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Tödlicher Lufthauch
...

Dem Miasma auf der Spur

Im ausgehenden 18. Jahrhundert versetzt ein "fauliges Molekül" die Menschen in
Angst und Schrecken: Giftige, vom Boden aufsteigende Dämpfe schwängern die Luft und
bedrohen Leben und Gesundheit der Stadtbewohner. Auch wenn die Nase zu dieser Zeit als
"
Stempel der Animalität" gebrandmarkt wird und zum niederen Sinn der Lust, der Begierde
und des Triebhaften verkommt: Im Kampf gegen das Miasma erhält der Geruchssinn
besondere Bedeutung.
Geschätzt als Wachposten im Erkennen schlechter Gerüche
gerät die Nase
zum vorzüglichen Analyseinstrument, das vor krank machenden
Ausdünstungen und giftigen Substanzen warnt. Mit Hilfe der Nase
lässt sich die Umwelt chemisch erforschen.

Von Franz Wagner
(01. 09. 2007)

...



Franz Wagner, Aurora-Redaktion

Franz Wagner

ist Redakteur des
Aurora-Magazins.
 

 
 

 

 
(c) Jeffery Scott

Armensiedlung
in der Maquiladora
(Mexiko)

 




Urheber für die meisten
Krankheiten, die vermehrt
gerade dort auftreten, wo
Menschen inmitten von
Fäkalien, verendeten Tieren
oder verdrecktem Wasser
leben, sind Bakterien,
Viren oder Pilze.


 




Alain Corbin.
Pesthauch und Blüten-
duft. Eine Geschichte
des Geruchs.
Wagenbach, 2005, 374 S.
ISBN: 3803136180



 


"Dem Arzt schlugen
die fauligen Ausdünstungen,
die gleich bei der Öffnung
des Leichnams entwichen,
so heftig entgegen, daß er
ohnmächtig umfiel, nach
Hause gebracht werden
musste und siebzig
Stunden später starb."

 







Eugène Chevreul
(1786-1889)



 


Reisende erzählen
Schauergeschichten von
Menschen, die vom Wege
abkamen "und in den Sicker-
gruben von Montfaucon
verschwunden sind".



 





Erdbeben von Lissabon
(1. November 1755), zeit-
genössische Darstellung.
 





Als "Stempel der Anima-
lität" gebrandmarkt, zeigt
sich die Nase als Antipode
des Verstands; sie wird
stigmatisiert und entwertet
zum niederen Sinn der
Lust, der Begierde und
des Triebhaften.

 





Edwin T. Morris.
Düfte. Die Kultur-
geschichte des Parfums.
Patmos, 2006, 336 S.
ISBN: 3491961645

 




Zwischen 1750 und dem
ausgehenden 19. Jahr-
hundert wird versucht,
geruchliche Pendants zu
den Urfarben rot, grün und
blau zu finden, aus deren
Zusammensetzung sich
alle weiteren Duftmisch-
ungen herleiten lassen
sollen, z.B.: "fruchtig",
"stechend", "brenzlig",
"faul", "duftig", "ranzig",
"sauer".

 


 

Johann Peter Frank
(1745-1821)


 


In den Augen des neu
erstarkten Bürgertums wird
die Reinhaltung des Kör-
pers (bzw. der Stadt) zum
sichtbaren Ausdruck des
kulturellen und ökono-
mischen Fortschritts.

 


 

Linktipp

Die Geschichte des
Wiener Kanalsystems

 



 



Wiener "Watercloset"
der britischen Firma
"Armitage Shanks"
(Ende des 19. Jh.)


 



1865 wird in München
der erste Lehrstuhl für
Hygiene errichtet, zehn
Jahre später zieht die
Wiener Universität gleich.

 

 



Max von Pettenkofer
(1818-1901)

 




Katholisch-konservative
Initiativgruppen wie der
Verein "Arbeiterwohl"
sehen sich veranlasst, das
städtische Proletariat "zu
moralischen, reinlichen
und fleißigen Bürgern
zu erziehen".

 



 


Robert Koch
(1843-1910)

 


 

Kochs Entdeckung führt
innerhalb weniger Jahre
zu einem völlig gewandel-
ten Verständnis von Krank-
heit und bildet den Aus-
gangspunkt für wirksame
Gegenmaßnahmen, etwa
einem ersten, von Louis
Pasteur 1881 entwickelten
Impfstoff gegen den
Milzbrand.

 



 

Bacillus Anthracis
(Milzbrand-Bakterium,
Länge: 0,001 mm)

 

   Der Gestank muss unbeschreiblich sein. Und das auf einer Länge von vielen hundert Kilometern. Im Norden Mexikos, nahe an der Grenze zu den USA, führen die Flüsse kein Leben mehr. In den Jahrzehnten seit 1965, in denen immer mehr Menschen in diese Region gezogen sind, um Arbeit zu finden, sind die meisten Wasserläufe zu dünnen Rinnsalen geschrumpft, endlosen Kloaken, die so verschmutzt sind, dass allein das Waten darin lebensgefährlich sein kann. Deren Ufer sind übersät mit Kadavern von Tieren, die vom Wasser krank wurden und verendet sind. Abseits der Flüsse verrotten Berge von Müll, vermischt mit giftigen Industrieabfällen. Zwischen tierischen und menschlichen Exkrementen finden sich Einwegspritzen, angebrochene Glasflaschen, Plastiktüten, Kondome – und dazwischen: spielende Kinder. Eine Million Menschen lebt und arbeitet hier, in der so genannten Maquiladora, einer Region, die nach den Maquilas, großen Montagefabriken, benannt ist, die sich hier angesiedelt haben.

Zu all dem Schmutz gesellt sich die überall präsente Armut und die eintönigen und nicht selten gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen an den Fließbändern von Weltkonzernen wie Philips, Ford oder Toshiba. Eine besondere Herausforderung wartet auf all jene, die genug haben von 12-Stunden-Arbeitstagen und einem Lohn, der kaum zum Leben reicht: Ausgehend von ihrem Traum eines besseren Lebens in den wenige Kilometer entfernten USA wagen viele den illegalen Grenzübertritt – und setzen oft genug ihr Leben, zumindest aber ihre Gesundheit aufs Spiel:

"Sechsspurige Schnellstraßen trennen Städte wie Tijuana und Juárez von den verwahrlosten Zonen des Elends, wo sich die Flüchtlinge in der Abenddämmerung sammeln. Über eine steile Betonrampe geht es hinab in eine träge dahinziehende Brühe aus chemisch verseuchtem Schlamm und ungeklärten Abwässern, die ihnen bis zu den Knien reicht. Auf der anderen Seite erwartet sie eine senkrecht aufragende Betonwand, zusätzlich gesichert mit einem hohen, elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun und einer Flutlichtanlage. Selbst der Ärmste der illegalen Immigranten gibt das Wenige her, das er besitzt, wenn er dafür seine Beine mit Plastiktüten vor dem verseuchten Wasser schützen kann." (1)

   Die Favelas von Tijuana und Juárez, in denen Menschen mit Massen an Dreck und Unrat zurande kommen müssen, sind zwei Negativbeispiele unter vielen: Immer dort, wo Armut auf wirtschaftliche Ausbeutung trifft, sind hygienische Mindeststandards Mangelware. Dass in all diesen Fällen freilich nicht der üble Geruch schuld an Durchfall, Hautausschlägen, Asthma oder Schlimmerem ist, mutet selbstverständlich an. Urheber für die meisten Krankheiten, die vermehrt gerade dort auftreten, wo Menschen inmitten von Fäkalien, verendeten Tieren oder verdrecktem Wasser leben, sind Bakterien, Viren oder Pilze. Was auch sonst? – ist man geneigt zu fragen. Oder anders: Kann es etwas geben, dass gefährlicher ist als Salmonella, Staphylococcus, Escherichia coli & Co?

Erste Hinweise auf eine Antwort liefert ein Schauplatz der Vergangenheit – Paris anno 1846: Eugène Chevreul, seit 1830 Professor für Organische Chemie am Nationalmuseum für Kunstgeschichte, schlendert an einem trüben Novembertag durch Frankreichs Metropole, sein Blick gleitet aufmerksam über die gepflasterten Plätze und Straßen der Stadt, die an manchen Stellen dunkler als üblich erscheinen. An der Rue Mouffetard wird Chevreul das erste Mal fündig. Er bückt sich, holt ein Messer und eine Ampulle aus der Tasche und kratzt etwas von "jener schwarzen, eisenhaltigen Materie, die sich unter dem Pflaster befindet" ab. Anschließend wandert die Probe in das Fläschchen, das er gewissenhaft verkorkt. Dutzende weiterer Ampullen mit Schlämmen aus anderen Stadtteilen komplettieren die Untersuchung. Nach sechs Jahren, am 20. Dezember 1852, öffnet Chevreul die in seinem Labor gesammelten Proben und schreitet zum Geruchstest: Die Nase des Chemikers ortet "komplexe Dämpfe des Bodens" sowie eine offenbar beunruhigende Fähigkeit des Straßenmörtels, "Fäulnis aus der Luft aufzusaugen" und für lange Zeit zu speichern. Der Professor warnt: Wer sich zu lange den fauligen Elementen der Vergangenheit aussetze, werde krank. Dasselbe gelte nicht minder für gerade erst fertiggestellte Wohnungen: "Die aus frischen Wänden ausströmenden Gase führen zu Neuralgien oder zu heftigen Glieder- und Muskelschmerzen."

   Was Chevreul zu seinen wissenschaftlichen Studien treibt, ist eine tief sitzende Angst, die seit über hundert Jahren in weiten Teilen der Bevölkerung grassiert: eine Furcht vor der – im wörtlichen Sinne – verpesteten, Krankheit und Tod bringenden Luft. In seiner Kulturgeschichte des Geruchs berichtet Alain Corbin von einem "panikartigen Schrecken", der jedesmal die Menschen im 18. und noch weit bis ins 19. Jahrhundert erfasst, wann immer das Miasma, das "faulige Molekül", über die Menschen kommt. Diese Furcht zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten, nicht einmal die Wissenschaft ist davor gefeit. Als im Paris des Jahres 1838 eine Gruppe von Ärzten zur Öffnung eines bereits halb verwesten Leichnams schreitet, spielen sich am Rande der Obduktion erschreckende Szenen ab:

"Dem ersten [Arzt] schlugen die fauligen Ausdünstungen, die gleich bei der Öffnung entwichen, so heftig entgegen, daß er ohnmächtig umfiel, nach Hause gebracht werden musste und siebzig Stunden später starb. Der zweite – der berühmte Fourcray – wurde von einem denkbar blühenden und umfassenden Hautausschlag befallen. Die beiden anderen, Laguerenne und Dufresnoy, trugen ein langwieriges Siechtum davon, von dem der letzte sich niemals erholen sollte." (2)

Speziell im ausgehenden 18. Jahrhundert nimmt die Angst wahnhafte bis hysterische Züge an, beinahe jeder ist davon befallen. Alles, was durch seinen üblen Geruch von Fäulnis zeugt, ist verdächtig. Jedesmal, wenn in Paris die Senkgruben entleert werden, so berichtet etwa ein Zeitgenosse, "werden die Blumen welk, die jungen Mädchen verlieren ihre frische Farbe." Das Miasma scheint überall zu sein, dringt aus jeder Ritze, lässt niemanden unverschont. Als 1755 in Lissabon ein Erdbeben ausbricht, werden in weiten Teilen der Bevölkerung giftige Dämpfe, die bei den Erdstößen aus den Spalten des Bodens entwichen sein sollen, für die darauf folgenden Fieber und Todesfälle verantwortlich gemacht. Stehende Pfützen, verrottendes Fleisch, üble Gerüche von Fabriken, Seifensiedereien, Gerbereien, ja selbst die rußigen Dämpfe der Schmieden, erregen zunehmend Missfallen, ja Angst. "Der Abendtau ist schädlich", heißt es, weil er alle möglichen Abfallstoffe enthält, die salzigen Dämpfe des Meeres geben "Anlass zur Sorge". Immer wieder wird die Stadt als ein "einziger Sumpf aus Abwässern und Jauche" bezeichnet, und Reisende erzählen Schauergeschichten von Menschen, die vom Wege abkamen "und in den Sickergruben von Montfaucon verschwunden sind". Berichtet wird überdies von einer neuen Gewohnheit, auf den Grund der Abzugsgräben (also: der Plumpsklos) zu schauen, als morbides Faszinosum gewissermaßen. Auch die Medien nehmen sich des Themas an: In den Theatern kommt zum ersten Mal die Figur des Kloakenfegers auf die Bühne.

   Eifrig übt sich die Wissenschaft in Erklärungsversuchen. Jahrzehnte vor Chevreuls Riechexperimenten machen sich dessen Kollegen auf die Suche nach Analysemethoden und Theorien, um dem Miasma endlich seine Geheimnisse zu entreißen: Was sind und wie entstehen üble Gerüche, warum machen sie krank, was lässt sich dagegen ausrichten? Nach einigem Hin und Her kristallisiert sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts folgende Lehrmeinung heraus:

"Wenn der dauernde Kampf im Innern der Lebenwesen zugunsten der Fäulnis verläuft, wenn der Organismus durch einen unglücklichen Zufall faulige Miasmen aufnimmt, Dünste von kranken oder in Verwesung begriffenen Körpern, die das Gleichgewicht der Kräfte in den Eingeweiden zerstören, wenn der Fluß des balsamischen Geistes, der im Blute wohnt, durch eine Zerstörung der Gefäße, eine Verdickung der Säfte oder eine Verletzung ins Stocken gerät, kann dies den Triumph des Brandes, der Blattern, des Skorbut, des Pest- oder Faulfiebers bedeuten." (3)

Die Theorie vom Säftegleichgewicht des Körpers, das um jeden Preis erhalten werde müsse, verlange zweierlei Maßnahmen, die im Kampf gegen das Miasma Erfolg versprechen sollen: Säuberung und Reinhaltung der Luft, des Bodens und der Menschen von allem, was üble Gerüche verursacht. Zweitens: Verabreichung von Gegenmitteln wie ätherischen Ölen oder allgemein Beduftung resp. Begrünung von Räumen und Städten; Verwendung von viel fließendem Wasser (im Gegensatz zu stehendem, das dazu neigt, sich mit gefährlichen Dämpfen vollzusaugen).

   Im Bemühen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, der schlechten Luft Herr zu werden, tritt schließlich eine paradoxe Situation zutage: Während die Vernunft im Zuge der Aufklärung zur menschlichen Eigenschaft par excellence aufgewertet wird, sinkt das Ansehen des Geruchssinns rapide. Als "Stempel der Animalität" gebrandmarkt, zeigt sich die Nase als Antipode des Verstands; sie wird stigmatisiert und entwertet zum niederen Sinn der Lust, der Begierde und des Triebhaften. Dennoch genießt die Nase Respekt: Geschätzt als zuverlässiger Wachposten im Kampf gegen das Miasma wird der Geruchssinn zum vorzüglichen Analyseinstrument, das vor krank machenden Ausdünstungen und giftigen Substanzen warnt. Mit Hilfe der Nase lässt sich die Umwelt chemisch erforschen. Dies drückt sich etwa aus in der hartnäckigen Suche nach den Fundamentalgerüchen, also der Absicht, Gerüche mittels Sprache zu klassifizieren. Zwischen 1750 und dem ausgehenden 19. Jahrhundert werden unzählige Anläufe unternommen, geruchliche Pendants etwa zu den Urfarben rot, grün und blau zu finden, aus deren Zusammensetzung sich alle weiteren Duftmischungen herleiten lassen sollen. Zwischen vier und vierzehn Gerüche werden identifiziert, wobei "fruchtig", "stechend", "brenzlig", "faul", "duftig", "ranzig", "sauer" zu den am häufigsten wiederkehrenden Nennungen zählen.

Was den Gestank betrifft, kommt in vielen europäischen Großstädten – bedingt auch durch die rasante Bevölkerungszunahme – das drängende Gefühl auf, dass eine Grenze des Erträglichen erreicht sei. Überall werden Stimmen laut, dass die Städte zu fauligen Kloaken, zu einem Hort des Übels und des Verfalls geworden seien. Die Stadt wird gemeinhin als Körper betrachtet, der krank sei, und schlechte Gerüche seien, wie beim Menschen, ein Symptom dieser Krankheit. Ebenso wie brandig gewordene Körperteile einen ganzen Menschen infizieren können, vermögen auch jene Stadtteile, die Gestank verbreiten, eine ganze Metropole zum Absterben zu bringen.

   Aus eben diesem Geist entstehen rund um das Jahr 1800 die ersten "medizinischen Topographien" der Stadt. Auch in Wien stehen die Ärzte mit ihrer Forderung nach mehr Sauberkeit an vorderster Front. Johann Peter Frank, Direktor des Allgemeinen Krankenhauses, bringt 1791 sein "System einer vollständigen medizinischen Polizey" heraus und warnt darin unter anderem vor engen Raumverhältnissen oder großen Menschenansammlungen, die die Ausbreitung von Krankheiten begünstigen und fordert die Anlage sauberer Brunnen und Wohnungen. Kurze Zeit später lässt Kaiser Joseph II. den Prater und den Augarten als Erholungsgebiete für die Bevölkerung öffnen und setzt Zuchthäusler als Straßenkehrer ein. Noch weiter gehen die Absichten des Leipziger Arztes Ernst Hebenstreit. Um die "verderbte Luft" aus den Städten ein für allemal zu verbannen, besteht er auf einer radikalen Abkehr von bisherigen städtischen Gestaltungsprinzipien. An folgende Verbesserungsmaßnahmen ist gedacht:

"Geradlinige und breite Gassen, große freie Plätze, zahlreiche geräumige Stadttore, ein dichtes und festes Straßenpflaster, Rinnen zum Abfluss der Feuchtigkeit, unterirdische gemauerte Kloaken, Kehrung und Besprengung der Straßen mit Wasser, Verlegung der Fabriken und Friedhöfe aus der Stadt, Anlage öffentlicher Toiletten." (4)

Im Verständnis großer Teile der Bevölkerung bricht sich ein verändertes Gesundheitsbewusstsein Bahn: Dort, wo Gärungs- und Fäulnisprozesse immer öfter in die Nähe des Teuflischen und moralisch Verderbten gerückt werden, erhält die Sauberkeit allgemein moralischen Charakter. Vor allem in den Augen des neu erstarkten Bürgertums wird die Reinhaltung des Körpers (bzw. der Stadt) zum sichtbaren Ausdruck des kulturellen und ökonomischen Fortschritts.

   Aufgeschreckt durch immer zahlreichere Beschwerden über die penetrante Geruchsbelästigung der Städte sieht sich letztlich auch die weltliche Autorität veranlasst festzustellen, "daß nur eine gesunde Bevölkerung dem Staate erwünschlich ist", und setzt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die oben geforderten hygienischen Standards sukzessive in die Tat um. Neben der Einrichtung von "Stadtphysikaten", den Vorläufern der Gesundheitsbehörden, sind es vor allem bauliche Maßnahmen, die nachhaltig Wirkung zeigen. Eindrucksvolles Beispiel ist das Wiener Kanalsystem, das bei der Seuchenbekämpfung unschätzbare Dienste leistet: Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist die Innenstadt vollständig mit Abwasserleitungen durchzogen, und wo im Jahr 1873 noch mehrere tausend Senkgruben die Luft verpesten, sind es um 1900 nur noch wenige hundert. Auch die Regulierung und Einwölbung der noch offenen Wasserläufe (Ottakringerbach: 1840; Alserbach: 1843; Währingerbach: 1848) schreitet zügig voran. 1883 wird für alle Wiener Neubauten der Einbau eines "Waterclosets" zwingend vorgeschrieben, und 1910 sind 2.600 Arbeiter allein mit der Säuberung, dem Kehren und Bewässern der Wiener Straßen beschäftigt.

Auch in der Wissenschaft schlägt das neue Gesundheitsbewusstsein durch: 1865 wird in München der erste Lehrstuhl für Hygiene errichtet, zehn Jahre später zieht die Wiener Universität gleich. Träger des Münchener Lehrstuhls ist Max von Pettenkofer, ein Schüler des hoch angesehenen Chemikers Justus von Liebig. Pettenkofers Hauptinteresse gilt der Erforschung der Cholera. Nach seiner Einschätzung spielen besonders der Boden und die Luft eine bedeutende Rolle bei der Ausbreitung der Seuche. Ungebrochen ist auch bei ihm – im Jahr 1855 – der Glaube an das giftige, Krankheiten übertragende Miasma:

"Entsprechend dem constanten und überall sichtbaren Einfluß des Bodens denke ich mir, daß die cholerakeimtragenden Excremente, welche sich in das poröse, bereits sonst imprägnierte Erdreich verbreiten, durch die feine Vertheilung, welche sie hiebei erleiden, den stetig fortgehenden Fäulnis- und Verwesungsprozeß in einer Weise abändern, daß sich außer den gewöhnlichen Gasarten hiebei ein Cholera-Miasma entwickelt, welches sich dann mit den übrigen Exhalationen in den Häusern verbreitet." (5)

   Eingeschüchtert durch solche und ähnliche "Erklärungen" der Wissenschaft fühlt sich Wiens Bürgerschaft neuerlich in ihren Ängsten bestätigt, zumal die große Choleraepidemie des Jahres 1830 noch in schmerzlicher Erinnerung ist: die Seuche forderte 2.000 Tote. Als Hauptverursacher der Krankheit gelten schon damals die verschmutzten Wasserläufe, aber niemand kann mit Bestimmtheit sagen, auf welche Weise die Verbreitung der Krankheit tatsächlich erfolgt.

Noch bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bestimmt die Furcht vor dem üblen Molekül das Denken und Handeln der Menschen. Als etwa im Jahr 1872 erste Versuche zur Asphaltierung Wiens gemacht werden, setzt sich die neue Straßenbedeckung trotz heftiger anfänglicher Widerstände ("Rutschgefahr!") auch deshalb gegen die sonst übliche Bepflasterung durch, weil nur der dichte Asphalt die aus den Ritzen des Bodens dringenden Miasmen auf Dauer wirksam abzuhalten vermag. Als drohende Gefahr stellen sich den Bürgern aber nicht nur die Ausdünstungen des Bodens vor, auch die zahlreich in den Innenstädten tätigen, stinkenden Fabriken, Müllhalden oder Friedhöfe werden schrittweise an die Stadtränder abgesiedelt. Besonders den massenhaft in die Städte strömenden Arbeitern begegnet die alteingesessene Bevölkerung mit Misstrauen. Da die ärmliche und nicht selten in hygienisch prekären Verhältnissen lebende Arbeiterschaft die zum bürgerlichen Ideal erhobene Geruchlosigkeit meist nicht einmal in Ansätzen erfüllt, sehen sich katholisch-konservative Initiativgruppen wie der Verein "Arbeiterwohl" veranlasst, das städtische Proletariat "zu moralischen, reinlichen und fleißigen Bürgern zu erziehen", wie der Wiener Soziologe Peter Payer schreibt. Im Jahr 1881 erscheint in einer Broschüre des Vereins der folgende Aufruf an die Arbeiterfrauen:

"Die Reinlichkeit ist die Beschützerin der Gesundheit, der Hort der Sittsamkeit, die Grundlage aller Schönheit und auch deiner Schönheit. Ohne sie ist dein Haus widerwärtig, sein Schmutz ekelhaft, alle Zierde und selbst das Gold nur häßlich; ohne Reinlichkeit und Ordnung ist das ganze Familienleben höchst unbehaglich. Halte alles in Ordnung und rein, was dir untersteht und nur irgend im Bereiche deines Hauses weilt, aber vor allem auch dich selber. Wasche täglich und zwar mehr als einmal, nach Vollendung jeder schmutzigen Arbeit: Hände, Gesicht und Hals, sei nicht nachlässig im Ordnen deiner Haare und besorge auch allen Familienmitgliedern frische, reine Wäsche recht oft und regelmäßig." (6)

   Den Anfang vom Ende des Glaubens ans Miasma leitet ein deutscher Forscher ein, der im Jahre 1905 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet werden sollte: Robert Koch. Seine bahnbrechende Entdeckung des Milzbrand- (1876) und später des Tuberkulose- (1882) und des Choleraerregers (1883) gleicht einer Revolution in der Medizin: Mit einem Mal ist erkannt, dass viele, vielleicht sogar alle der großen menschlichen Seuchen keineswegs einer wie immer gearteten "giftigen Luft" zuzurechnen sind, sondern von mikroskopisch kleinen, lebendigen Körperchen ausgehen, die sich zuweilen rasend schnell vermehren: den Bakterien. Kochs Entdeckung führt innerhalb weniger Jahre zu einem völlig gewandelten Verständnis von Krankheit und bildet den Ausgangspunkt für wirksame Gegenmaßnahmen, etwa einem ersten, von Louis Pasteur 1881 entwickelten Impfstoff gegen den Milzbrand.

Auf der Grundlage dieser neuen Erkenntnisse kann Max Gruber, Professor für Hygiene an der Universität Wien, die Bevölkerung bereits im Jahr 1884 darüber aufklären, dass die gefürchteten "Kanalgasinfektionen" nichts als eine schaurige Mär darstellen: Weder hätten die unangenehmen Gerüche selbst einen schädigenden Einfluss auf den Körper noch würden Kanalarbeiter häufiger an Infektionskrankheiten sterben als andere Bevölkerungsgruppen. Zwar vergehen noch Jahre, bis sich auch außerhalb wissenschaftlicher Kreise die Einsicht durchsetzt, dass schlechter Geruch und Krankheit klar voneinander zu trennen sind, doch gegen Anfang des 20. Jahrhunderts wird schließlich dem Letzten klar, "daß nicht alles tötet, was stinkt, und nicht alles stinkt, was tötet." Kurzum: Das Miasma ist Geschichte.


Anmerkungen:

(1) Barlow; Clarke, S. 76

(2) Corbin, S. 46

(3) Corbin, S. 29

(4) Payer, S. 24

(5) Payer, S. 49

(6) Payer, S. 39


Literatur:

Maude Barlow; Tony Clarke. Blaues Gold: Das globale Geschäft mit dem Wasser. München: Kunstmann, 2004.

Alain Corbin. Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs. Frankfurt: Fischer, 1988.

Peter Payer. Der Gestank von Wien. Über Kanalgase, Totendünste und andere üble Geruchskulissen. Wien: Döcker, 1997.

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