Die ideale Aufführungsform
des Orgien Mysterien Theaters sieht vor, dass sich alle an einer Mitwirkung
Interessierten einige Tage vor Durchführung der Aktion in Prinzendorf
einfinden. Erst im Verlauf der Proben, während der verschiedenen Versuche,
die in der Partitur notierten Anweisungen zu realisieren beziehungsweise
eine Synchronisation von Musik und Aktion zu erreichen, findet jeder
Teilnehmende die für ihn geeignete und von ihm gewünschte Form einer
Partizipation. Lediglich auf spezifische Begabungen oder das Privileg einer
bestimmten Ausbildung, wie zum Beispiel die zum Musiker, kann nicht
verzichtet werden. Oftmals trägt ein spezielles Know-how zur Orientierung
des Einzelnen innerhalb der Aktionsstruktur und des
Kollektivs der Mitwirkenden bei. Im Idealfall wird keiner der Beteiligten zu
einer bestimmten Aufgabe gedrängt.
Selbst für jemanden, der mit aktionistischer Kunst als
Rezipient vertraut ist, stellt es sich als völlig uneinsichtig dar, welch
unterschiedlicher Sparten an Betätigungen eine derartige Produktion bedarf.
Das Spektrum an Begabungen reicht von einer bestimmten ästhetischen
Vorstellung entsprechenden körperlichen Statur
– ohne vor einer Zur-Schau-Stellung derselben zurückzuschrecken
–, über diverse handwerkliche Fähigkeiten, Erfahrung im Umgang mit
künstlerischer Betätigung in nahezu allen gängigen Medien,
Beleuchtungswesen, Aufnahmetechniken sowie Talent in organisatorischer
Hinsicht. Damit ist lediglich ein geringer und auf die visuellen Kategorien
ausgerichteter Teil des Tätigkeitsfeldes angesprochen. Tatsächlich reicht
die Mitwirkung an der Aktion bis zu jener Anwesenheitsform, der im
traditionellen Theater die Rolle eines Zusehers entsprechen würde.
Im Laufe der Proben sollte
sich herausstellen, wie intensiv sich ein grundsätzlich an der Mitwirkung
Interessierter am Spielgeschehen beteiligen möchte. Nimmt er aktiv an der
Erstellung einzelner Aktionsabschnitte – die Diktion des Orgien Mysterien
Theaters ist hier etwas verwirrend, da sie zwischen Akteur und
passivem Akteur, womit das (passive) Modell gemeint ist,
unterscheidet – oder vorrangig als Rezipierender teil. Das Aktionsgeschehen
lässt sich in mehrfacher Hinsicht wahrnehmen, eine jeweilige Form sollte mit
der psychischen Bereitschaft des Teilnehmers, der Teilnehmerin
korrespondieren;
sie kann nicht allgemeingültigen Kriterien
entsprechen. Einzelne Stellen der Partitur – wie Essen und Trinken,
Prozessionen beziehungsweise Passagen, in denen das
Aktionsgeschehen Volksfestcharakter annimmt – integrieren die Zuseher
ohnehin in den Spielablauf.
Gemäß dieser Überlegung kommt dem Begriff
Spielteilnehmer, welcher für den nicht unmittelbar am Geschehen
Beteiligten vorgesehen ist, seine ursprüngliche Bedeutung zu. Alle
Anwesenden führen sich in gewisser Weise das Aktionsgeschehen selbst vor,
das heißt realisieren es um seiner selbst Willen. Vom konventionellen
Theatergefüge, dem entsprechend eine (professionelle) Gruppe von
Schauspielern einem Publikum gegenübersteht, ist eine solche Teilnahme aller
Mitwirkenden, auch jener, die in der Folge die Funktion eines Zusehers
übernehmen, einen entscheidenden Schritt entfernt.
Dem Einstudieren eines
Opernwerkes vergleichbar, liegt beim Training von Aktionsabläufen eine
wesentliche Herausforderung in der Synchronisation der von den
Orchestermitgliedern eingeübten musikalischen Version mit den von ihren
eigenen Notwendigkeiten abhängigen aktionistischen Tätigkeiten. Entweder
gibt die Musik bestimmte Zeiteinheiten vor und das Spielgeschehen muss sich
dieser Dynamik anpassen, oder ein Aktionsvorgang
benötigt ganz einfach eine bestimmte Zeitspanne, die im Vorfeld nicht
absehbar ist.
Der Ablaufplan mit all den dafür notwendigen Einteilungen
und Strukturierungen existiert erst unmittelbar vor der Durchführung der
Aktion. Ein Durchlauf erfolgt lediglich in Form von Stichproben. Die
exorbitante Länge der Aktionen des Orgien Mysterien Theaters machen einen
vollständigen Durchlauf im Vorfeld nahezu unmöglich. Ein solcher brächte
außerdem die Gefahr aufkommender Routine unter den Teilnehmenden mit sich.
Vielmehr gilt es, die Akteure mit den Grundbegriffen, die den immer
wiederkehrenden Geschehnissen, Vorgehensweisen und Arrangements zugrunde
liegen, vertraut zu machen, bevor sie in den Aktionsablauf entlassen werden
können, innerhalb dessen sie dann mehr oder weniger auf sich alleine
gestellt agieren. Während der Aktion ist die Einflussnahme eines
Spielleiters auf geringfügige Korrekturen beschränkt. Allen Mitwirkenden
kann eingangs lediglich eine bestimmte Zielvorstellung vermittelt werden.
Erst die Durchführung der Aktion selbst zeigt, wie weit ihre Realisierung
von den Erwartungen im Vorfeld beziehungsweise von der theoretischen
Konzeption abweicht.
In
gewisser Hinsicht kann der Griff ins rohe Fleisch, das Betasten und
Betatschen blutig-feuchten Gewebes als die entscheidende Geste in Hermann
Nitschs Theaterprojekt verstanden werden. Eine Geste, die alle frühen
bildnerischen Experimente und erste auf Text basierende Arbeiten in ein
synästhetisches, also alle Sinne beanspruchendes Ganzes verwandelt.
Schließlich geht mit dem Fleisch und dem Blut und den verschiedenartigen
Flüssigkeiten auch ein spezifischer Geruch einher.
Auf die frühen malerischen und zeichnerischen Versuche,
die in erster Linie dem Kopieren und Interpretieren klassischer Meister
gewidmet sind (etwa Rembrandt oder El Greco), folgen dramatische Texte, in
denen Nitsch beim Expressionismus eines Hans Henny Jahnn oder Georg Kaiser
ansetzt. In den zum Monolog tendierenden Texten des späteren Aktionisten
beansprucht die Beschreibung verschiedener Gefühlszustände und
Befindlichkeiten freilich bald am meisten Raum und lässt den Künstler,
ausschließlich auf die Sprache gestützt, an ähnliche Grenzen stoßen, wie sie
ihm zuvor der rein bildnerische Ausdruck aufgezeigt hat. Nitschs Idee,
zusätzlich und in der Folge anstatt der verbalen Beschreibung der Sensation
des Berührens, Betastens und Riechens sinnlich aufgeladener Substanzen,
tatsächlich rohes Fleisch durch die Zuschauerreihen tragen zu lassen und
jeden und jede aufzufordern, hin zu greifen und darin zu wühlen, lässt sich
als Initialzündung seines Gesamtkunstwerks synästhetischer Prägung, später
Orgien Mysterien Theater genannt, bezeichnen.
Das
Betasten, Berühren und
händische Verarbeiten verschiedener Materialien nimmt
von da an eine zentrale Position in Nitschs Werk ein. Neben den so genannten
Ausweide-Aktionen, bei denen Akteure immer wieder Blut und Gedärme in
einen aufgeklafften Tierkadaver stopfen, dem Blut, das passiven Akteuren in
den Mund gegossen wird und ihnen an Wange, Kinn und Oberkörper entlang
rinnt, werden Farben händisch auf Boden und Wand aufgetragen und
verschmiert, werden Weintrauben und Tomaten zerquetscht, werden belegte
Brote zum Mund geführt und mit den Zähnen zermalmt. Der Spielablauf besteht
größtenteils aus Handgriffen, man könnte fast sagen, dass innerhalb des
Orgien Mysterien Theaters der Handgriff das Wort sukzessive verdrängt hat,
denn die Sprache begnügt sich mit so genannten Regieanweisungen.
Hinweisen, welche Handgriffe zu welchem Zeitpunkt zu erledigen sind. Das
eigentliche Theatererlebnis findet im Berühren aufreizender, Ekel erregender
Substanzen vor der Kulisse der Malerei, gleichzeitig mit dem Erklingen der
Musik, berauscht vom Wein, gesättigt von Speisen, von einem bestimmten
Geruch in Ekstase versetzt, statt.
Obgleich der ideale Rezipient des Orgien Mysterien
Theaters selbst zur Realisierung der Aktion beiträgt, Spielteilnehmer ist,
werden auch zurückhaltende Gäste an bestimmten Stellen der Partitur
aufgefordert, hin zu greifen, zuzulangen und damit die Assoziationsaura des
Hörens und Sehens und Schmeckens und Riechens um das Tasten zu erweitern.
Bei
Einbruch der Dämmerung bricht ein Prozessionszug von Schloss Prinzendorf in
Richtung der nahe gelegenen Weinkelleransammlung Eselstadt auf. Alle Akteure
und Spielteilnehmer beteiligen sich an diesem Zug. Die Akteure tragen eine
Blumen geschmückte Stiertrage, auf die sich ein Modell gestellt hat, das ein
metallenes Kultgerät in Händen hält.
Die Stiertrage wurde unmittelbar vor Beginn der Aktion,
im Laufe der Probenzeit konstruiert, um den riesigen Leib dieses Tieres
innerhalb des Aktionsareals bewegen zu können. Sie besteht aus mehreren
massiven Holzbalken, auf die eine etwa zehn Quadratmeter große Plattform
montiert wurde. Auf dieser Holzfläche, welche die Trägerbalken zusammenhält,
erhebt sich eine ebenfalls hölzerne Rahmenkonstruktion, an deren Querbalken
der Stierleib angebracht werden kann. An allen Seitenteilen der Trägerbalkens
befinden sich metallene Griffvorrichtungen. Um die Stiertrage über weite
Strecken zu befördern, sind alle zur Verfügung stehenden Akteure, das heißt
so viele, wie an der Tragekonstruktion Platz finden, notwendig. Einige
Träger verwenden zusätzlich Tragegurte.
Die
Geschwindigkeit, mit der sich dieser Prozessionszug, zu dem auch zwei zur
selben Zeit verschiedene Stücke spielende Blasmusikkapellen gehören,
vorwärts bewegt, wird von den die Stiertrage transportierenden Akteuren
bestimmt und ist der Beschaffenheit des Feldweges angepasst. Sobald einer
der Träger eine Unterbrechung fordert, hält der Zug an. Nach einer kurzen
Pause setzt er sich wieder in Bewegung. Der Feldweg ist an manchen
Abschnitten ausgesprochen eng und führt in winkeligem Verlauf durch dicht
bewachsenes Gebiet. Um vom Schloss in die Eselstadt zu gelangen benötigt der
Festzug etwa vierzig Minuten.
Den umfangreichen Szenarien – im Vokabular des zuweilen
den Gesichtssinn in den Vordergrund rückenden Orgien Mysterien Theaters als
Bilder bezeichnet – die nahezu alle Akteure und Tierkadaver immer
wieder im Schlosshof versammeln, steht ihr jeweiliger Aufbau in all seinen
Einzelheiten gegenüber. Ganz im Sinne von Nitschs Aktionstheater, das sich
als Inszenierung realer Geschehnisse begreift, ist auch jeder Handgriff Teil
der Demonstration. Das Hereintragen der Modelle, der Tierleiber und
sonstigen Materialien ist ebenso nach ästhetischen Kriterien konzipierter
Spielabschnitt wie die Verköstigung der Akteure und der übrigen Teilnehmer,
die Stierschlachtung oder die durch den anhaltenden Orgelton miteinander
verbundenen Phasen jenseits des Geschehens.
Die
Grundtypen der Ausstattung sind Ritualhemd, Tragbahre, Trog, Tragaltar
(Schrein). Diese werden verschiedentlich variiert und in Konstruktionen
umgewandelt, die imstande sind, das Gewicht mehrerer Akteure und Tierkörper,
gleichsam als Tableau mit lebendem Inventar zu befördern.
Von diesen Grundmodellen ausgehend, lässt sich eine ganze
Reihe verschiedener Kombinationsmöglichkeiten erstellen, welche im
Aktionsablauf die Funktion einzelner Leitmotive übernehmen. Die eine
bestimmte Körperhaltung bedingenden Einrichtungen am Gerät sind dem für
einen jeweiligen Spielablauf vorgesehenen Akteur angepasst. Ein Umstand, der
bedingt, dass die einzelnen Geräte erst im Verlauf der Proben konstruiert
werden können und ihre Konstruktion zur unmittelbaren Vorbereitung der
Aktion gerechnet wird. Es handelt sich sozusagen um maßangefertigte
Einzelstücke, die einer spezifischen Durchführung der Anweisungen in der
Partitur entsprechen.
Die
Last der beladenen Tragbahrenkonstruktion bestimmt die Zahl der für einen
Transport notwendigen Träger. Ein reibungsloses Anheben, Absetzen und die
dazwischen liegende Beförderung basieren auf einer exakten
Bewegungskoordination seitens der Tragenden und einer eingespielten
Kommunikation mit den festgebundenen, zumeist mit Augenbinden versehenen
passiven Akteuren.
Zu den Aktionsrelikten, die aus dem Geschehensablauf
resultieren, gehören allerdings nicht ausschließlich Tragekonstruktionen.
Weiße Stofftücher bezeichnen oder hinterfangen fallweise das unmittelbare
Aktionsfeld. Je intensiver sich das Aktionsgeschehen gestaltet, desto
markanter fallen seine Spuren aus. Das Format dieser Relikttücher bestimmen
architektonische Gegebenheiten, Aspekte des Spielablaufes oder die Größe
eines Tierkadavers (Stiertuch, Schaftuch).
Zwischen
Relikt und Aktion besteht ein anderes Verhältnis als dies zwischen dem Akt
der Malerei und dem Gemälde der Fall ist. Das Aktionsgeschehen wird primär
nicht mit der Absicht inszeniert, Speicherkapazitäten entstehen zu lassen.
Die Aktion vollzieht sich vor anwesenden Spielteilnehmern (Zuschauern) und
mitwirkenden Akteuren. Die tatsächliche Anwesenheit des Rezipienten bleibt
unersetzlich. Die Qualität eines Aktionsreliktes kann mit dem
Intensitätsgrad zusammenhängen, den der Spielablauf im Moment seiner
Entstehung erreicht hat. Das völlige Aufgehen im Aktionsvorgang, die
rücksichtslose Exaltation sichert den eindrucksvollsten Abdruck dessen, was
geschehen ist. Statt den virtuos eingesetzten Kompositionsmitteln ist ein
Zustand maßgeblicher Entäußerung Garant für ein ergreifendes Reliktbild.
Nachbearbeitungen sind eher selten und verstehen sich in erster Linie als
Akzentuierungen bestimmter Passagen.
Die Ekstase, die Ausgelassenheit, die Gewalt sind auf den
Aktionsrelikten in die Präsenz des Materials gebettet. Die Oberflächen sind
aufgeladen vom Spielablauf, dessen Spuren längst ins Material getrocknet
sind. Obwohl den Aktionsrelikten, vergleichbar der Aktionsmalerei Nitschs,
die Bewegung lediglich eingeschrieben, das heißt ihre Konsequenz an der
Oberfläche sichtbar ist, versuchen sie, zum Environment inszeniert, mit den
ihnen eigenen ästhetischen Möglichkeiten den künstlerischen
Gestaltungsansatz des Aktionskonzeptes Orgien Mysterien Theater zu
vermitteln. Das Aktionsrelikt ist allerdings kein Repräsentant des
Aktionsgeschehens. Es ist das, was vom Spielablauf nicht auf einem
Bildträger darstellbar ist. Seine lebendige Eigenständigkeit ist der nicht
darstellbare Ursprung der Repräsentation.
Wie in der Partitur
vorgesehen, verlagert sich das Spielgeschehen in die Ruine eines ehemaligen
Bauernhauses. Bahren mit daran festgebundenen Tierkadavern und passiven
Akteuren werden hineingetragen. Die Zuschauer blicken durch Moos bewachsene
Fensteröffnungen und die zahlreichen Risse im Mauerwerk. Nachdem die
Tragbahren abgestellt sind, erfolgen die üblichen, zum Ritual des Orgien
Mysterien Theaters gehörenden Handlungen. Den festgebundenen und mit
Augenbinden versehenen passiven Akteuren wird Blut in den Mund gegossen, das
ihnen über Gesichter und Brust rinnt. Gedärme werden immer wieder in die
aufgeklafften Tierkadaver gestopft. Zwischen den Gesichtern der Zuseher
ragen mehrere Blasinstrumente ins Innere der Ruine und schicken lang
gezogene, in der Hitze der Nachmittagssonne hysterisch anmutende Töne ins
Spielgeschehen. Plötzlich besinnt sich einer der Gedärme stopfenden Akteure
des grundsätzlich für Improvisationen und emotionale Entäußerungen offenen
Charakters dieser Form des Aktionstheaters und bewirft einen neben ihm
stehenden Akteur mit Blut triefendem Gekröse. Als Antwort wird ihm ein Kübel
in der Hitze warm gewordenen Blutes über den Kopf geleert. Fröhlich, in
einzelnen Momenten aber auch wie irrsinnig lachend, beteiligen sich bald
alle anwesenden Akteure an dieser merkwürdigen Schlacht. Sogar die
festgebundenen passiven Akteure nehmen daran teil, indem sie das ihnen in
den Mund gegossene Blut in heiteren Fontänen von sich spucken. Man könnte
meinen, sie belustigen sich daran, im Inneren zerfetzt zu sein. Was sich
nunmehr entwickelt, lässt sich am ehesten mit einer aus Kindertagen
geläufigen Polsterschlacht vergleichen. Eine Ausgelassenheit, die nicht
zuletzt durch die immer mühseliger hervorgebrachten, in dissonantem
Verhältnis zueinander stehenden Töne und den bedrohlichen Geruch und den
ganzen Ekel, der von dem Blut und den Eingeweiden ausgeht, unter die
vereinzelt auch Früchte gemischt sind, einen sich zum Wahnsinn neigenden
Aspekt aufweist. |