in Händen hält.

Die Stiertrage wurde unmittelbar vor Beginn der Aktion, im Laufe der Probenzeit konstruiert, um den riesigen Leib dieses Tieres innerhalb des Aktionsareals bewegen zu können. Sie besteht aus mehreren massiven Holzbalken, auf die eine etwa zehn Quadratmeter große Plattform montiert wurde. Auf dieser Holzfläche, welche die Trägerbalken zusammenhält, erhebt sich eine ebenfalls hölzerne Rahmenkonstruktion, an deren Querbalken der Stierleib angebracht werden kann. An allen Seitenteilen der Trägerbalkens befinden sich metallene Griffvorrichtungen. Um die Stiertrage über weite Strecken zu befördern, sind alle zur Verfügung stehenden Akteure, das heißt so viele, wie an der Tragekonstruktion Platz finden, notwendig. Einige Träger verwenden zusätzlich Tragegurte.

   Die Geschwindigkeit, mit der sich dieser Prozessionszug, zu dem auch zwei zur selben Zeit verschiedene Stücke spielende Blasmusikkapellen gehören, vorwärts bewegt, wird von den die Stiertrage transportierenden Akteuren bestimmt und ist der Beschaffenheit des Feldweges angepasst. Sobald einer der Träger eine Unterbrechung fordert, hält der Zug an. Nach einer kurzen Pause setzt er sich wieder in Bewegung. Der Feldweg ist an manchen Abschnitten ausgesprochen eng und führt in winkeligem Verlauf durch dicht bewachsenes Gebiet. Um vom Schloss in die Eselstadt zu gelangen benötigt der Festzug etwa vierzig Minuten.

Den umfangreichen Szenarien – im Vokabular des zuweilen den Gesichtssinn in den Vordergrund rückenden Orgien Mysterien Theaters als Bilder bezeichnet – die nahezu alle Akteure und Tierkadaver immer wieder im Schlosshof versammeln, steht ihr jeweiliger Aufbau in all seinen Einzelheiten gegenüber. Ganz im Sinne von Nitschs Aktionstheater, das sich als Inszenierung realer Geschehnisse begreift, ist auch jeder Handgriff Teil der Demonstration. Das Hereintragen der Modelle, der Tierleiber und sonstigen Materialien ist ebenso nach ästhetischen Kriterien konzipierter Spielabschnitt wie die Verköstigung der Akteure und der übrigen Teilnehmer, die Stierschlachtung oder die durch den anhaltenden Orgelton miteinander verbundenen Phasen jenseits des Geschehens.

   Die Grundtypen der Ausstattung sind Ritualhemd, Tragbahre, Trog, Tragaltar (Schrein). Diese werden verschiedentlich variiert und in Konstruktionen umgewandelt, die imstande sind, das Gewicht mehrerer Akteure und Tierkörper, gleichsam als Tableau mit lebendem Inventar zu befördern.

Von diesen Grundmodellen ausgehend, lässt sich eine ganze Reihe verschiedener Kombinationsmöglichkeiten erstellen, welche im Aktionsablauf die Funktion einzelner Leitmotive übernehmen. Die eine bestimmte Körperhaltung bedingenden Einrichtungen am Gerät sind dem für einen jeweiligen Spielablauf vorgesehenen Akteur angepasst. Ein Umstand, der bedingt, dass die einzelnen Geräte erst im Verlauf der Proben konstruiert werden können und ihre Konstruktion zur unmittelbaren Vorbereitung der Aktion gerechnet wird. Es handelt sich sozusagen um maßangefertigte Einzelstücke, die einer spezifischen Durchführung der Anweisungen in der Partitur entsprechen.

   Die Last der beladenen Tragbahrenkonstruktion bestimmt die Zahl der für einen Transport notwendigen Träger. Ein reibungsloses Anheben, Absetzen und die dazwischen liegende Beförderung basieren auf einer exakten Bewegungskoordination seitens der Tragenden und einer eingespielten Kommunikation mit den festgebundenen, zumeist mit Augenbinden versehenen passiven Akteuren.

Zu den Aktionsrelikten, die aus dem Geschehensablauf resultieren, gehören allerdings nicht ausschließlich Tragekonstruktionen. Weiße Stofftücher bezeichnen oder hinterfangen fallweise das unmittelbare Aktionsfeld. Je intensiver sich das Aktionsgeschehen gestaltet, desto markanter fallen seine Spuren aus. Das Format dieser Relikttücher bestimmen architektonische Gegebenheiten, Aspekte des Spielablaufes oder die Größe eines Tierkadavers (Stiertuch, Schaftuch).

   Zwischen Relikt und Aktion besteht ein anderes Verhältnis als dies zwischen dem Akt der Malerei und dem Gemälde der Fall ist. Das Aktionsgeschehen wird primär nicht mit der Absicht inszeniert, Speicherkapazitäten entstehen zu lassen. Die Aktion vollzieht sich vor anwesenden Spielteilnehmern (Zuschauern) und mitwirkenden Akteuren. Die tatsächliche Anwesenheit des Rezipienten bleibt unersetzlich. Die Qualität eines Aktionsreliktes kann mit dem Intensitätsgrad zusammenhängen, den der Spielablauf im Moment seiner Entstehung erreicht hat. Das völlige Aufgehen im Aktionsvorgang, die rücksichtslose Exaltation sichert den eindrucksvollsten Abdruck dessen, was geschehen ist. Statt den virtuos eingesetzten Kompositionsmitteln ist ein Zustand maßgeblicher Entäußerung Garant für ein ergreifendes Reliktbild. Nachbearbeitungen sind eher selten und verstehen sich in erster Linie als Akzentuierungen bestimmter Passagen.

Die Ekstase, die Ausgelassenheit, die Gewalt sind auf den Aktionsrelikten in die Präsenz des Materials gebettet. Die Oberflächen sind aufgeladen vom Spielablauf, dessen Spuren längst ins Material getrocknet sind. Obwohl den Aktionsrelikten, vergleichbar der Aktionsmalerei Nitschs, die Bewegung lediglich eingeschrieben, das heißt ihre Konsequenz an der Oberfläche sichtbar ist, versuchen sie, zum Environment inszeniert, mit den ihnen eigenen ästhetischen Möglichkeiten den künstlerischen Gestaltungsansatz des Aktionskonzeptes Orgien Mysterien Theater zu vermitteln. Das Aktionsrelikt ist allerdings kein Repräsentant des Aktionsgeschehens. Es ist das, was vom Spielablauf nicht auf einem Bildträger darstellbar ist. Seine lebendige Eigenständigkeit ist der nicht darstellbare Ursprung der Repräsentation.

   Wie in der Partitur vorgesehen, verlagert sich das Spielgeschehen in die Ruine eines ehemaligen Bauernhauses. Bahren mit daran festgebundenen Tierkadavern und passiven Akteuren werden hineingetragen. Die Zuschauer blicken durch Moos bewachsene Fensteröffnungen und die zahlreichen Risse im Mauerwerk. Nachdem die Tragbahren abgestellt sind, erfolgen die üblichen, zum Ritual des Orgien Mysterien Theaters gehörenden Handlungen. Den festgebundenen und mit Augenbinden versehenen passiven Akteuren wird Blut in den Mund gegossen, das ihnen über Gesichter und Brust rinnt. Gedärme werden immer wieder in die aufgeklafften Tierkadaver gestopft. Zwischen den Gesichtern der Zuseher ragen mehrere Blasinstrumente ins Innere der Ruine und schicken lang gezogene, in der Hitze der Nachmittagssonne hysterisch anmutende Töne ins Spielgeschehen. Plötzlich besinnt sich einer der Gedärme stopfenden Akteure des grundsätzlich für Improvisationen und emotionale Entäußerungen offenen Charakters dieser Form des Aktionstheaters und bewirft einen neben ihm stehenden Akteur mit Blut triefendem Gekröse. Als Antwort wird ihm ein Kübel in der Hitze warm gewordenen Blutes über den Kopf geleert. Fröhlich, in einzelnen Momenten aber auch wie irrsinnig lachend, beteiligen sich bald alle anwesenden Akteure an dieser merkwürdigen Schlacht. Sogar die festgebundenen passiven Akteure nehmen daran teil, indem sie das ihnen in den Mund gegossene Blut in heiteren Fontänen von sich spucken. Man könnte meinen, sie belustigen sich daran, im Inneren zerfetzt zu sein. Was sich nunmehr entwickelt, lässt sich am ehesten mit einer aus Kindertagen geläufigen Polsterschlacht vergleichen. Eine Ausgelassenheit, die nicht zuletzt durch die immer mühseliger hervorgebrachten, in dissonantem Verhältnis zueinander stehenden Töne und den bedrohlichen Geruch und den ganzen Ekel, der von dem Blut und den Eingeweiden ausgeht, unter die vereinzelt auch Früchte gemischt sind, einen sich zum Wahnsinn neigenden Aspekt aufweist.

Ausdrucken?


Zurück zur Übersicht