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Aspekte der Hör- und Sprachentwicklung

Grundlagen geglückter Kommunikation

Hören verbindet Menschen und ermöglicht und die verbale Kommunikation. Neben
den Worten hören wir den Klang der Stimme und die Emotionen, die darin mitschwingen.
Schlecht zu hören schafft Missverständnisse, Misstrauen, verunsichert und trennt von der
Welt der Hörenden. Musik berührt uns. Akustische Signale warnen und helfen,
uns zu orientieren. Geräusche sind allgegenwärtig.

Von Andreas Seimer
(01. 09. 2007)

...



Dr. Andreas Seimer
paedaudiologie [at] vinzenz.de

geboren 1956, ist leitender
 Arzt der Abteilungen "Phoni-
atrie und Pädaudiologie"
sowie Logopädie am Marien-
hospital Stuttgart. Er ist
Logopäde, Facharzt für
Phoniatrie und Pädaudiologie
sowie für HNO-Heilkunde
und Landesarzt für Hör-
und Sprachbehinderte in
Baden-Württemberg.

 

 

Buchtipps


Wolfgang Bigenzahn.
Gerhard Friedrich.
Patrick Zorowka.
Phoniatrie und Pädau-
iologie. Einführung in die
medizinischen, psycho-
logischen und linguist-
ischen Grundlagen von Stimme, Sprache
und Gehör.
Huber, 2005, 490 S.
ISBN:
3456840292


 


 

Die aufrechte Haltung
bewirkte neben einer
anderen Körperstatik, ein
geändertes Kopfwachstum.
Dadurch konnte sich der
Mundraum mit der Zunge,
der Rachenraum und die
Lage des Kehlkopfes für
die neuen Aufgaben des
Sprechens anpassen.

 

 

 

 

Wolfgang Ellermeier.
Jürgen Hellbrück.
Hören. Physiologie. Psy-
chologie und Pathologie.
Hogrefe, 2004, 354 S.
ISBN:
3801714756

 



 

Erste Hörreaktionen sind
um die 20. Schwangersch-
aftswoche zu sehen. Somit
ist etwa in der Mitte der nor-malen Schwangerschafts-
dauer von 40 Wochen
der Hörsinn erwacht.

 

 


 

Georg Eska.
Schall und Klang.
Wie und was wir hören.
Birkhäuser, 1997, 242 S.
ISBN: 3764357282

 



 

Die Bauchdecke und
das Fruchtwasser in der
Gebärmutter dämpfen
Außengeräusche. Die
Stimme der Mutter wird
durch die Weiterleitung
im Körper wesentlich bes-
ser übertragen als die
Stimmen anderer
Menschen. Das Kind
prägt sich die spezielle
Sprachmelodie und die
Dynamik (Prosodie) der
mütterlichen Stimme ein
und erkennt sie nach
der Geburt wieder.

 



 


Margarete Imhof.
Zuhören. Psychologische
Aspekte auditiver Infor-
mationsverarbeitung.
Vandenhoeck & Ruprecht,
2003, 350 S.
ISBN: 3525480040

 

 



Mütter und Kinder sind in
einem frühen und engen
Dialog, der zum Beispiel
durch die "Ammensprache"
der Mutter automatisch
unterstützt wird.

 

 


 

Joachim-Ernst Berendt.
Das Dritte Ohr. Vom
Hören der Welt.
Rowohlt, 1988.
ISBN: 3499184141

 



 

Unser Hörsystem vom
Innenohr bis zur Bewusst-
werdung im Großhirn
vollbringt eine schier
unglaubliche Leistung.
Die Laute sind nur wenige
Millisekunden in der fließ-
enden Sprache zu hören
und es gibt Übergänge
zwischen den Lauten, und
deren Unterschiede
sind häufig minimal.

 


 

 

Thomas Spillmann.
Susanne Wagner.
Augenblicke für das Ohr.
Der Mensch und sein Gehör.
Rüffer & Rub, 2004, 316 S.
ISBN:
3907625153

 

 

Bei einer Innenohr-
schwerhörigkeit sind die
Sinneszellen in der Hör-
schnecke (Cochlea) defekt.
Diese wandeln die mecha-
nische Energie des Schalls
in Nervenimpulse für den
Hörnerv. Bei einer Schä-
digung sind häufig die
Sinneszellen für die hohen
Töne besonders betroffen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Je mehr Lücken und
Verzerrungen im Hörsignal
sind, umso höher müssen
die Leistungen des Gehirns
sein, das Sprachsignal
daraus zu extrahieren.
Das Hören strengt an.

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Cochlea-Implantat

 

 

 

 

 

 

 

 

Schon in der Geburtsklinik
erfolgt um den dritten
Lebenstag ein Neuge-
borenenhörscreening.
Dabei macht man sich
eine besondere Eigenschaft
des Ohres zunutze: Unser
Ohr nimmt nicht nur akus-
tische Reize auf, sondern
wird durch diese auch
dazu angeregt, selbst
sehr leise Geräusche
zu produzieren.

 

 

 

 

 

 

 

 

Hörstörungen nehmen zu.
Durch Lärmeinwirkung
werden die feinen Sinnes-
zellen im Ohr geschädigt
und unsere Hörwahrneh-
mung eingeschränkt. Dies
ist meist ein schleich-
ender Prozess.

 

 

 

 

   In unserer natürlichen Umwelt gibt es keine absolute Stille, aber erholsame Ruhe mit leisen Geräuschen. Und wenn es im Zimmer ganz leise ist, können wir immer noch uns selbst hören: unseren Atem, den Herzschlag, das Rauschen unseres Blutes und die Geräusche, wenn wir uns bewegen. Viele Menschen fürchten die Ruhe, denn sie hören dann ihre "Ohrgeräusche" (Tinnitus) und können diesen nicht entfliehen. Dieser "Lärm im Kopf" wird in unserem Alltag noch übertroffen von den Geräuschen unserer technischen Umgebung: Lärm durch Verkehr, verstärkter Musik, am Arbeitsplatz, aber auch durch eine aggressive Lebensweise. Inzwischen gibt es keine Zweifel mehr, dass Lärm uns körperlich krank macht. Neben dem "Hinhören" wird das "Weghören" immer wichtiger.

Man sagt, dass man die Augen schließen könne, um nichts zu sehen, aber die Ohren hören 24 Stunden am Tag. Immer mehr Menschen leiden unter einer Geräuschempfindlichkeit (Hyperakusis) auf laute oder bestimmte Geräusche. Dieses Phänomen tritt immer häufiger bei Kindern auf und immer mehr haben Probleme in der Sprachentwicklung. Sie verstehen nicht, was ihnen gesagt wird, haben Probleme in der Aussprache (Artikulation), können keine altersgemäßen Sätze bilden (Dysgrammatismus) oder haben keinen ausreichenden Wortschatz zur Verfügung.

"Mama", "Bagger", "Papa". Die ersten drei Worte unserer Tochter kennzeichnen das, was allgemein als "Sprachbeginn" angenommen wird. Sie war knapp ein Jahr alt und der Bagger vor dem Fenster hatte mehr Realität oder Bedeutung als der berufstätige Vater. Aber eigentlich hat die Sprachentwicklung schon viel früher begonnen.

   Sprache und Sprechen (gesprochene Sprache) stehen den Menschen in der Entwicklungsgeschichte (Phylogenese) erst seit 60.000 bis 80.000 Jahren zur Verfügung. Sie sind damit eine "junge Errungenschaft" und es ist verständlich, dass so ein komplexer Prozess störanfällig und genetisch noch nicht gut abgesichert ist.

Einige Voraussetzungen waren nötig, dass sich das Sprechen entwickeln konnte. Nachdem die Menschen den aufrechten Gang erlernt hatten, konnten sie weiter über die Grasebenen sehen, Gefahren und Beute früher erkennen und hatten die Hände vom Laufen befreit und für neue Tätigkeiten gewonnen. Die aufrechte Haltung bewirkte neben einer anderen Körperstatik, dies spüren wir ohne entsprechendes Training schmerzhaft in unserem Rücken, ein geändertes Kopfwachstum. Dadurch konnte sich der Mundraum mit der Zunge, der Rachenraum und die Lage des Kehlkopfes für die neuen Aufgaben des Sprechens anpassen und die exakte Lautbildung ermöglichen. Der Umgang mit dem Feuer machte Fleisch besser verträglich und die eiweißreiche Ernährung unterstützte den Aufbau von Muskeln und Nervengewebe. Die Hirnmasse nahm zu und wurde durch neue Lernprozesse (Erwerb des Werkzeuggebrauchs), aber auch durch das soziale Lernen in der Gruppe ausdifferenziert.

   Durch die Isolierung von Nervenfasern (Myelenisierung) voneinander erhöhte sich die Leitgeschwindigkeit und Selektivität. Damit war die Grundlage für eine präzise Steuerung der Feinmotorik und des Sprechens geschaffen. Mehrere Sinnessysteme sind für das Sprechen erforderlich. Das wichtigste für die Sprachentwicklung und das Sprechen ist unser Hörsinn, der durch den Sehsinn wie auch den kinästhetisch-taktilen Sinn (Bewegungs- und Berührungssinn) unterstützt wird. Die Eindrücke der Sinne müssen miteinander verknüpft werden (sensorische Integration). Erst dann sind die schnellen und fein abgestimmten Bewegungen beim Sprechen möglich.

Die neun Monate der Schwangerschaft sollen das ungeborene Kind auf die neue Lebensphase vorbereiten. Aus der Samen- und der Eizelle differenziert sich schon sehr bald spezielles Gewebe, so dass ab dem 22. Tag nach der Befruchtung die Herzmuskelzellen ihre Arbeit aufnehmen. Gleichzeitig können Nervenzellen gefunden werden, die sehr rasch in ihrer Anzahl zunehmen und sich bemühen, Kontakt zueinander herzustellen. Es werden Verbindungen geknüpft, gelöst und neue gesucht. Wenn über diese Nervenfasern nun erste Informationen ausgetauscht werden, verstärken sich diese Verbindungen und das erste Lernen hat erfolgreich begonnen.

   Um den 40. Tag nach der Befruchtung ist das menschliche Wesen schon mit einem großen Kopf, Armen und Händen und noch kleinen Beinen und Füßen zu erkennen. Das Herz schlägt rhythmisch und das Nervensystem schickt schon seine Impulse an die Arme und bald auch an die Beine. Es sind zunächst kleine, ungerichtete Bewegungen zu erkennen, die dann immer gezielter werden und damit anzeigen, dass das Zusammenspiel zwischen Motorik und dem taktil-kinästhetischen System funktioniert. Jede Bewegung und jedes Spüren verstärken die Verknüpfungen im Nervensystem und sind Anreiz für das rasche weitere Wachstum und werden somit zum "Schrittmacher" für die Entwicklung. Besonders viele Sinneszellen entwickeln sich an den Fingerbeeren und im Mundraum am Gaumen. Somit stimuliert das Saugen am Gaumen, das schon früh in der Schwangerschaft gefunden werden kann, den Mundbereich und bereitet das Saugen für die Ernährung und die Empfindung, die für die Artikulation beim Sprechen erforderlich ist, vor.

Um die 12. Schwangerschaftswoche folgt der Gleichgewichtssinn. Im Innenohr nimmt das Gleichgewichtsorgan seine Funktion auf. Jetzt beginnt das ungeborene Kind neben den Berührungsreizen auch die Lage im Raum wahrzunehmen und auf Beschleunigungsreize zu reagieren. Im Innenohr entwickelt sich neben dem Gleichgewichtsorgan zusammen das Hörorgan mit den Sinneszellen in der Hörschnecke. Erste Hörreaktionen sind um die 20. Schwangerschaftswoche zu sehen. Somit ist etwa in der Mitte der normalen Schwangerschaftsdauer von 40 Wochen der Hörsinn erwacht.

   Die Hörwelt in der Gebärmutter ist überhaupt nicht ruhig. Dauernd sind der Herzschlag und das Geräusch der Bauchschlagader zu hören. Das Kind lernt dadurch Rhythmus zu hören und erkennen sowie eine gewisse Zeitlichkeit: einem Herzschlag folgt ein nächster. Außerdem grummeln und gluckern der Magen und der Darm mit ganz unterschiedlichen Tönen. Fauchende und strömende Geräusche sind durch die Atmung zu hören, die mit einem wesentlich langsameren Rhythmus erfolgen. Dies ist die ganz spezielle "Musik" des Ungeborenen.

Die Bauchdecke und das Fruchtwasser in der Gebärmutter dämpfen Außengeräusche. Die Stimme der Mutter wird durch die Weiterleitung im Körper wesentlich besser übertragen als die Stimmen anderer Menschen. Das Kind prägt sich die spezielle Sprachmelodie und die Dynamik (Prosodie) der mütterlichen Stimme ein und erkennt sie nach der Geburt wieder. Die tiefe Männerstimme kann besser gehört werden als eine fremde höhere Frauenstimme. Es beginnt die Zeit der Kommunikation. Laute Geräusche erschrecken das Kind, hohe laute Geräusche stressen es und führen zu Abwehrbewegungen, die die Mutter spürt. Andererseits lernt das Kind auch die Emotionen der Mutter mit der Stimme zu koppeln, eine wichtige Voraussetzung für das spätere Überleben. Ist die Mutter ärgerlich, wird Adrenalin ausgeschüttet, der Herzschlag bei Mutter und Kind beschleunigt, die Muskulatur angespannt und das Kind hört eine lautere und energische Stimme.

   Es wird immer wieder über Beispiele berichtet, in denen Kinder und Erwachsene Musik wiedererkennen, die sie pränatal gehört haben. Somit können Kinder über vertraute Musik nach der Geburt beruhigt werden. Dies gilt auch für Verse und Gedichte, aber auch für die "Muttersprache". Mütter, die in Russland aufgewachsen waren und Russisch lernten, leben später in Frankreich. Sie beherrschen die Landessprache und das Kind hört pränatal nur Französisch. Einige Zeit nach der Geburt werden die Mütter aufgefordert, mit ihren Kindern Russisch zu sprechen, und die Kinder reagieren darauf.

Musik und Sprache sind komplexe Systeme. Kinder können aber auch minimale Unterschiede erkennen. So sind sie schon bald nach der Geburt in der Lage, die Laute "k" und "t" zu unterscheiden.

Für die weitere Entwicklung des Kindes ist es wichtig, dass es in Sicherheit, unter Befriedigung seiner basalen Bedürfnisse und in einer positiven emotionalen Stimmung lebt. Es braucht für die Sprachentwicklung die frühe verbale Kommunikation in einer ruhigen Umgebung, die durch den Blickkontakt, Berührung und eine breite Empathie gestützt wird. Dann lernt es, unwichtige Geräusche und Reize "auszublenden" (Habituation) und die wichtigen Reize herauszufiltern. Es ist ein Entwicklungs- und Lernvorgang, der leicht gestört werden kann. Die Nähe beim Stillen mit dem engen Blickkontakt erfüllt wichtige Voraussetzungen. Ungünstig ist es, wenn die Ernährung unter Stress, in einer lauten Umgebung (zum Beispiel mit Radio oder Fernseher im Hintergrund) und ohne Blickkontakt erfolgt. Dadurch fehlen vertrauensbildende Erfahrungen, die später Ursache für eine Kommunikationsstörung sein können. Mütter und Kinder sind in einem frühen und engen Dialog, der zum Beispiel durch die "Ammensprache" der Mutter automatisch unterstützt wird. Die Sprechstimmlage der Mutter erhöht sich, die Melodie der Stimme wird verstärkt und die sprachlichen Äußerungen sind kurz. Das Sprechtempo ist niedrig, die Satzstruktur einfach mit Verkürzung auf die entscheidenden Worte. Die Worte und Sätze werden oft wiederholt und an die Reaktionen des Kindes angepasst. Dadurch merkt das Kind, dass es durch Reaktionen und Laute etwas bewirkt, und dies ist ein zusätzlicher Anreiz für das Kind, es weiter zu probieren. Wenn das Kind dann gezielt "Mama" sagt, hat es zuvor schon riesige Schritte in seiner Sprachentwicklung gemacht.

   Sprache hören und verstehen ist ein sehr komplexer Vorgang. Das, was wir hören, ist viel mehr als eine "Aneinanderreihung von Lauten". Die Laute gehen ineinander über und sind nicht scharf getrennt, wie wir sie später beim Schreiben als Buchstaben nutzen. Unser Hörsystem vom Innenohr bis zur Bewusstwerdung im Großhirn vollbringt eine schier unglaubliche Leistung. Die Laute sind nur wenige Millisekunden in der fließenden Sprache zu hören und es gibt Übergänge zwischen den Lauten, und deren Unterschiede sind häufig minimal. Dafür bedarf es eines intakten Ohres und einer guten Weiterleitung durch den Hörnerv und die Hörbahn im Gehirn. Schon auf sehr niedrigen Ebenen der Hörbahn greift ein Filtersystem ein. Wir haben Nerven, die am Anfang eines akustischen Reizes aktiv sind, andere sind es am Ende und wieder andere während des gesamten Reizes. Einige reagieren auf Lautstärke- und andere auf minimale Tonhöhenänderungen.

Welche Leistungen unser Hörsystem vollbringt, soll am Beispiel der Lautunterscheidung gezeigt werden: Formanten sind energiereiche Teilbereiche des Stimmsignals. Die Lage des ersten und zweiten Formanten ist für die Vokale entscheidend. Der Unterschied beispielsweise zwischen "i"und "ki" entsteht durch einen ansteigenden ersten Formanten. Bei "si" kommt vor dem "i" ein hochfrequenter Geräuschblock, getrennt durch eine sehr kurze Pause. Wird die Pause etwas länger, hören wir "ski".

 

(aus: Manfred Spreng. Physiologische Grundlagen der
kindlichen Hörentwicklung und Hörerziehung
,
Vortrag am
12.11.2004 an der Hochschule der Medien, Stuttgart)


Damit solche minimalen Unterschiede wahrgenommen werden können, ist es entscheidend, dass das Hörvermögen optimal ist und dass die Hör- und Sprachentwicklung in einer ruhigen Umgebung erfolgt, denn sonst überdeckt das Störgeräusch die minimalen Unterschiede. Dies kann dann zu Problemen in der Sprachentwicklung und später beim Rechtschreiberwerb führen.

   Somit ist Sprache eine sehr komplexe Leistung und unser wichtigstes Kommunikationsmittel mit einer genetischen Grundlage ("sprachliche Begabung"). Sprachentwicklung ist in den gesamten Entwicklungsprozess eingebunden und bedarf einer intakten Wahrnehmung, Motorik und einer altersgemäßen Kognition sowie günstigen sozio-emotionalen Bedingungen. Sprache wird durch die verbale Kommunikation gelernt ein Kind muss seiner Entwicklung entsprechend angesprochen und gefördert werden.

In der kindlichen Entwicklung sind aber Phasen mit einem eingeschränkten Hörvermögen normal. Diese treten im Rahmen von Infekten mit Schnupfen auf und führen zu einer Flüssigkeitsansammlung im Mittelohr, dem so genannten Paukenerguss. Ein gedämpftes Hören ist die Folge. Meist bessert sich das Hören nach Abklingen der Erkältung und die sprachliche Entwicklung verläuft normal. Dauert die Hörstörung aber länger an, dann verlangsamt sich die Sprachentwicklung oder kann  rückläufig sein. Die Ursache muss geklärt werden. Häufig wird eine vergrößerte Rachenmandel (im Volksmund meist als "Polypen" bezeichnet) gefunden. Diese bewirkt, dass die Nasenatmung behindert ist, die Kinder vermehrt durch den Mund atmen, nachts schnarchen und zu Infektionen neigen. Wenn Inhalieren, viel trinken und abschwellende Nasentropfen keine Besserung erreichen, hilft die operative Entfernung der Rachenmandel. Dies wird meist mit einem Schnitt in das Trommelfell und Absaugen des Mittelohrergusses und häufig der Einlage eines Paukenröhrchens zur Belüftung kombiniert. In der Regel kann damit das Problem gelöst werden. Diese Art der Hörminderung wird als "Schallleitungsschwerhörigkeit" bezeichnet, da der Schalltransport zum Innenohr gestört ist. Man hört leiser, ähnlich wie wenn man sich die Ohren fest zuhält.

   Bei einer Innenohrschwerhörigkeit sind die Sinneszellen in der Hörschnecke (Cochlea) defekt. Diese wandeln die mechanische Energie des Schalls in Nervenimpulse für den Hörnerv. Bei einer Schädigung sind häufig die Sinneszellen für die hohen Töne besonders betroffen. Somit hört man bestimmte Frequenzen leiser. Aber nicht nur die Quantität des Hörens wird eingeschränkt, sondern auch die Qualität. Höreindrücke, die leiser als die Hörfähigkeit des geschädigten Ohres sind, werden nicht gehört, aber laute Geräusche können schon als zu laut empfunden werden. Der Dynamikbereich des Hörens ist eingeschränkt. Das Gehörte klingt außerdem verzerrt und geringe Tonhöhenunterschiede, wie sie für die Lautunterscheidung wichtig sind, können nicht mehr differenziert werden. Dies erklärt, warum eine Schwerhörigkeit des Innenohres im Vergleich zu einer entsprechenden Schallleitungsstörung wesentlich schwerwiegendere Folgen für das Verstehen hat. Zur Hörverbesserung ist eine Hörgeräteversorgung erforderlich. Hörgeräte können die Lautstärke erhöhen und diese an die vorhandene Hördynamik des Ohres anpassen. Die neuen Hörgerätegenerationen sind auch in der Lage, den Störschall weniger zu verstärken als das Sprachsignal. Damit wird das Sprachverstehen erleichtert. Die Verzerrungen und das Frequenzunterscheidungsvermögen aufgrund der Sinneszellschädigungen können aber (noch) nicht entscheidend beeinflusst werden.

Der wechselnde und schlechte Empfang einer Kurzwellensendung kann einen groben Eindruck der Innenohrschwerhörigkeit geben. Der Erfolg einer Hörgeräteversorgung hängt von verschiedenen Faktoren ab: dem Ausmaß der Schwerhörigkeit, dem Beginn der Hörstörung (angeboren, nach der Geburt oder nach dem Spracherwerb), der effektiven Versorgung mit Hörgeräten, der "Hörerziehung" und ganz entscheidend von der Hörverarbeitung (was das Gehirn mit den Informationen der Ohren macht). Je mehr Lücken und Verzerrungen im Hörsignal sind, umso höher müssen die Leistungen des Gehirns sein, das Sprachsignal daraus zu extrahieren. Das Hören strengt an, besonders in akustisch schwierigen Situationen mit Störschall. Dies führt dazu, dass sich schwerhörige Menschen häufig aus Kommunikationen in Gruppen und großen Räumen zurückziehen, da sie nicht mehr ausreichend verstehen. Kindern kann das Verstehen in der Schule erleichtert werden, wenn der Lehrer mit einem Funkmikrofon ausgerüstet wird und das Kind einen an die Hörgeräte gekoppelten Funkempfänger erhält. Somit wird die Stimme des Lehrers "an das Ohr des Kindes geholt".

   Wenn die Schwerhörigkeit so ausgeprägt ist, dass auch mit einer guten Hörgeräteversorgung Sprache nicht ausreichend verstanden werden kann, gibt es seit gut zwei Jahrzehnten die Möglichkeit, die Menschen mit einem so genannten Cochlea-Implantat zu versorgen. Dafür ist eine Operation erforderlich, bei der eine feine Elektrode in die Hörschnecke eingeführt wird. Die Elektrode wird durch einen Sprachprozessor gesteuert und sendet feine elektrische Impulse an die Nervenendigungen im Innenohr und erregt so den Hörnerv. Dies hat nichts mehr mit unserem normalen Hören zu tun. Aber es zeigt sich wieder einmal die Leistungsfähigkeit des Gehirns. Dieses lernt die Nervenreizungen als sinnvolle Signale zu verstehen, und mit der Zeit können Geräusche und Sprache erkannt werden. Somit können auch bisher "taube" Menschen wieder hören lernen. Dies gelingt früh versorgten Kindern wesentlich leichter als Betroffenen, die lange Jahre nichts oder zu wenig gehört haben.

Deshalb ist es wichtig, Hörstörungen möglichst früh zu entdecken. Schon in der Geburtsklinik erfolgt um den dritten Lebenstag ein Neugeborenenhörscreening. Dabei macht man sich eine besondere Eigenschaft des Ohres zunutze: Unser Ohr nimmt nicht nur akustische Reize auf, sondern wird durch diese auch dazu angeregt, selbst sehr leise Geräusche zu produzieren. Die Geräusche können mit einem sehr empfindlichen Mikrofon im äußeren Gehörgang gemessen werden und sind eine Eigenschaft bestimmter Sinneszellen in unserem Innenohr, den so genannten äußeren Haarzellen. Bei einer Innenohrschwerhörigkeit sind fast immer die äußeren Haarzellen mit betroffen, so dass eine Schwerhörigkeit schon früh erkannt werden kann. Ziel ist es, im ersten Lebenshalbjahr das Ausmaß der Schwerhörigkeit zu erkennen und die Kinder mit Hörsystemen zu versorgen. Mit der Begleitung der Familien und einer frühen pädagogischen Hör-Spracherziehung gelingt es meist, dass die Kinder eine gute Sprachentwicklung durchlaufen und im Kindergarten und in der Schule erfolgreich integriert sind.

   Hörstörungen nehmen zu. Durch Lärmeinwirkung werden die feinen Sinneszellen im Ohr geschädigt und unsere Hörwahrnehmung eingeschränkt. Dies ist meist ein schleichender Prozess und fällt den Betroffenen häufig nicht oder sehr spät auf. Dann sind sie schon von den nicht gehörten Frequenzen entwöhnt, und diese müssen erst wieder bei einer Hörgeräteversorgung neu erfahren werden. Da unsere Wahrnehmung auf neue Reize reagiert, werden auch Alltagsgeräusche, die früher ausgeblendet waren, wieder störend gehört. Unser Gehirn muss nun lernen, wichtige von unwichtigen akustischen Reizen zu unterscheiden. Dies gelingt nur, wenn Hörgeräte konsequent tagsüber getragen werden. Je älter der Mensch wird, umso schwerer fällt es, zu lernen. Manchmal scheitert der Erfolg einer Hörgeräteversorgung an dieser Voraussetzung. Die Konsequenz ist, dass eine Hörgeräteversorgung beim Vorliegen einer relevanten Hörstörung so früh und so konsequent wie möglich erfolgen soll. Dazu gehört, dass bei einer beidseitigen Hörstörung beide Ohren mit Hörgeräten versorgt werden. Somit wird ein Richtungshören möglich und das Verstehen im Störschall erleichtert.

Es darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass auch gehörlose Menschen ihre Sprache mit Grammatik haben. Sie nützen eine differenzierte Gebärdensprache, um sich untereinander zu verständigen. Da dies aber eine eigene Sprache ist, bedarf es Dolmetschern zwischen der Gemeinschaft der Hörenden und der Gebärdenden.

Die Forschung und Technik haben es ermöglicht, dass Hörstörungen viel besser versorgt werden können als noch vor einem Jahrzehnt. Diese Technik hat aber ihren Preis. Deshalb ist zu befürchten, dass durch die Sparmaßnahmen in unserem Gesundheitssystem und in der Bevölkerung die Auswirkungen einer Schwerhörigkeit und damit der Verlust an Kommunikation immer deutlicher werden.
 

Dieser Artikel ist zuerst erschienen in: "Universitas",
März 2006, S. 267-286. Web-Adresse: www.hirzel.de/universitas

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