In
unserer natürlichen Umwelt gibt es keine absolute Stille, aber erholsame Ruhe
mit leisen Geräuschen. Und wenn es im Zimmer ganz leise ist, können wir immer
noch uns selbst hören: unseren Atem, den Herzschlag, das Rauschen unseres Blutes
und die Geräusche, wenn wir uns bewegen. Viele Menschen fürchten die Ruhe, denn
sie hören dann ihre "Ohrgeräusche" (Tinnitus) und können diesen nicht
entfliehen. Dieser "Lärm im Kopf" wird in unserem Alltag noch übertroffen von
den Geräuschen unserer technischen Umgebung: Lärm durch Verkehr, verstärkter
Musik, am Arbeitsplatz, aber auch durch eine aggressive Lebensweise. Inzwischen
gibt es keine Zweifel mehr, dass Lärm uns körperlich krank macht. Neben dem
"Hinhören" wird das "Weghören" immer wichtiger.
Man sagt, dass man die Augen
schließen könne, um nichts zu sehen, aber die Ohren hören 24 Stunden am Tag.
Immer mehr Menschen leiden unter einer Geräuschempfindlichkeit (Hyperakusis) auf
laute oder bestimmte Geräusche. Dieses Phänomen tritt immer häufiger bei Kindern
auf und immer mehr haben Probleme in der Sprachentwicklung. Sie verstehen nicht,
was ihnen gesagt wird, haben Probleme in der Aussprache (Artikulation),
können keine altersgemäßen Sätze bilden (Dysgrammatismus) oder haben keinen
ausreichenden Wortschatz zur Verfügung.
"Mama", "Bagger", "Papa". Die
ersten drei Worte unserer Tochter kennzeichnen das, was allgemein als
"Sprachbeginn" angenommen wird. Sie war knapp ein Jahr alt und der Bagger vor
dem Fenster hatte mehr Realität oder Bedeutung als der berufstätige Vater. Aber
eigentlich hat die Sprachentwicklung schon viel früher begonnen.
Sprache
und Sprechen (gesprochene Sprache) stehen den Menschen in der
Entwicklungsgeschichte (Phylogenese) erst seit 60.000 bis 80.000 Jahren zur
Verfügung. Sie sind damit eine "junge Errungenschaft" und es ist verständlich,
dass so ein komplexer Prozess störanfällig und genetisch noch nicht gut
abgesichert ist.
Einige Voraussetzungen waren
nötig, dass sich das Sprechen entwickeln konnte. Nachdem die Menschen den
aufrechten Gang erlernt hatten, konnten sie weiter über die Grasebenen sehen,
Gefahren und Beute früher erkennen und hatten die Hände vom Laufen befreit und
für neue Tätigkeiten gewonnen. Die aufrechte Haltung bewirkte neben einer
anderen Körperstatik, dies spüren wir ohne entsprechendes Training schmerzhaft
in unserem Rücken, ein geändertes Kopfwachstum. Dadurch konnte sich der Mundraum
mit der Zunge, der Rachenraum und die Lage des Kehlkopfes für die neuen Aufgaben
des Sprechens anpassen und die exakte Lautbildung ermöglichen. Der Umgang mit
dem Feuer machte Fleisch besser verträglich und die eiweißreiche Ernährung
unterstützte den Aufbau von Muskeln und Nervengewebe. Die Hirnmasse nahm zu und
wurde durch neue Lernprozesse (Erwerb des Werkzeuggebrauchs), aber auch durch
das soziale Lernen in der Gruppe ausdifferenziert.
Durch
die Isolierung von Nervenfasern (Myelenisierung) voneinander erhöhte sich
die Leitgeschwindigkeit und Selektivität. Damit war die Grundlage für eine
präzise Steuerung der Feinmotorik und des Sprechens geschaffen. Mehrere
Sinnessysteme sind für das Sprechen erforderlich. Das wichtigste für die
Sprachentwicklung und das Sprechen ist unser Hörsinn, der durch den Sehsinn wie
auch den kinästhetisch-taktilen Sinn (Bewegungs- und Berührungssinn) unterstützt
wird. Die Eindrücke der Sinne müssen miteinander verknüpft werden (sensorische
Integration). Erst dann sind die schnellen und fein abgestimmten Bewegungen beim
Sprechen möglich.
Die neun Monate der
Schwangerschaft sollen das ungeborene Kind auf die neue Lebensphase vorbereiten.
Aus der Samen- und der Eizelle differenziert sich schon sehr bald spezielles
Gewebe, so dass ab dem 22. Tag nach der Befruchtung die Herzmuskelzellen ihre
Arbeit aufnehmen. Gleichzeitig können Nervenzellen gefunden werden, die sehr
rasch in ihrer Anzahl zunehmen und sich bemühen, Kontakt zueinander
herzustellen. Es werden Verbindungen geknüpft, gelöst und neue gesucht. Wenn
über diese Nervenfasern nun erste Informationen ausgetauscht werden, verstärken
sich diese Verbindungen und das erste Lernen hat erfolgreich begonnen.
Um den 40. Tag nach der
Befruchtung ist das menschliche Wesen schon mit einem großen Kopf, Armen und
Händen und noch kleinen Beinen und Füßen zu erkennen. Das Herz schlägt
rhythmisch und das Nervensystem schickt schon seine Impulse an die Arme und bald
auch an die Beine. Es sind zunächst kleine, ungerichtete Bewegungen zu erkennen,
die dann immer gezielter werden und damit anzeigen, dass das Zusammenspiel
zwischen Motorik und dem taktil-kinästhetischen System funktioniert. Jede
Bewegung und jedes Spüren verstärken die Verknüpfungen im Nervensystem und sind
Anreiz für das rasche weitere Wachstum und werden somit zum "Schrittmacher" für
die Entwicklung. Besonders viele Sinneszellen entwickeln sich an den
Fingerbeeren und im Mundraum am Gaumen. Somit stimuliert das Saugen am Gaumen,
das schon früh in der Schwangerschaft gefunden werden kann, den Mundbereich und
bereitet das Saugen für die Ernährung und die Empfindung, die für die
Artikulation beim Sprechen erforderlich ist, vor.
Um die 12. Schwangerschaftswoche
folgt der Gleichgewichtssinn. Im Innenohr nimmt das Gleichgewichtsorgan seine
Funktion auf. Jetzt beginnt das ungeborene Kind neben den Berührungsreizen auch
die Lage im Raum wahrzunehmen und auf Beschleunigungsreize zu reagieren. Im
Innenohr entwickelt sich neben dem Gleichgewichtsorgan zusammen das Hörorgan mit
den Sinneszellen in der Hörschnecke. Erste Hörreaktionen sind um die 20.
Schwangerschaftswoche zu sehen. Somit ist etwa in der Mitte der normalen
Schwangerschaftsdauer von 40 Wochen der Hörsinn erwacht.
Die Hörwelt in der Gebärmutter
ist überhaupt nicht ruhig. Dauernd sind der Herzschlag und das Geräusch der
Bauchschlagader zu hören. Das Kind lernt dadurch Rhythmus zu hören und erkennen
sowie eine gewisse Zeitlichkeit: einem Herzschlag folgt ein nächster. Außerdem
grummeln und gluckern der Magen und der Darm mit ganz unterschiedlichen Tönen.
Fauchende und strömende Geräusche sind durch die Atmung zu hören, die mit einem
wesentlich langsameren Rhythmus erfolgen. Dies ist die ganz spezielle "Musik"
des Ungeborenen.
Die Bauchdecke und das
Fruchtwasser in der Gebärmutter dämpfen Außengeräusche. Die Stimme der Mutter
wird durch die Weiterleitung im Körper wesentlich besser übertragen als die
Stimmen anderer Menschen. Das Kind prägt sich die spezielle Sprachmelodie und
die Dynamik (Prosodie) der mütterlichen Stimme ein und erkennt sie nach der
Geburt wieder. Die tiefe Männerstimme kann besser gehört werden als eine fremde
höhere Frauenstimme. Es beginnt die Zeit der Kommunikation. Laute Geräusche
erschrecken das Kind, hohe laute Geräusche stressen es und führen zu
Abwehrbewegungen, die die Mutter spürt. Andererseits lernt das Kind auch die
Emotionen der Mutter mit der Stimme zu koppeln, eine wichtige Voraussetzung für
das spätere Überleben. Ist die Mutter ärgerlich, wird Adrenalin ausgeschüttet,
der Herzschlag bei Mutter und Kind beschleunigt, die Muskulatur angespannt und
das Kind hört eine lautere und energische Stimme.
Es wird immer wieder über
Beispiele berichtet, in denen Kinder und Erwachsene Musik wiedererkennen, die
sie pränatal gehört haben. Somit können Kinder über vertraute Musik nach der
Geburt beruhigt werden. Dies gilt auch für Verse und Gedichte, aber auch für die
"Muttersprache". Mütter, die in Russland aufgewachsen waren und Russisch
lernten, leben später in Frankreich. Sie beherrschen die Landessprache und das
Kind hört pränatal nur Französisch. Einige Zeit nach der Geburt werden die
Mütter aufgefordert, mit ihren Kindern Russisch zu sprechen, und die Kinder
reagieren darauf.
Musik und Sprache sind komplexe
Systeme. Kinder können aber auch minimale Unterschiede erkennen. So sind sie
schon bald nach der Geburt in der Lage, die Laute "k" und "t" zu unterscheiden.
Für die weitere Entwicklung des
Kindes ist es wichtig, dass es in Sicherheit, unter Befriedigung seiner basalen
Bedürfnisse und in einer positiven emotionalen Stimmung lebt. Es braucht für die
Sprachentwicklung die frühe verbale Kommunikation in einer ruhigen Umgebung, die
durch den Blickkontakt, Berührung und eine breite Empathie gestützt wird. Dann
lernt es, unwichtige Geräusche und Reize "auszublenden" (Habituation) und die
wichtigen Reize herauszufiltern. Es ist ein Entwicklungs- und Lernvorgang, der
leicht gestört werden kann. Die Nähe beim Stillen mit dem engen Blickkontakt
erfüllt wichtige Voraussetzungen. Ungünstig ist es, wenn die Ernährung unter
Stress, in einer lauten Umgebung (zum Beispiel mit Radio oder Fernseher im
Hintergrund) und ohne Blickkontakt erfolgt. Dadurch fehlen
vertrauensbildende Erfahrungen, die später Ursache für eine Kommunikationsstörung
sein können. Mütter und Kinder sind in einem frühen und engen Dialog, der zum
Beispiel durch die "Ammensprache" der Mutter automatisch unterstützt wird. Die
Sprechstimmlage der Mutter erhöht sich, die Melodie der Stimme wird verstärkt
und die sprachlichen Äußerungen sind kurz. Das Sprechtempo ist niedrig, die
Satzstruktur einfach mit Verkürzung auf die entscheidenden Worte. Die Worte und
Sätze werden oft wiederholt und an die Reaktionen des Kindes angepasst. Dadurch
merkt das Kind, dass es durch Reaktionen und Laute etwas bewirkt, und dies ist
ein zusätzlicher Anreiz für das Kind, es weiter zu probieren. Wenn das Kind dann
gezielt "Mama" sagt, hat es zuvor schon riesige Schritte in seiner
Sprachentwicklung gemacht.
Sprache hören und verstehen ist
ein sehr komplexer Vorgang. Das, was wir hören, ist viel mehr als eine
"Aneinanderreihung von Lauten". Die Laute gehen ineinander über und sind nicht
scharf getrennt, wie wir sie später beim Schreiben als Buchstaben nutzen. Unser
Hörsystem vom Innenohr bis zur Bewusstwerdung im Großhirn vollbringt eine schier
unglaubliche Leistung. Die Laute sind nur wenige Millisekunden in der fließenden
Sprache zu hören und es gibt Übergänge zwischen den Lauten, und deren
Unterschiede sind häufig minimal. Dafür bedarf es eines intakten Ohres und einer
guten Weiterleitung durch den Hörnerv und die Hörbahn im Gehirn. Schon auf sehr
niedrigen Ebenen der Hörbahn greift ein Filtersystem ein. Wir haben Nerven, die
am Anfang eines akustischen Reizes aktiv sind, andere sind es am Ende und wieder
andere während des gesamten Reizes. Einige reagieren auf Lautstärke- und andere
auf minimale Tonhöhenänderungen.
Welche Leistungen unser Hörsystem
vollbringt, soll am Beispiel der Lautunterscheidung gezeigt werden: Formanten
sind energiereiche Teilbereiche des Stimmsignals. Die Lage des ersten und
zweiten Formanten ist für die Vokale entscheidend. Der Unterschied
beispielsweise zwischen "i"und "ki" entsteht durch einen ansteigenden ersten
Formanten. Bei "si" kommt vor dem "i" ein hochfrequenter Geräuschblock, getrennt
durch eine sehr kurze Pause. Wird die Pause etwas länger, hören wir "ski".
  
(aus: Manfred Spreng.
Physiologische Grundlagen der
kindlichen Hörentwicklung und Hörerziehung,
Vortrag am
12.11.2004 an der Hochschule der Medien, Stuttgart)
Damit solche minimalen
Unterschiede wahrgenommen werden können, ist es entscheidend, dass das
Hörvermögen optimal ist und dass die Hör- und Sprachentwicklung in einer ruhigen
Umgebung erfolgt, denn sonst überdeckt das Störgeräusch die minimalen
Unterschiede. Dies kann dann zu Problemen in der Sprachentwicklung und später
beim Rechtschreiberwerb führen.
Somit ist Sprache eine sehr
komplexe Leistung und unser wichtigstes Kommunikationsmittel mit einer
genetischen Grundlage ("sprachliche Begabung"). Sprachentwicklung ist in den
gesamten Entwicklungsprozess eingebunden und bedarf einer intakten Wahrnehmung,
Motorik und einer altersgemäßen Kognition sowie günstigen sozio-emotionalen
Bedingungen. Sprache wird durch die verbale Kommunikation gelernt
–
ein Kind muss seiner Entwicklung entsprechend angesprochen und gefördert werden.
In der kindlichen Entwicklung
sind aber Phasen mit einem eingeschränkten Hörvermögen normal. Diese treten im
Rahmen von Infekten mit Schnupfen auf und führen zu einer Flüssigkeitsansammlung
im Mittelohr, dem so genannten Paukenerguss. Ein gedämpftes Hören ist die Folge.
Meist bessert sich das Hören nach Abklingen der Erkältung und die sprachliche
Entwicklung verläuft normal. Dauert die Hörstörung aber länger an, dann
verlangsamt sich die Sprachentwicklung oder kann rückläufig sein. Die
Ursache muss geklärt werden. Häufig wird eine vergrößerte Rachenmandel (im
Volksmund meist als "Polypen" bezeichnet) gefunden. Diese bewirkt, dass die
Nasenatmung behindert ist, die Kinder vermehrt durch den Mund atmen, nachts
schnarchen und zu Infektionen neigen. Wenn Inhalieren, viel trinken und
abschwellende Nasentropfen keine Besserung erreichen, hilft die operative
Entfernung der Rachenmandel. Dies wird meist mit einem Schnitt in das
Trommelfell und Absaugen des Mittelohrergusses und häufig der Einlage eines
Paukenröhrchens zur Belüftung kombiniert. In der Regel kann damit das Problem
gelöst werden. Diese Art der Hörminderung wird als
"Schallleitungsschwerhörigkeit" bezeichnet, da der Schalltransport zum Innenohr
gestört ist. Man hört leiser, ähnlich wie wenn man sich die Ohren fest zuhält.
Bei einer Innenohrschwerhörigkeit
sind die Sinneszellen in der Hörschnecke (Cochlea) defekt. Diese wandeln die
mechanische Energie des Schalls in Nervenimpulse für den Hörnerv. Bei einer
Schädigung sind häufig die Sinneszellen für die hohen Töne besonders betroffen.
Somit hört man bestimmte Frequenzen leiser. Aber nicht nur die Quantität des
Hörens wird eingeschränkt, sondern auch die Qualität. Höreindrücke, die leiser
als die Hörfähigkeit des geschädigten Ohres sind, werden nicht gehört, aber
laute Geräusche können schon als zu laut empfunden werden. Der Dynamikbereich
des Hörens ist eingeschränkt. Das Gehörte klingt außerdem verzerrt und geringe
Tonhöhenunterschiede, wie sie für die Lautunterscheidung wichtig sind, können
nicht mehr differenziert werden. Dies erklärt, warum eine Schwerhörigkeit des
Innenohres im Vergleich zu einer entsprechenden Schallleitungsstörung wesentlich
schwerwiegendere Folgen für das Verstehen hat. Zur Hörverbesserung ist eine
Hörgeräteversorgung erforderlich. Hörgeräte können die Lautstärke erhöhen und
diese an die vorhandene Hördynamik des Ohres anpassen. Die neuen
Hörgerätegenerationen sind auch in der Lage, den Störschall weniger zu
verstärken als das Sprachsignal. Damit wird das Sprachverstehen erleichtert. Die
Verzerrungen und das Frequenzunterscheidungsvermögen aufgrund der
Sinneszellschädigungen können aber (noch) nicht entscheidend beeinflusst werden.
Der wechselnde und schlechte
Empfang einer Kurzwellensendung kann einen groben Eindruck
der Innenohrschwerhörigkeit geben. Der Erfolg einer Hörgeräteversorgung hängt
von verschiedenen Faktoren ab: dem Ausmaß der Schwerhörigkeit, dem Beginn der
Hörstörung (angeboren, nach der Geburt oder nach dem Spracherwerb), der
effektiven Versorgung mit Hörgeräten, der "Hörerziehung" und ganz entscheidend
von der Hörverarbeitung (was das Gehirn mit den Informationen der Ohren macht).
Je mehr Lücken und Verzerrungen im Hörsignal sind, umso höher müssen die
Leistungen des Gehirns sein, das Sprachsignal daraus zu extrahieren. Das Hören
strengt an, besonders in akustisch schwierigen Situationen mit Störschall. Dies
führt dazu, dass sich schwerhörige Menschen häufig aus Kommunikationen in
Gruppen und großen Räumen zurückziehen, da sie nicht mehr ausreichend
verstehen. Kindern kann das Verstehen in der Schule erleichtert werden, wenn der
Lehrer mit einem Funkmikrofon ausgerüstet wird und das Kind einen an die
Hörgeräte gekoppelten Funkempfänger erhält. Somit wird die Stimme des Lehrers
"an das Ohr des Kindes geholt".
Wenn die Schwerhörigkeit so
ausgeprägt ist, dass auch mit einer guten Hörgeräteversorgung Sprache nicht
ausreichend verstanden werden kann, gibt es seit gut zwei Jahrzehnten die
Möglichkeit, die Menschen mit einem so genannten Cochlea-Implantat zu versorgen.
Dafür ist eine Operation erforderlich, bei der eine feine Elektrode in die
Hörschnecke eingeführt wird. Die Elektrode wird durch einen Sprachprozessor
gesteuert und sendet feine elektrische Impulse an die Nervenendigungen im
Innenohr und erregt so den Hörnerv. Dies hat nichts mehr mit unserem normalen
Hören zu tun. Aber es zeigt sich wieder einmal die Leistungsfähigkeit des
Gehirns. Dieses lernt die Nervenreizungen als sinnvolle Signale zu verstehen,
und mit der Zeit können Geräusche und Sprache erkannt werden. Somit können auch
bisher "taube" Menschen wieder hören lernen. Dies gelingt früh versorgten
Kindern wesentlich leichter als Betroffenen, die lange Jahre nichts oder zu
wenig gehört haben.
Deshalb ist es wichtig,
Hörstörungen möglichst früh zu entdecken. Schon in der Geburtsklinik erfolgt um
den dritten Lebenstag ein Neugeborenenhörscreening. Dabei macht man sich eine
besondere Eigenschaft des Ohres zunutze: Unser Ohr nimmt nicht nur akustische
Reize auf, sondern wird durch diese auch dazu angeregt, selbst sehr leise
Geräusche zu produzieren. Die Geräusche können mit einem sehr empfindlichen
Mikrofon im äußeren Gehörgang gemessen werden und sind eine Eigenschaft
bestimmter Sinneszellen in unserem Innenohr, den so genannten äußeren
Haarzellen. Bei einer Innenohrschwerhörigkeit sind fast immer die äußeren
Haarzellen mit betroffen, so dass eine Schwerhörigkeit schon früh erkannt werden
kann. Ziel ist es, im ersten Lebenshalbjahr das Ausmaß der Schwerhörigkeit zu
erkennen und die Kinder mit Hörsystemen zu versorgen. Mit der Begleitung der
Familien und einer frühen pädagogischen Hör-Spracherziehung gelingt es meist,
dass die Kinder eine gute Sprachentwicklung durchlaufen und im Kindergarten und
in der Schule erfolgreich integriert sind.
Hörstörungen nehmen zu. Durch
Lärmeinwirkung werden die feinen Sinneszellen im Ohr geschädigt und unsere
Hörwahrnehmung eingeschränkt. Dies ist meist ein schleichender Prozess und fällt
den Betroffenen häufig nicht oder sehr spät auf. Dann sind sie schon von den
nicht gehörten Frequenzen entwöhnt, und diese müssen erst wieder bei einer
Hörgeräteversorgung neu erfahren werden. Da unsere Wahrnehmung auf neue Reize
reagiert, werden auch Alltagsgeräusche, die früher ausgeblendet waren, wieder
störend gehört. Unser Gehirn muss nun lernen, wichtige von unwichtigen
akustischen Reizen zu unterscheiden. Dies gelingt nur, wenn Hörgeräte konsequent
tagsüber getragen werden. Je älter der Mensch wird, umso schwerer fällt es, zu
lernen. Manchmal scheitert der Erfolg einer Hörgeräteversorgung an dieser
Voraussetzung. Die Konsequenz ist, dass eine Hörgeräteversorgung beim Vorliegen
einer relevanten Hörstörung so früh und so konsequent wie möglich erfolgen soll.
Dazu gehört, dass bei einer beidseitigen Hörstörung beide Ohren mit Hörgeräten
versorgt werden. Somit wird ein Richtungshören möglich und das Verstehen im
Störschall erleichtert.
Es darf aber nicht unerwähnt
bleiben, dass auch gehörlose Menschen ihre Sprache mit Grammatik haben. Sie
nützen eine differenzierte Gebärdensprache, um sich untereinander zu
verständigen. Da dies aber eine eigene Sprache ist, bedarf es Dolmetschern
zwischen der Gemeinschaft der Hörenden und der Gebärdenden.
Die Forschung und Technik haben
es ermöglicht, dass Hörstörungen viel besser versorgt werden können als noch vor
einem Jahrzehnt. Diese Technik hat aber ihren Preis. Deshalb ist zu befürchten,
dass durch die Sparmaßnahmen in unserem Gesundheitssystem und in der Bevölkerung
die Auswirkungen einer Schwerhörigkeit und damit der Verlust an Kommunikation
immer deutlicher werden.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in:
"Universitas",
März 2006, S. 267-286. Web-Adresse:
www.hirzel.de/universitas |