Das Caffè San Marco war
leer, die besten Plätze reserviert. Augenblicklich fühlte ich mich zu Hause
wie in Wien. Dieser feine Möglichkeitssinn gewährt kommenden Gestalten
dieselbe wirkmächtige Präsenz vergangener Persönlichkeiten, deren
erinnerungsschwere Spuren die Notwendigkeit von Geschichte immer aufs Neue
beweisen müssen. Wer hier gesessen hatte, ließ gewissermaßen seinen Stuhl
frei, den er damit auf ewig besetzt hält. Hände und Füße unzähliger
Kaffeehausbesucher schrieben sich ein in abgewetzte Armlehnen und
abgetretene Parkettbodenbretter, Körperausdünstungen vieler Verliebter und
nicht weniger Verlassener vergilbten die Wände zu brüchigem Pergament und
die Jugendstildekoration dunkelbrauner Kaffeeblätter bedeckte herbstlich das
Andenken an die vergoldeten Lorbeerlaube der Secession.
Die dezent geschminkte
Kellnerin trug nordisches Blond und servierte einen italienischen Schwarzen
der Triester Hausmarke Hausbrandt auf einem Silbertablett mit einem
Glas Wasser und dem obligaten Löffelchen. Dazu gab es warmen Apfelstrudel.
Der Ober, der wie der Besitzer aussah, oder auch der Besitzer, der sich wie
ein Ober bewegte, immerfort den Marmortischchen mit gusseisernem Standfuß
ausweichend, stand beim dritten Bissen bereits zum vierten Mal an der
kleinen Zeitungstheke, ordnete die halterlosen Blätter ein wenig und
betrachtete sich dann aufmerksam in einem Wandspiegel. Jedenfalls schien es
mir aus meiner Perspektive so, denn er wird wohl nicht zum wiederholten Male
ein etwaiges dort aufgehängtes Bild angestarrt oder die möglicherweise an
dieser Stelle angebrachte Karte memoriert haben. Sonst tat sich nichts.
Die Masken auf den Simsen
ganz oben guckten verschlafen, die Aktbilder in den Medaillons hatten
sicherlich schon aufregendere Tage gesehen. Am 3. Jänner 1914 war das Caffè
San Marco eröffnet worden, angeblich von Marco Lovrinovich aus Fontane
d’Orsera bei Parnezo nach seinem Vornamen getauft, wie Claudio Magris
schreibt. Doch schon die venezianischen Löwen im Mobiliar verwiesen auf die
irredentistische Bewegung, weshalb auch das Café am 23. Mai 1915 von den
Österreichern verwüstet worden ist und sich seither wie das 1830 gegründete
Caffè Tommaseo unten am Meer als Irredentisten-Kaffeehaus rühmt, von welchem
allerdings – wie dort ein 1918 angebrachtes Epigraph festhält – als
"Mittelpunkt der nationalen Bewegung 1848 die Flamme
der Begeisterung für die Freiheit Italiens ihren Ausgang nahm".
So schloss ich die Augen
und tauchte ab in die Erzählungen von Triest als Handelsstadt und Hafen der
Habsburgermonarchie, vor allem aber als Ort der Literatur von James Joyce
und Italo Svevo, von Umberto Saba und Fulvio Tomizza, die Triests
Kaffeehäuser bevölkerten wie Kafka, Karl Kraus, Musil und Joseph Roth in
Prag und Wien. Alles, was über deren Beziehung zum Kaffeehaus gesagt worden
ist, trifft wortwörtlich auch auf die Triester Literaten zu. Der 1999
verstorbene Fulvio Tomizza huldigte diesem spezifisch mitteleuropäischen
Milieu: "Das Caffè San Marco ist für mich eine Art
verlängertes Wohnzimmer, das sich der Öffentlichkeit erschließt, wo ich mich
jedoch allzeit mit mir selbst in meinen vertrauten Winkel zurückziehen
kann." |