Die Nummer, die mit dem
Slogan
"Bei Anruf Wort" um
"Gärtnerseelen" wirbt, gehört zum neu belebten
Literaturtelefon in Kiel, wo man sich
die Stimmen bekannter
und weniger bekannter AutorInnen zu Ohren führen kann. Die Idee zu
dieser Literatur
auf Draht wurde im Umfeld von Andy Warhol geboren, von einem gewissen
John Giorno, der in den USA das weltweit erste Literaturtelefon gründete.
1978 gab es den
ersten Ableger in Deutschland. Der Kieler Literaturstudent
Michael Augustin war Mitte der
70er Jahre in London auf die Zeitungsanzeige: "Dial a poem!"
("Ruf
ein Gedicht an!") gestoßen und hatte,
begeistert von dieser Idee, nach seiner Rückkehr
gemeinsam mit dem zuständigen
Kulturdezernenten das Kieler
Literaturtelefon ins Leben
gerufen. Die Finanzierung über die Jahre
hinweg erwies sich als schwierig. Seit Oktober
2001 betreibt das Kieler Kulturamt das
Literaturtelefon in Eigeninitiative.
Seit April dieses Jahres
ist Deutschlands
ältestes Literaturtelefon auf private
Initiative
und mit Unterstützung der Stadt Kiel
zusätzlich auch im Internet erreichbar. Die Adresse
lautet: literaturtelefon-online.de.
Die Idee zur Expansion stammt von
den Kieler Autoren Björn Högsdal und Patrick
Kruse, die in der Poetry-Slams-Szene fest
verwurzelt
sind und unter dem Label assembleART.com
eine sogenannte ARTainment-Agentur betreiben.
Auch der
Kieler Journalist, Autor und
Literatur-Podcaster
Jörg Meyer ist mit von der Partie.
KW:
In welchem Zusammenhang hörten Sie das erste Mal vom Literaturtelefon?
Wie kam es zum "Literaturtelefon online"?
Björn Högsdal:
Die Idee wurde geboren, als das Literaturtelefon eigentlich schon vor dem
Aus stand. Sinkende Anruferzahlen und schwindende Budgets hatten zu
Überlegungen der Stadt Kiel geführt, das Literaturtelefon einzustellen. Über
das Internet ist heute eine viel breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Für
uns hat die Onlineversion des Literaturtelefons eigentlich keinen
herausragend innovativen Charakter, es war vielmehr die logische Konsequenz
aus den Änderungen im Konsumverhalten der Menschen und der Entwicklung der
WWW-Community. Die Anruferzahlen beim Kieler Literaturtelefon waren in
Vorinternetzeiten recht hoch, seit der Nutzung des Internets in breiten
Teilen der Bevölkerung ließen sie nach. Die
Onlineversion mit ihren erweiterten Möglichkeiten einer Vorschau, eines
Archivs und tiefergehender Information zu den Autoren war aus unserer Sicht
überfällig. Ich persönlich stieß auf das
Literaturtelefon 1996, als ich vom Bodensee nach Kiel zog, um dort meinen
Zivildienst zu leisten und zu studieren. Die "Kieler
Nachrichten" führten damals schon regelmäßig auf, wer liest und unter
welcher Nummer das Literaturtelefon zu erreichen ist.
KW:
Was motiviert Sie persönlich, die Nummer des Literaturtelefons zu
wählen?
Björn Högsdal:
Der Reiz liegt für mich in
der Faszination einer privaten Autorenlesung. Ein Autor liest seinen eigenen
Text – viel näher kann man der Seele eines Textes wohl nicht kommen. Wer
sonst könnte ihn besser interpretieren?
KW: Wo liegen die Unterschiede zu
Podcast-Seiten wie www.literaturcafe.de oder anderen Web2.0-Angeboten?
Björn Högsdal:
Der Unterschied ist ein
Stück weit der Kiel-Bezug. Es lesen bekannte Autoren aus Kiel, wie Feridun
Zaimoglu, und Autoren-Nachwuchs aus Kiel. Die Aufnahmen bekannter Autoren,
die außerhalb Kiels wohnen, entstehen immer dann, wenn sie für eine Lesung
hier sind. Zum einen dokumentieren wir also, zum anderen suchen wir bei
Lesungen und Poetry Slams gezielt nach interessanten Jung- und
Nachwuchsautoren. Auch Einsendungen von Autoren an uns gibt es. Da wird dann
im Plenum ausgewählt, ein gewisses Niveau muss gegeben sein.
KW:
Spielt die Stimme eine Rolle?
Björn Högsdal:
Nicht bei der Auswahl der
Autoren, aber natürlich ist es besonders schön, wenn Form und Inhalt, also
sowohl die Stimme als auch der Text überzeugen.
KW:
Aktuell kann man Ingrid Reidel ihre Kurzgeschichte "Ich liebe
Wagner" lesen hören. Wenn man ihr übers Telefon zuhört, entsteht ein
Gefühl von Privatheit: Man muss sich
sammeln, die Konzentration auf die Stimme aus der Tiefe des Hörers
richten … Das spricht meines Erachtens gegen das
"Literaturtelefon online" und für die Telefonvariante …
Björn Högsdal:
Ich stimme zu, dass es eine
ganz besondere Sache ist, Literatur am Telefon vorgelesen zu bekommen. Die
Onlineversion, die wir nicht als Ersatz, sondern Ergänzung sehen, hat mit
ihren erweiterten Möglichkeiten ihren eigenen Reiz. Die Tonqualität ist
besser, man kann sich eingehender über den Autor und sein Werk informieren,
und man kann im Archiv in der Vergangenheit des Literaturtelefons stöbern.
Wenn künftig Video-Podcasts dazukommen, wird es im Netz noch interessanter
...
KW:
Geht damit nicht der spezifische Reiz des Literaturtelefons
verloren?
Björn Högsdal:
Es ist nicht geplant,
komplett auf Video-Podcasts umzustellen, vielmehr die Seite um dieses
Feature nach Möglichkeit zu erweitern. D.h. es wird künftig solche Podcasts
geben, aber nicht ausschließlich. Ich denke nicht, dass der spezifische Reiz
verloren geht, online wird der Beitrag vielmehr um einen Reiz bereichert. Es
gibt einfach Texte, die im oralen Vortrag erst richtig lebendig werden und
wenn man den Autor dann auch noch sehen kann, ist es fast schon so, als wäre
man wirklich dabei.
KW:
Sind Reihen und Länderschwerpunkte geplant? Oder ist gerade das
Überraschungsmoment essentiell?
Björn Högsdal:
Reihen und
Länderschwerpunkte sind bislang nicht geplant, wären aber vorstellbar.
Derzeit läuft es, wie schon gesagt, eher so, dass wir aufnehmen, was uns
vors Mikrofon kommt.
AM:
In welchem Rhythmus wechseln die Beiträge?
Björn Högsdal:
Alle zwei Wochen ist ein
neuer Autor oder eine Autorin zu hören.
KW:
Was kostet die literarische Einflüsterung?
Björn Högsdal:
In Kiel erreicht man das
Literaturtelefon zum Ortstarif, ansonsten kostet es soviel wie ein normales
Gespräch innerhalb von Deutschland.
KW:
Haben Sie Pläne über Kiel hinaus?
Björn Högsdal:
Die Online-Fassung des
Literaturtelefons ist im Prinzip schon der Schritt aus Kiel heraus, und das
Spektrum der Autoren reicht von Kieler und schleswig-holsteinischen
Nachwuchsautoren bis zu Schriftstellern aus aller Welt. Das Angebot des
Literaturtelefons ist für jeden Literaturinteressierten im deutschsprachigen
Raum attraktiv, nicht nur für Kieler.
KW:
Kennen Sie Ihre HörerInnen? Wissen Sie, in welchen Momenten sie
zum Hörer greifen? Stehen sie, liegen sie, sind sie übermütig oder
verzweifelt?
Björn Högsdal:
Da es bislang keine
Möglichkeit der Hörerantwort gab – außer den Anruferzahlen selbst –, haben
wir leider keine wirkliche Vorstellung davon. Vielleicht wird sich das ja
durch die Kontaktmöglichkeiten online ändern. Mir gefällt es am besten, am
Ostseestrand oder der Kieler Förde im Sand zu liegen und beispielsweise von
Saša Stanišić aus seinem Romandebüt vorgelesen zu bekommen.
KW:
Denken Sie, dass parallel zum steigenden Interesse an Hörbüchern
mit einer verstärkten Nutzung des Literaturtelefons zu rechnen ist?
Björn Högsdal:
Es gibt allgemein ein
verstärktes Interesse an „spoken word“, also vorgetragener Literatur, und
ich halte es für sehr gut möglich, dass das auch zu einer stärkeren Nutzung
führt. Da wir aber gerade erst mit der Onlineversion ins Netz gegangen sind,
können wir das derzeit noch nicht beurteilen. Das wird sich in einiger Zeit
zeigen, wenn erste Statistiken und Werte der Online-Nutzung vorliegen.
KW:
Verlagert sich unsere Vorliebe beim Konsum von Literatur
allgemein zunehmend in Richtung Oralität und Performanz?
Björn Högsdal:
Ganz grundlegend denke ich,
dass es Texte gibt, die auf die Bühne gehören bzw. die gehört werden sollen,
und solche, die gelesen besser funktionieren. Die Bedeutung von Oralität und
Performance ist aber sicher gestiegen. Literatur hat heute mehr
Event-Charakter. Das sehe ich prinzipiell positiv.
KW: Haben Sie, der Sie selbst im
Spoken-Word-Metier aktiv sind, das Gefühl, dass hier ein Gruppenphänomen
vorliegt, das die eigenen Szenegrenzen nicht überschreitet?
Björn Högsdal:
Nein, ich denke nicht, dass
das Interesse an Oralität und Performance ein Gruppenphänomen innerhalb der
eigenen Szene ist. Dass zum Beispiel der WDR inzwischen ein eigenes
Poetry-Slam-Format im TV-Programm hat, ist ein ebenso deutliches Zeichen für
ein allgemein steigendes Interesse wie die aktuellen Verkaufszahlen von
Hörbüchern und die wachsende Zahl von Lesebühnen, Poetry Slams und
Poetry-Slam-Besuchern in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Man sollte nicht vergessen, dass der orale Vortrag die ursprüngliche
Form der Literatur ist. "Spoken word" ist so gesehen
kein neues Phänomen, eher eines, das eine Renaissance erlebt.
KW:
Realisieren Sie in Ihrer Agentur assembleART gerade weitere
bemerkenswerte Projekte?
Björn Högsdal:
Neben unseren
Veranstaltungen wie dem halbjährlichen Spoken-Word-Festival
"WortGewalten", den Poetry Slams und unserem Literaturwettbewerb
Prosa-Cup führen wir jetzt Poetry-Slam-Workshops an Schulen durch und
produzieren ein Hörbuch mit Vertonungen von Gottfried Benn-Gedichten. Die
Gedichte sind eingesprochen von Autoren und Künstlern wie Gunna Wendt aus
München, Stella Adorf, Vera Borek, Paul Herwig, Michael Nelle und vielen
anderen. Vertont werden die Gedichte mit elektronischer Musik. Im Gegensatz
zum Rilkeprojekt sollen aus den Stücken aber keine Popsongs werden. Vielmehr
soll den Gedichten ein atmosphärisches Kleid gegeben werden.
KW:
In diesem Sinn: Hut ab! Und weiterhin viel Erfolg.
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