Der Gestank muss
unbeschreiblich sein. Und das auf einer Länge von vielen hundert Kilometern.
Im Norden Mexikos, nahe an der Grenze zu den USA, führen die Flüsse kein
Leben mehr. In den Jahrzehnten seit 1965, in denen immer mehr Menschen in
diese Region gezogen sind, um Arbeit zu finden, sind die meisten Wasserläufe
zu dünnen Rinnsalen geschrumpft, endlosen Kloaken, die so verschmutzt sind,
dass allein das Waten darin lebensgefährlich sein kann. Deren Ufer sind
übersät mit Kadavern von Tieren, die vom Wasser krank wurden und verendet
sind. Abseits der Flüsse verrotten Berge von Müll, vermischt mit giftigen
Industrieabfällen. Zwischen tierischen und menschlichen Exkrementen finden
sich Einwegspritzen, angebrochene Glasflaschen, Plastiktüten, Kondome – und
dazwischen: spielende Kinder. Eine Million Menschen lebt und arbeitet hier,
in der so genannten Maquiladora, einer Region, die nach den
Maquilas, großen Montagefabriken, benannt ist, die sich hier angesiedelt
haben.
Zu all dem Schmutz gesellt
sich die überall präsente Armut und die eintönigen und nicht selten
gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen an den Fließbändern von
Weltkonzernen wie Philips, Ford oder Toshiba. Eine besondere Herausforderung
wartet auf all jene, die genug haben von 12-Stunden-Arbeitstagen und einem
Lohn, der kaum zum Leben reicht: Ausgehend von ihrem Traum eines besseren
Lebens in den wenige Kilometer entfernten USA wagen viele den illegalen
Grenzübertritt – und setzen oft genug ihr Leben, zumindest aber ihre
Gesundheit aufs Spiel:
"Sechsspurige Schnellstraßen
trennen Städte wie Tijuana und Juárez von den verwahrlosten Zonen des
Elends, wo sich die Flüchtlinge in der Abenddämmerung sammeln. Über eine
steile Betonrampe geht es hinab in eine träge dahinziehende Brühe aus
chemisch verseuchtem Schlamm und ungeklärten Abwässern, die ihnen bis zu
den Knien reicht. Auf der anderen Seite erwartet sie eine senkrecht
aufragende Betonwand, zusätzlich gesichert mit einem hohen, elektrisch
geladenen Stacheldrahtzaun und einer Flutlichtanlage. Selbst der Ärmste
der illegalen Immigranten gibt das Wenige her, das er besitzt, wenn er
dafür seine Beine mit Plastiktüten vor dem verseuchten Wasser schützen
kann." (1)
Die Favelas von Tijuana und
Juárez, in denen Menschen mit Massen an Dreck und Unrat zurande kommen
müssen, sind zwei Negativbeispiele unter vielen: Immer dort, wo Armut auf
wirtschaftliche Ausbeutung trifft, sind hygienische Mindeststandards
Mangelware. Dass in all diesen Fällen freilich nicht der üble Geruch
schuld an Durchfall, Hautausschlägen, Asthma oder Schlimmerem ist, mutet
selbstverständlich an. Urheber für die meisten Krankheiten, die vermehrt
gerade dort auftreten, wo Menschen inmitten von Fäkalien, verendeten Tieren
oder verdrecktem Wasser leben, sind Bakterien, Viren oder Pilze. Was auch
sonst? – ist man geneigt zu fragen. Oder anders: Kann es etwas geben, dass
gefährlicher ist als Salmonella, Staphylococcus,
Escherichia coli & Co?
Erste Hinweise auf eine
Antwort liefert ein Schauplatz der Vergangenheit – Paris anno 1846: Eugène
Chevreul, seit 1830 Professor für Organische Chemie am Nationalmuseum für
Kunstgeschichte, schlendert an einem trüben Novembertag durch Frankreichs
Metropole, sein Blick gleitet aufmerksam über die gepflasterten Plätze und
Straßen der Stadt, die an manchen Stellen dunkler als üblich erscheinen. An
der Rue Mouffetard wird Chevreul das erste Mal fündig. Er bückt sich, holt
ein Messer und eine Ampulle aus der Tasche und kratzt etwas von
"jener schwarzen, eisenhaltigen Materie, die sich
unter dem Pflaster befindet" ab. Anschließend wandert die Probe in das
Fläschchen, das er gewissenhaft verkorkt. Dutzende weiterer Ampullen mit
Schlämmen aus anderen Stadtteilen komplettieren die Untersuchung. Nach sechs
Jahren, am 20. Dezember 1852, öffnet Chevreul die in seinem Labor
gesammelten Proben und schreitet zum Geruchstest: Die Nase des Chemikers
ortet "komplexe Dämpfe des Bodens" sowie eine
offenbar beunruhigende Fähigkeit des Straßenmörtels, "Fäulnis
aus der Luft aufzusaugen" und für lange Zeit zu speichern. Der Professor
warnt: Wer sich zu lange den fauligen Elementen der Vergangenheit aussetze,
werde krank. Dasselbe gelte nicht minder für gerade erst fertiggestellte
Wohnungen: "Die aus frischen Wänden ausströmenden
Gase führen zu Neuralgien oder zu heftigen Glieder- und Muskelschmerzen."
Was Chevreul zu seinen
wissenschaftlichen Studien treibt, ist eine tief sitzende Angst, die seit
über hundert Jahren in weiten Teilen der Bevölkerung grassiert: eine Furcht
vor der – im wörtlichen Sinne – verpesteten, Krankheit und Tod bringenden
Luft. In seiner Kulturgeschichte des Geruchs berichtet Alain Corbin von
einem "panikartigen Schrecken", der jedesmal die
Menschen im 18. und noch weit bis ins 19. Jahrhundert erfasst, wann immer
das Miasma, das "faulige Molekül", über die Menschen
kommt. Diese Furcht zieht sich durch alle Bevölkerungsschichten, nicht
einmal die Wissenschaft ist davor gefeit. Als im Paris des Jahres 1838 eine
Gruppe von Ärzten zur Öffnung eines bereits halb verwesten Leichnams
schreitet, spielen sich am Rande der Obduktion erschreckende Szenen ab:
"Dem ersten [Arzt] schlugen
die fauligen Ausdünstungen, die gleich bei der Öffnung entwichen, so
heftig entgegen, daß er ohnmächtig umfiel, nach Hause gebracht werden
musste und siebzig Stunden später starb. Der zweite – der berühmte
Fourcray – wurde von einem denkbar blühenden und umfassenden
Hautausschlag befallen. Die beiden anderen, Laguerenne und Dufresnoy,
trugen ein langwieriges Siechtum davon, von dem der letzte sich niemals
erholen sollte." (2)
Speziell im ausgehenden
18. Jahrhundert nimmt die Angst wahnhafte bis hysterische Züge an, beinahe
jeder ist davon befallen. Alles, was durch seinen üblen Geruch von Fäulnis
zeugt, ist verdächtig. Jedesmal, wenn in Paris die Senkgruben entleert
werden, so berichtet etwa ein Zeitgenosse, "werden
die Blumen welk, die jungen Mädchen verlieren ihre frische Farbe." Das
Miasma scheint überall zu sein, dringt aus jeder Ritze, lässt niemanden
unverschont. Als 1755 in Lissabon ein Erdbeben ausbricht, werden in weiten
Teilen der Bevölkerung giftige Dämpfe, die bei den Erdstößen aus den Spalten
des Bodens entwichen sein sollen, für die darauf folgenden Fieber und
Todesfälle verantwortlich gemacht. Stehende Pfützen, verrottendes Fleisch,
üble Gerüche von Fabriken, Seifensiedereien, Gerbereien, ja selbst die
rußigen Dämpfe der Schmieden, erregen zunehmend Missfallen, ja Angst.
"Der Abendtau ist schädlich", heißt es, weil er alle
möglichen Abfallstoffe enthält, die salzigen Dämpfe des Meeres geben
"Anlass zur Sorge". Immer wieder wird die Stadt als
ein "einziger Sumpf aus Abwässern und Jauche"
bezeichnet, und Reisende erzählen Schauergeschichten von Menschen, die vom
Wege abkamen "und in den Sickergruben von Montfaucon
verschwunden sind". Berichtet wird überdies von einer neuen Gewohnheit, auf
den Grund der Abzugsgräben (also: der Plumpsklos) zu schauen, als morbides
Faszinosum gewissermaßen. Auch die Medien nehmen sich des Themas an: In den
Theatern kommt zum ersten Mal die Figur des Kloakenfegers auf die Bühne.
Eifrig übt sich die
Wissenschaft in Erklärungsversuchen. Jahrzehnte vor Chevreuls
Riechexperimenten machen sich dessen Kollegen auf die Suche nach
Analysemethoden und Theorien, um dem Miasma endlich seine Geheimnisse zu
entreißen: Was sind und wie entstehen üble Gerüche, warum machen sie krank,
was lässt sich dagegen ausrichten? Nach einigem Hin und Her kristallisiert
sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts folgende Lehrmeinung heraus:
"Wenn der dauernde Kampf im
Innern der Lebenwesen zugunsten der Fäulnis verläuft, wenn der
Organismus durch einen unglücklichen Zufall faulige Miasmen aufnimmt,
Dünste von kranken oder in Verwesung begriffenen Körpern, die das
Gleichgewicht der Kräfte in den Eingeweiden zerstören, wenn der Fluß des
balsamischen Geistes, der im Blute wohnt, durch eine Zerstörung der
Gefäße, eine Verdickung der Säfte oder eine Verletzung ins Stocken
gerät, kann dies den Triumph des Brandes, der Blattern, des Skorbut, des
Pest- oder Faulfiebers bedeuten." (3)
Die Theorie vom
Säftegleichgewicht des Körpers, das um jeden Preis erhalten werde müsse,
verlange zweierlei Maßnahmen, die im Kampf gegen das Miasma Erfolg
versprechen sollen: Säuberung und Reinhaltung der Luft, des Bodens und der
Menschen von allem, was üble Gerüche verursacht. Zweitens: Verabreichung von
Gegenmitteln wie ätherischen Ölen oder allgemein Beduftung resp. Begrünung
von Räumen und Städten; Verwendung von viel fließendem Wasser (im Gegensatz
zu stehendem, das dazu neigt, sich mit gefährlichen Dämpfen vollzusaugen).
Im Bemühen des ausgehenden
18. Jahrhunderts, der schlechten Luft Herr zu werden, tritt schließlich eine
paradoxe Situation zutage: Während die Vernunft im Zuge der Aufklärung zur
menschlichen Eigenschaft par excellence aufgewertet wird, sinkt das Ansehen
des Geruchssinns rapide. Als "Stempel der Animalität"
gebrandmarkt, zeigt sich die Nase als Antipode des Verstands; sie wird
stigmatisiert und entwertet zum niederen Sinn der Lust, der Begierde und des
Triebhaften. Dennoch genießt die Nase Respekt: Geschätzt als zuverlässiger
Wachposten im Kampf gegen das Miasma wird der Geruchssinn zum vorzüglichen
Analyseinstrument, das vor krank machenden Ausdünstungen und giftigen
Substanzen warnt. Mit Hilfe der Nase lässt sich die Umwelt chemisch
erforschen. Dies drückt sich etwa aus in der hartnäckigen Suche nach den
Fundamentalgerüchen, also der Absicht, Gerüche mittels Sprache zu
klassifizieren. Zwischen 1750 und dem ausgehenden 19. Jahrhundert werden
unzählige Anläufe unternommen, geruchliche Pendants etwa zu den Urfarben
rot, grün und blau zu finden, aus deren Zusammensetzung sich alle weiteren
Duftmischungen herleiten lassen sollen. Zwischen vier und vierzehn Gerüche
werden identifiziert, wobei "fruchtig",
"stechend", "brenzlig",
"faul", "duftig",
"ranzig", "sauer" zu den am
häufigsten wiederkehrenden Nennungen zählen.
Was den Gestank betrifft,
kommt in vielen europäischen Großstädten – bedingt auch durch die rasante
Bevölkerungszunahme – das drängende Gefühl auf, dass eine Grenze des
Erträglichen erreicht sei. Überall werden Stimmen laut, dass die Städte zu
fauligen Kloaken, zu einem Hort des Übels und des Verfalls geworden seien.
Die Stadt wird gemeinhin als Körper betrachtet, der krank sei, und schlechte
Gerüche seien, wie beim Menschen, ein Symptom dieser Krankheit. Ebenso wie
brandig gewordene Körperteile einen ganzen Menschen infizieren können,
vermögen auch jene Stadtteile, die Gestank verbreiten, eine ganze Metropole
zum Absterben zu bringen.
Aus eben diesem Geist
entstehen rund um das Jahr 1800 die ersten "medizinischen
Topographien" der Stadt. Auch in Wien stehen die Ärzte mit ihrer Forderung
nach mehr Sauberkeit an vorderster Front. Johann Peter Frank, Direktor des
Allgemeinen Krankenhauses, bringt 1791 sein "System
einer vollständigen medizinischen Polizey" heraus und warnt darin unter
anderem vor engen Raumverhältnissen oder großen Menschenansammlungen, die
die Ausbreitung von Krankheiten begünstigen und fordert die Anlage sauberer
Brunnen und Wohnungen. Kurze Zeit später lässt Kaiser Joseph II. den Prater
und den Augarten als Erholungsgebiete für die Bevölkerung öffnen und setzt
Zuchthäusler als Straßenkehrer ein. Noch weiter gehen die Absichten des
Leipziger Arztes Ernst Hebenstreit. Um die "verderbte Luft" aus den Städten
ein für allemal zu verbannen, besteht er auf einer radikalen Abkehr von
bisherigen städtischen Gestaltungsprinzipien. An folgende
Verbesserungsmaßnahmen ist gedacht:
"Geradlinige
und breite Gassen, große freie Plätze, zahlreiche geräumige Stadttore,
ein dichtes und festes Straßenpflaster, Rinnen zum Abfluss der
Feuchtigkeit, unterirdische gemauerte Kloaken, Kehrung und Besprengung
der Straßen mit Wasser, Verlegung der Fabriken und Friedhöfe aus der
Stadt, Anlage öffentlicher Toiletten." (4)
Im Verständnis großer
Teile der Bevölkerung bricht sich ein verändertes Gesundheitsbewusstsein
Bahn: Dort, wo Gärungs- und Fäulnisprozesse immer öfter in die Nähe des
Teuflischen und moralisch Verderbten gerückt werden, erhält die Sauberkeit
allgemein moralischen Charakter. Vor allem in den Augen des neu erstarkten
Bürgertums wird die Reinhaltung des Körpers (bzw. der Stadt) zum sichtbaren
Ausdruck des kulturellen und ökonomischen Fortschritts.
Aufgeschreckt durch immer
zahlreichere Beschwerden über die penetrante Geruchsbelästigung der Städte
sieht sich letztlich auch die weltliche Autorität veranlasst festzustellen,
"daß nur eine gesunde Bevölkerung dem Staate
erwünschlich ist", und setzt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die oben
geforderten hygienischen Standards sukzessive in die Tat um. Neben der
Einrichtung von "Stadtphysikaten", den Vorläufern der
Gesundheitsbehörden, sind es vor allem bauliche Maßnahmen, die nachhaltig
Wirkung zeigen. Eindrucksvolles Beispiel ist das Wiener Kanalsystem, das bei
der Seuchenbekämpfung unschätzbare Dienste leistet: Bereits gegen Ende des
18. Jahrhunderts ist die Innenstadt vollständig mit Abwasserleitungen
durchzogen, und wo im Jahr 1873 noch mehrere tausend Senkgruben die Luft
verpesten, sind es um 1900 nur noch wenige hundert. Auch die Regulierung und
Einwölbung der noch offenen Wasserläufe (Ottakringerbach: 1840; Alserbach:
1843; Währingerbach: 1848) schreitet zügig voran. 1883 wird für alle Wiener
Neubauten der Einbau eines "Waterclosets" zwingend
vorgeschrieben, und 1910 sind 2.600 Arbeiter allein mit der Säuberung, dem
Kehren und Bewässern der Wiener Straßen beschäftigt.
Auch in der Wissenschaft
schlägt das neue Gesundheitsbewusstsein durch: 1865 wird in München der
erste Lehrstuhl für Hygiene errichtet, zehn Jahre später zieht die Wiener
Universität gleich. Träger des Münchener Lehrstuhls ist Max von Pettenkofer,
ein Schüler des hoch angesehenen Chemikers Justus von Liebig. Pettenkofers
Hauptinteresse gilt der Erforschung der Cholera. Nach seiner Einschätzung
spielen besonders der Boden und die Luft eine bedeutende Rolle bei der
Ausbreitung der Seuche. Ungebrochen ist auch bei ihm – im Jahr 1855 – der
Glaube an das giftige, Krankheiten übertragende Miasma:
"Entsprechend dem constanten
und überall sichtbaren Einfluß des Bodens denke ich mir, daß die
cholerakeimtragenden Excremente, welche sich in das poröse, bereits
sonst imprägnierte Erdreich verbreiten, durch die feine Vertheilung,
welche sie hiebei erleiden, den stetig fortgehenden Fäulnis- und
Verwesungsprozeß in einer Weise abändern, daß sich außer den
gewöhnlichen Gasarten hiebei ein Cholera-Miasma entwickelt, welches sich
dann mit den übrigen Exhalationen in den Häusern verbreitet." (5)
Eingeschüchtert durch
solche und ähnliche "Erklärungen" der Wissenschaft
fühlt sich Wiens Bürgerschaft neuerlich in ihren Ängsten bestätigt, zumal
die große Choleraepidemie des Jahres 1830 noch in schmerzlicher Erinnerung
ist: die Seuche forderte 2.000 Tote. Als Hauptverursacher der Krankheit
gelten schon damals die verschmutzten Wasserläufe, aber niemand kann mit
Bestimmtheit sagen, auf welche Weise die Verbreitung der Krankheit
tatsächlich erfolgt.
Noch bis zum letzten
Drittel des 19. Jahrhunderts bestimmt die Furcht vor dem üblen Molekül
das Denken und Handeln der Menschen. Als etwa im Jahr 1872 erste Versuche
zur Asphaltierung Wiens gemacht werden, setzt sich die neue Straßenbedeckung
trotz heftiger anfänglicher Widerstände ("Rutschgefahr!")
auch deshalb gegen die sonst übliche Bepflasterung durch, weil nur der
dichte Asphalt die aus den Ritzen des Bodens dringenden Miasmen auf Dauer
wirksam abzuhalten vermag. Als drohende Gefahr stellen sich den Bürgern aber
nicht nur die Ausdünstungen des Bodens vor, auch die zahlreich in den
Innenstädten tätigen, stinkenden Fabriken, Müllhalden oder Friedhöfe werden
schrittweise an die Stadtränder abgesiedelt. Besonders den massenhaft in die
Städte strömenden Arbeitern begegnet die alteingesessene Bevölkerung mit
Misstrauen. Da die ärmliche und nicht selten in hygienisch prekären
Verhältnissen lebende Arbeiterschaft die zum bürgerlichen Ideal erhobene
Geruchlosigkeit meist nicht einmal in Ansätzen erfüllt, sehen sich
katholisch-konservative Initiativgruppen wie der Verein "Arbeiterwohl"
veranlasst, das städtische Proletariat "zu moralischen, reinlichen und
fleißigen Bürgern zu erziehen", wie der Wiener Soziologe Peter Payer
schreibt. Im Jahr 1881 erscheint in einer Broschüre des Vereins der folgende
Aufruf an die Arbeiterfrauen:
"Die Reinlichkeit ist die
Beschützerin der Gesundheit, der Hort der Sittsamkeit, die Grundlage
aller Schönheit und auch deiner Schönheit. Ohne sie ist dein Haus
widerwärtig, sein Schmutz ekelhaft, alle Zierde und selbst das Gold nur
häßlich; ohne Reinlichkeit und Ordnung ist das ganze Familienleben
höchst unbehaglich. Halte alles in Ordnung und rein, was dir untersteht
und nur irgend im Bereiche deines Hauses weilt, aber vor allem auch dich
selber. Wasche täglich und zwar mehr als einmal, nach Vollendung jeder
schmutzigen Arbeit: Hände, Gesicht und Hals, sei nicht nachlässig im
Ordnen deiner Haare und besorge auch allen Familienmitgliedern frische,
reine Wäsche recht oft und regelmäßig." (6)
Den Anfang vom Ende des
Glaubens ans Miasma leitet ein deutscher Forscher ein, der im Jahre 1905 mit
dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet werden sollte: Robert Koch. Seine
bahnbrechende Entdeckung des Milzbrand- (1876) und später des Tuberkulose-
(1882) und des Choleraerregers (1883) gleicht einer Revolution in der
Medizin: Mit einem Mal ist erkannt, dass viele, vielleicht sogar alle der
großen menschlichen Seuchen keineswegs einer wie immer gearteten
"giftigen Luft" zuzurechnen sind, sondern von
mikroskopisch kleinen, lebendigen Körperchen ausgehen, die sich zuweilen
rasend schnell vermehren: den Bakterien. Kochs Entdeckung führt innerhalb
weniger Jahre zu einem völlig gewandelten Verständnis von Krankheit und
bildet den Ausgangspunkt für wirksame Gegenmaßnahmen, etwa einem ersten, von
Louis Pasteur 1881 entwickelten Impfstoff gegen den Milzbrand.
Auf der Grundlage dieser
neuen Erkenntnisse kann Max Gruber, Professor für Hygiene an der Universität
Wien, die Bevölkerung bereits im Jahr 1884 darüber aufklären, dass die
gefürchteten "Kanalgasinfektionen" nichts als eine
schaurige Mär darstellen: Weder hätten die unangenehmen Gerüche selbst einen
schädigenden Einfluss auf den Körper noch würden Kanalarbeiter häufiger an
Infektionskrankheiten sterben als andere Bevölkerungsgruppen. Zwar vergehen
noch Jahre, bis sich auch außerhalb wissenschaftlicher Kreise die Einsicht
durchsetzt, dass schlechter Geruch und Krankheit klar voneinander zu trennen
sind, doch gegen Anfang des 20. Jahrhunderts wird schließlich dem Letzten
klar, "daß nicht alles tötet, was stinkt, und nicht
alles stinkt, was tötet." Kurzum: Das Miasma ist Geschichte.
Anmerkungen:
(1)
Barlow; Clarke, S. 76
(2)
Corbin, S. 46
(3)
Corbin, S. 29
(4)
Payer, S. 24
(5)
Payer, S. 49
(6)
Payer, S. 39
Literatur:
Maude Barlow; Tony Clarke. Blaues Gold: Das globale Geschäft mit dem
Wasser. München: Kunstmann, 2004.
Alain Corbin. Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs.
Frankfurt: Fischer, 1988.
Peter
Payer. Der Gestank von Wien. Über Kanalgase, Totendünste und andere
üble Geruchskulissen. Wien: Döcker, 1997.
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