Dass
Gehörlose, früher als "Taubstumme" bezeichnet, nicht "stumm" sind, davon
konnte ich mich schon in sehr jungen Jahren überzeugen. Als Dreijährige
betrat ich vielleicht zum ersten Mal bewusst die Landeslehranstalt für
Hörgeschädigte in Linz, an der meine Mutter als Lehrerin beschäftigt war.
Ein wenig scheu und überrascht stellte ich fest, dass es hier nicht ruhig
oder still war, nein, es war sogar wesentlich lauter als in meinem
Kindergarten. Doch nicht nur an den Geräuschpegel, auch an die
Andersartigkeit der Geräusche
musste man sich gewöhnen. Sie flößten mir anfangs Angst ein und trieben mich
in die sicheren Arme meiner Mutter: tiefe Laute, manchmal unkontrolliert und
für den Außenstehenden nicht verständlich, dann wieder hohe, gellende
Schreie, und alles vermischt mit den Geräuschen von Stiegen steigenden und
herumschlurfenden Hausschlapfen und sich immerfort bewegenden Händen. Denn
auch Hände sind nicht lautlos. Meist wird das Gestikulieren von Lauten
begleitet, die die Gestik unterstreichen oder für einen nicht-tauben Zuhörer
eine Verständniserleichterung bringen sollen.
Meine Schwester und ich
waren in diese Schule gekommen, weil wir mit den gehörlosen Schülern und
Schülerinnen meiner Mutter ins Landestheater gehen durften, in eine
Benefiz-Märchenaufführung, auf die wir uns recht freuten. Wir verschwendeten keinen Gedanken
daran, wie wohl die eigentlichen Nutznießer diese
Veranstaltung erleben würden
– lautlos und ohne die
Furcht einflößende Stimme der Hexe? Würden die Kinder dennoch wissen, dass Hänsel
und Gretel der Hexe nicht trauen dürfen? Natürlich, denn sie sah böse aus, hatte
eine lange Nase mit einer dicken Warze drauf und eine falsche schwarze
Katze auf ihrem Buckel, die ein wenig zu eigenmächtig nach vorne und nach
hinten schwankte. Jedes Mal schrieen die Schüler und Schülerinnen aus Angst,
sie würde herunterfallen.
Von
nun an durften wir jedes Jahr mit in die Theateraufführung und auch zu
anderen außerordentlichen Schulveranstaltungen. Einmal traten sogar
Waterloo und Robinson auf und sangen für die Schüler und Schülerinnen
–
eine eigentümliche Veranstaltung in Anbetracht des Publikums, das ja
vorwiegend aus gehörlosen Kindern und Jugendlichen bestand.
Besonders zu den Schülern
meiner Mutter hatten wir ein engeres Verhältnis, sie kamen uns manchmal
zuhause besuchen. Wenn sie uns in der Stadt sahen, grüßten sie uns und in
den Sommerferien gingen manche sogar mit uns baden. Besonders vertraut waren
sie uns aber nie. Je älter meine Schwester und
ich wurden, umso mehr
begannen wir uns aber mit ihnen zu verständigen.
Wir versuchten langsamer und klarer zu sprechen, damit sie leichter von
unseren Lippen ablesen konnten.
Mit manchen, vor allem mit
den Schwerhörigen oder den erst später Ertaubten, gelang dies leicht. Doch
meine Mutter unterrichtete hauptsächlich völlig gehörlose Kinder und mit ihnen
war das Sprechen und vor allem das Verstehen schwieriger.
Dass es jedoch
überhaupt zu einem Austausch kam, verdankt sich der Tatsache, dass meine
Mutter –
wie auch viele ihrer Kollegen und Kolleginnen
–,
bis heute eine starke Unterstützerin der
Lautspracherziehung ihrer Schüler geblieben ist. Diese Stunden, die meist im
Einzelunterricht und vor einem Spiegel erfolgen, zählen für den Schüler wie
auch für den Pädagogen zu den anstrengendsten und schwierigsten. Buchstaben
und Diphtonge auszusprechen, die man selbst nicht hören kann (und nur an
verschiedenen Orten im Mund, an den Lippen, am Hals oder auf dem Kopf, wie
zum Beispiel das "i", fühlt), muss erlernt werden wie eine neue Sprache,
ohne sich dabei auf eine Ausgangssprache, eine Mutter- oder Vatersprache,
stützen zu können. Jedes Wort, das verständlich artikuliert wird, ist ein
Erfolg, selbst wenn dieses bis zur nächsten Stunde wieder vergessen oder
verloren ist. Oft hören sich die Wörter und Sätze anders an, haben
fehlerhafte Betonungen und sind ohne Sprachmelodie
–
aber man versteht sie.
Als
wir 1986 gemeinsam mit meiner Mutter den amerikanischen Film "Gottes vergessene Kinder" (im Original
"Children of A Lesser God")
anschauten, wurde sie wütend über die verkitschte Lösung eines Problems: Die
gehörlose Protagonistin Sarah verweigert das Sprechen, aber tatsächlich
handelt der Film eben nicht vom Sprechen oder vom Erlernen des
Artikulierens, sondern ausschließlich vom Deuten und der stillen Gestik.
Nicht nur in den meisten US-Schulen wird ausschließlich die Zeichensprache als
Kommunikationsmittel verwendet, auch in Wien sehe ich immer mehr
"stumm" werdende Hörgeschädigte, die keine Geräusche mehr von sich geben und
sich ausschließlich
still mit den Händen verständigen. Dafür können sich
KindergärternInnen und LehramtsstudentInnen mit der Absolvierung eines
Zeichensprachenkurses profilieren.
Neben der Schwierigkeit,
das Sprechen zu erlernen und der harten Arbeit von Seiten der Lehrenden und
des Lerners, die wohl der Hauptgrund für die schwindende Zahl an sprechenden
Gehörlosen ist, könnte auch die stetige Perfektionierung unserer Produktwelt
Schuld an der Misere tragen. Wenn in einer Handywerbung das Flöte spielende Mädchen
gegenüber der Handymusik dudelnden Zwillingsschwester den Kürzeren zieht
und ausgelacht wird, dann kann man verstehen, dass gehörlose Menschen ihre
strapaziösen Sprach- und Artikulierversuche verstummen lassen und lieber auf
die altbewährte Zeichensprache oder auf die ihnen bereits vertraute SMS- und E-Mail-Kultur zurückgreifen. Das Ausmaß dieses Verlusts
liegt auf der Hand: Mit dem Nicht-Sprechen-Können und teilweise auch
Nicht-mehr-von-den-Lippen-ablesen-Können wird der Taube wieder zu einem
"Taubstummen", der nur in seiner Welt unter Menschen mit derselben
Behinderung leben kann.
Dass
sich die meisten Schüler und Schülerinnen meiner Mutter gegenüber
lautsprachlich verständigen konnten, öffnete ihnen Tore zu Berufen auch in
nicht geschützten Umfeldern. Sie machten Ausbildungen und fanden
Anstellungen, in denen sie sich profilieren konnten
–
nicht zuletzt aufgrund ihrer Fähigkeit zu sprechen, zu kommunizieren, wenn
auch nicht fehler- und problemfrei. Die Zeichensprache wird sicherlich ihr
erstes Verständigungsmittel bleiben. Dennoch ist der Schritt in
die Mehrsprachigkeit entscheidend, die heutzutage auch in anderen Bereichen zu
den grundlegenden
Erfolgskriterien zählt. |