"...wenn die wolken aufhören
weiterzuziehen..." (Ostermaier)
Die
Menschen sollten Idyllen haben. Nur Idyllen. Optimalerweise. Natürlich.
Manche scheinen es dazu zu bringen
und andere nicht. Ob Idyllen leichter zu haben sind, wortlos oder wortreich,
ist vielleicht eine Frage. Tatsache ist aber, dass unsere Welt insgesamt
keine Idylle ist und offenbar eine Gewaltspirale samt
Unglück existiert, die sich dreht und dreht. Dies spiegeln die Medien
tagtäglich wieder. Und zwar nicht wortlos. Sondern bis hin zu wortgewaltig.
Gibt es die Hoffnung,
der sogenannten Gewaltspirale entgegenzuwirken? Oder ist längst alle
Hoffnung aufgegeben worden. Auch von kritischen Kulturschaffenden?
Selbstverständlich wird
auch in Kunst und Kultur Gewalt thematisiert. Als Korrektiv. Versteht sich.
Um nicht das altmodische Wort Sozialkritik zu strapazieren. Nicht zuletzt im
Theater befasst man sich mit den schwierigsten Stoffen. Ich habe
vorbeigeschaut, wie es das Residenztheater derzeit bei der Inszenierung
"Call Me God" tut: In Realismusfragmenten in einem länglich-schmalen,
rechteckigen weißen Raum mit Tür, Fenster, Glasfront, entworfen von Nina
Wetzel. Das Licht dazu designte Uwe Grünewald, die eingefügte Videoarbeit
stammt von Sebastien Dupouey. Wahllos liste ich in der Reihenfolge Begriffe
zur Inszenierung auf. Eine Reihenfolge scheint beliebig, so wie auch im
Stück: Gewalt, Sex, Kunst, Ärzte, Gefängnis, Mord, Selbstmord, Todesstrafe,
Wissenschaft, Medien, Tote, Lebende, Poesie, Prosa, Realität, Fiktion,
Gefühle, Kälte, Monologe, Dialoge, Musik, Videos, Medikamente, Gift,
Talkshow, Idylle, Zerstörung, Opfer, Täter, Moderator, Hysterie, Coolness,
Überdruss, Langeweile, Sinnlosigkeit. Worte sind Worte sind Worte sind
Worte. Bilder sind Bilder sind Bilder sind Bilder sind Bilder. Texte sind
Texte sind Texte sind Texte sind Texte sind Texte.
Vielleicht
will der Konsument ein Worte-, Bilder- und Texte-Kaleidoskop in ständiger
Bewegung in den Medien, der Kunst, damit er nirgends in der Realität in Ruhe
mit Fakten konfrontierend überrascht wird, die er nicht aushalten kann,
nicht aushalten will oder nicht ändern kann oder will? Weil
also die Gewalt, die tatsächlich stattfindet, längst ein
unerträgliches Ausmaß hat? Schließlich: Dabeigewesen sein und eine
Veröffentlichung haben, ein Buch etwa, das ist es, was interessant zu sein
scheint. Bücher, die irgendwer liest, oder niemand. Geschichten, die am
liebsten schnell wieder abgehakt sein sollten. Wie diese samt dem
Theaterstück "Call me God"
–
nennt mich Gott. Diese Worte hatte ein Attentäter auf eine Tarotkarte
notiert, um 10 Millionen Dollar Lösegeld zu fordern. Im Oktober 2002 war das
gewesen. Als in Washington zwei Männer wahllos zehn Menschen erschossen
hatten, drei weitere waren schwer verletzt worden. Der ältere der beiden
Serienmörder wurde 2009 hingerichtet, der minderjährige Komplize bekam
lebenslänglich.
Vier
Theaterschriftsteller, der Italiener Gian Maria Cervo, der Argentinier
Rafael Spregelburd, Marius von Mayenburg und Albert Ostermaier haben für
"Call Me God" unabbhängig voneinander Texte zum Washington-Verbrechen
geschrieben. Herausgekommen ist eine Koproduktion mit dem Festival
"Quartieri dell'arte" in Viterbo, dem Festival "Romaeuropa" und dem Teatro
di Roma. Die Residenztheater-Dramaturgin Laura Olivi, eine Italienerin,
hatte mit Gian Mario Cervo das Thema jahrelang in Planung.
Von
Mayenburg stellt im Gespräch mit Ivana Garbage, Autorin von "American
Gladiator. Crime and Fame in American Postwar Society", die Frage: "Und die
Opfer?" Während diese Autorin in der amerikanischen Presse "gemeine Sphinx"
genannt wurde für ihre enthüllenden Äußerungen darüber, wie Täter durch die
Medien im Zentrum der Öffentlichkeit stehen. "Der sinnlose Mord stellt den
radikalsten vorstellbaren Verstoß gegen sämtliche moralischen Prinzipien dar
...", beginnt sie. Cervo lässt wissen: "Mein Teil des Textes inszeniert
kleine Bewegungen und kleine Aktionen, die transversal mit den Beltway
Sniper-Attacks in Zusammenhang stehen ...". Spregelburd teilt mit:
"Vermutlich tue ich, wenn ich über einige der traurigen, verschwendeten
Leben schreiben will, die es vor einem Jahrzehnt in den Vereinigeten Staaten
gegeben hat, nichts weiter als mich einem eher lokalen Horror, einem
naheliegenderen, gefürchteteren und vertrauteren Monster zu stellen: der
Bürokratisierung des Bösen." Ostermaier schreibt: "dein magazin des glücks
war schnell leer ...".
Dass dies alles aus vier
Perspektiven und Blickwinkeln betrachtet wird und dazu noch collagenartig,
fast willkürlich, ineinandergeschnittene Bilder und Szenen gezeigt werden,
entspricht der Intention, zu präsentieren, wie Medien und
Unterhaltungsindustrie mit derartigen Themen umgehen. Die vier Schauspieler
Katrin Röver, Genija Rykova, Thomas Gräßle und Lukas Turtur beobachtet man
dabei in stetigem extremem Rollenwechsel zwischen dutzenden involvierter
Personen in die gesamte Verbrechensgeschichte in Radio- und Fernsehstudios,
CIA-Büros, Verhörzellen, Notaufnahmen und an Tatorten. An verbaler,
psychischer und körperlicher Gewalt lässt die Regie es dabei an keiner
Stelle fehlen. Die Fragen also: Wie gehen die Massenmedien mit der Thematik
um? Wie die Politik? Und wie Kunst und Kultur? Wie ein Theater wie das
Residenz in München?
"Die
Öffentlichkeit hat ein Recht auf Information", lautet ein Satz im
Theaterstück. Gleichzeitig wird die ganze Aufführung zur Lachnummer gemacht,
auch die darin immanente Information. Regisseur Marius von Mayenburg bietet
im Marstall das regelrechte zynische Ausnehmen des Themas. Vaudeville,
Comedy, Slapstick, Splatter kommen dabei nicht zu kurz. Dass Gewalt nie und
nirgends eine Lösung sein kann, das bleibt dabei außen vor. Es wird so
rasant inszeniert, so klischeeartig und knallbunt, dass man zum Nachdenken
gar nicht erst kommen kann. Entlarvt wird zwar. Aber bei dieser grellen Show
wird man zum Zuschauer gemacht um des bloßen Zuschauens Willen. Der
Unterhaltungswert eben. Teueres Staatstheater. –
Und aus einem einstmals kritischen
Intellektuellen wurde oder wird flugs ein kommerzieller Konzernmitarbeiter. |