Es wäre wohl kaum
aufschlussreich oder zweckmäßig, die fünf Sinne zählen zu wollen, anhand
derer die Umwelt in der Regel a posteriori von den Exponenten der gleichsam
unreinen Vernunft gedeutet wird – vor allem, wenn einer gerade mal poetisch
oder aber deterministisch aufgelegt ist. Denn aus so einem methodologisch
intendierten Aneinanderreihen von Instanzen des Wahrnehmbaren wird
selbstredend immer mehr; ja oft genug wird daraus sogar ein anfangs wackeliger, nein, wagen wir es zu sagen: ein
schon von Anfang an solider Gedanke – soweit
zumindest die jeweiligen
Umstände der durch sinnliche Ausdrucksmittel formulierten Perspektive der
Wirklichkeit es gestatten, dass Gedanken gehegt
werden, wo eigentlich die Empfindung zu Hause ist.
Das Kulturmonopol lässt
nämlich selten mit sich spaßen. Und auf das Amt des Dichters per se darf
leider seit Thomas Mann, der als "Bürger in der Literatur" über das Papier
hinwegschoss, um Spracherlebnisse für Herz und Verstand zu bieten, so gut
wie niemand mehr Anspruch erheben.
Es steht geschrieben: Wie
soll einer heutzutage noch aus Sinnen ersinnen? Wie soll da Eros noch
sozusagen mit allen Papieren ins Wort schlüpfen? Wie soll ein
Text noch lebendig werden? Wie sollen sich noch tatsächliche Begriffe mit
Hand und Fuß bis an den Alltag heranschleichen? Na ja, wer weiß ...
Vielleicht glückt es ja am Ende. Sagbare Dinge haben
jedenfalls schmackhaft zubereitet zu sein.
Wörter mit Sinn, Wörter
der Besinnung, Wörter, die die Urtümlichkeit der Sprache offenbaren sollen:
für sie braucht es Eigensinn und Spontaneität. Und doch wird Dichtung,
mehr noch, Poesie manchmal auf Kommando in die Welt gesetzt, um
die paar Sinne zu vervielfältigen, die zur
Bedeutungsproduktion einer mutmaßlich allgemein-verbindlichen dichterischen
Auffassung nötig sind.
Als etwa Kurt Schwitters
in seinem in hundert Sprachen übersetzten Gedicht "An Anna Blume" die
"Geliebte meiner siebenundzwanzig Sinne" beschwörte, hätte er sich nicht
träumen lassen, dass im Expo-Jahr 2000 mehr als hundert Dichter aus aller
(Damen und) Herren Länder ihre im Auftrag der Niedersächsischen
Staatskanzlei verfassten Anna-Blume-Korrespondenzgedichte in Hannover zur
interkulturellen Sensationspolyphonie auftischen sollten. Nicht fünf oder
sechs, sondern gleich siebenundzwanzig Dimensionen der Sinnlichkeit, von
professionellen Reimemachern wörtlich erschlossen und durchaus antastbar
verpackt! Hätte es da Sinn, weiterzuzählen?
Aber jetzt einmal echt:
Mein Freund, der Dichter, hat sich gestern Abend bei mir gemeldet. Er
brachte eine Flasche Rotwein mit, die er auch gleich entkorkte. Das ist so
seine Art. Als schreibende Person, ja als Exponent der Inspiration hat jeder
Bleistifthüter immer was im Korb. Mit lateinischen Zitaten schleppt er sich
herum, wenn ihm wieder mal nach etwas Wahrheit zumute
ist. Der Dichter schien gestern ausnahmsweise mit sich zufrieden zu sein.
Das Manuskript hatte er freilich noch nicht zu Ende bringen können,
obwohl die Deadline schon längst vorbei war. Immerhin witterte er
bereits die letzten Zeilen: die ausschlaggebenden Momente des schöpferischen
Aktes. Ich allerdings begann mit der Zeit ziemlich ungeduldig zu werden. Der
Dichter kann nämlich manchmal sehr langsam schreiben. Und dann sehr lange
ruhen. Seine Poetologie ist meistens organisch veranlagt. Ich
schaute mir an, was für Gedichte er so neulich verfasst hatte. Und ließ mir
natürlich einschenken. Erbauliches Zeug?
Aber das waren ja
eigentlich gar keine Gedichte! Das war Prosa! Nein, Prosa ist auch nicht der
rechte Begriff. Das war zwar an sich durchaus ein poetisches Schriftstück,
aber keineswegs lyrisch zu nennen, und auch nicht episch, sondern vielmehr
irgendso ein unmittelbares Vehikel denkbarer Wahrhaftigkeit – ein
uneigentliches Ding der Seele, besser gesagt, ein lebendiges Manifest der
Sagkraft, oder ein ... Moment, das sind sind ja gar nicht meine Worte, das ist
doch schon wieder mal der Auszug aus der Zeitung! "Unkonventionell
unzeitgemäß." So die Kritik.
Ich sollte keine Zeitungen
mehr lesen, meint er. Der Dichter hasst Zeitungen. Ich aber nicht. Denn da
stehen ja immer auch viele Dinge drin, die der Mensch braucht. Die Anzeigen
zum Beispiel. Und die Sportseite, und das Keuzworträtsel, vom Leitartikel
ganz zu schweigen. Das ist jetzt aber nicht so, dass ich ohne diese
quasi-kulturellen Güter nicht leben kann. Der Dichter hat es ja
auch nicht so streng gemeint. Aber was ich sage wird sowieso kaum
festgehalten. Was der Dichter gesagt hat, das haben sich sogar die
Professoren von der Universität sorgfältig aufgeschrieben. Und die
Sekretärin von der Akademie. Und der Notar. Und der Exekutor.
Vereinnahmung von Texten.
Verabreichung von Bedeutungen. Gewachsenheit der Konnotationen. All diese
Sachen können manchmal unheimlich konkret werden. Der Besuch des Dichters
hat nämlich wieder einmal meinen chronischen Hunger wachgerufen. Das
Verlangen nach der Zufuhr von schmackhaften Dingen. Dieses inwendige
Bedürfnis, Geschaffenes auswendig zu lernen. Die Sehnsucht nach mehr. Den
Traum vom gewissen Etwas, das jeder gern sein eigen nennen würde.
Was ich will? Ich will
essen. Ich will ein gutes Buch lesen. Ich will mit einer hübschen Frau
zusammen sein. Sie nur für mich haben. Mich nur ihr hingeben: den Blick im
Augenblick einfangen, wie der Dichter es einmal ausdrückte.
Aber das wollen ja alle.
Nein, ich will eine Idee formulieren, eine eindringliche Idee: etwa die
der Liebe. Ja, der Sinnlichkeit. Weil Liebe immer sinnlich ist. Wie das
Trinken. Wie das Seufzen. Wie das Hoffen. Ich würde über ihren Körper
walten. Aber diesmal bis ans Ende. Ich würde mit ihr an den Wasserfall gehen
und ich würde ihr sagen, dass es allein an ihr liegt, wo wir uns umarmen.
Weil ich da bin. Weil mein Entschluss längst feststeht.
Sie würde sich ausziehen.
Sie würde mich anblicken – kein Wort zwischen uns. Ich würde ihren Blick
verstehen. Ich würde sie lieben. Für eine geraume Zeit. Dahinter würde
nichts stehen. Davor würde es nichts gegeben haben. Darüber hinaus hätte
nichts mehr einen Sinn. Die Stimme ihres Körpers würde ich für immer
behalten. Gehört sie mir, so ist es meine Pflicht, mich dem Echo ihres
Zaubers hinzugeben. Ich würde sie kennenlernen. Aber nicht von Anfang an,
nein, kennenlernen würde ich sie viel später. Erst nachdem sie sich mir bei
sternbedecktem Himmel ... erst nachdem ich mich ihr ... Erst dann würde ich sie
kennenlernen.
Aber die eigentliche Stunde
dieser Offenbarungen war schon längst vorbei, als der
Dichter an meine Tür schlug. Er hatte noch nicht zu Abend gegessen. Ihm war
eingefallen, dass es bei mir immer diesen saftigen, beinahe schmackhaft zu
nennenden Braten gab, den er strenggenommen gar nicht so
mochte, der ihn aber dieses Mal anzog, wie übrigens auch letztes Mal, weil ...
ja weil er eben nichts dagegen hatte, mal wieder kräftig
zuzulegen. Nur war ihm der Atem ausgegangen, weswegen er kurz
verschnaufen musste. Mein Braten war sowieso längst aufgegessen. Weil ich
keine Ahnung hatte, dass der Dichter kommen würde. Weil dem Dichter sowieso
egal ist, was er isst, ja ob er überhaupt etwas isst. Seine Einbildungskraft
genügt sich selbst. Bei mir ist das ganz anders. Mir ist nichts
egal von dem, was ich empfinde. Den Dichter mag ich vor allem, weil er mir
immer so aus der Seele spricht. Dafür habe ich freilich Angst vor der
Unendlichkeit. Noch mehr Angst hab ich jedoch vor der Endlichkeit. Wenn ich
einmal sterbe, dann wird es nur für eine kurze Weile sein.
Der Dichter hat mir das
alles einmal ganz genau erklärt. Ich will auch fest daran glauben, denn
sonst bleibt mir wenig übrig. Wenn ich durch das Fenster schaue, weiß ich,
was Wirklichkeit ist. Und wenn ich ein Buch aufschlage, weiß ich, dass
Geistigkeit Lebendigkeit ist oder doch werden kann. Aber nein, ich schage ja
kein Buch auf. Mein Laptop genügt. Aber mein Laptop streikt.
Der Mensch besteht aus
Fleisch und Blut und Hoffnung und Gemütlichkeit: aus Leib und Seele. Man
kann einen Menschen umarmen. Aber nur, wenn er da ist. Wenn er nicht da ist,
dann besteht der Mensch aus Information. Man kann die Information nicht
umarmen.
Als er zuletzt bei mir
gewesen war, hatte der Dichter wieder einmal eine seiner seltsamen Theorien
des Lebens, von denen er freilich meinte, sie seien Erscheinungsformen des
Sterbens, verbreitet. Der Dichter meinte zu wissen, dass das Leben an sich durchaus
anorganisch sein kann. Die Sterne zum Beispiel – keine Spur Kohlenstoff –
seien Lebewesen. Ich wusste dagegen nichts einzuwenden. Der Dichter hat so
eine Art, Axiome um sich herumzuschleudern. Da muss man immer den Kürzeren
ziehen.
Und die Zeit hat er auch
beträchtlich komprimiert: vedichtet, wie er zu scherzen beliebt. Das leitet
er alles von der Unschärferelation ab, aus der er seine Sinne schöpft. Ich
glaube zwar nicht, dass er recht hat, aber ich glaube auch nicht, dass er
sich irrt. Was er sagt, ist offensichtlich schon in sich gereimt. Irgendwie
leuchtet das Ding ein, aber irgendwie stimmt es eben doch nicht.
Das mit der Abschaffung der
Zeitlichkeit zum Beispiel: "In dem unbestimmten Zeitraum zwischen vorgestern
und heute ist nichts passiert." Die einzelnen Schritte der Beweisführung
konnte ich schlecht widerlegen, als mich der Dichter dazu aufforderte. Doch
seine souveräne Schlussfolgerung mitzuvollziehen, will mir auch heute nicht
so recht gelingen.
Dass die Sinne manchmal
nicht hier, sonders anderswo seien, dürfte wohl als eine der unheimlichsten
Vorstellungen gelten, mit denen mir der Dichter je zu Leibe gerückt ist.
Natürlich bin ich dieser Vorstellung jedes Mal so gut wie möglich
ausgewichen, nur kam sie mir eben manchmal sehr nah. Das ergibt dann immer
so ein Gefühl des Nichtdaseins. Das Gefühl verlässt einen nie. Es ist ja
auch kein richtiges Gefühl, sondern vielmehr eine wohlbedacht fabrizierte
Empfindung. Ich denke da gerne an Abwehr. Er nennt es Einfühlung.
Zur Rezeption. Ganz offen:
Bei mir kommen die Bedeutungen an. In mir blühen sie auf. Nach mir sterben
sie ab. Vollbracht. Verbraucht. Genossen. Erdrossen. Auf immer. Dass ich
aber ein Mitläufer der poetischen Lebensauffassung sei, ist nicht wahr. Ganz
im Gegenteil: Ich vertrete nie eine Meinung, die der Dichter vertritt, auch
fehlt mir der vollständige Einblick in die Anschaulichkeit der Dinge, die er
stiftet. Einen druckreifen Vierzeiler vermochte ich nie auf Papier zu
bringen, wo es doch gewöhnlich beim Briefeschreiben ziemlich gut klappt.
Metaphern verstehe ich kaum, und jedwelche Symbolik kommt mir leicht
abhanden. Was tun damit? Auch sonst geht es bei mir strenggenommen ganz und
gar nicht poetisch zu. Und trotzdem.
Ein Gut haben, das gehört
spätestens seit Aristoteles zu den unabdingbaren Voraussetzungen unserer
"westlichen" Weltanschauung, so die Enzyklopädien. Wie aber Gut und Habe
eines Dichters eingerichtet sind, hat sehr viel mit der Formulierung seines
poetischen Selbstverständnisses zu tun, ganz egal, ob man ihn sich nun
lebendig oder tot vorstellt. Eine glückliche Aneinanderreihung von Lexemen
führt immer zu einem zureichend erkennbaren geistigen Eigentumsrecht auf dem
Gebiet der Sprache: zu einem Satz, der sitzt.
Jeder Satz des Dichters
wird seit dem Tag seiner Erstveröffentlichung an der Börse gelistet.
Sprachstrotzende wie sprachlose Leute greifen unentwegt danach, wenn sie
sich psycholinguistisch oder eben bloß erkenntnistheoretisch weiterbilden
bzw. zerstreuen wollen. Poetry is coll, man! sagte neulich der
Oberbürgermeister, worauf seine Assistentin aus lauter Entzückung drei Mal
verbindlich stöhnte. Und der Dichter wurde prompt ersucht, einen
angemessenen Vierzeiler für den Rahmen zu dichten, der schon seit einiger
Zeit vom städtischen Bildhauer zum Thema The Human Body: Inside and out
fertiggestellt wurde.
Als er sich heute wieder
meldete, war ich in Anbetracht seiner selbstverständlichen Urtümlichkeit
ziemlich benommen. Ich wollte eigentlich schlafen gehen, habe es jedoch
schließlich unterlassen. Jetzt ist der Dichter schlafen gegangen. Und ich bin
allein mit seinen Texten. Alles, was ich will, darf ich mir nehmen. Ich darf
mir die Gefühle aneignen, die da feilgeboten werden. Ich darf Gedanken
hegen, die woanders entstehen. Ich darf sie billigen, verstoßen, verdrehen
oder vielleicht sogar vollenden. Ob er wohl träumt? Niemand hat den Dichter
gelehrt, feuertrunken zu sein. Aber irgendwann wird er ganz bestimmt darauf
kommen. |