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Tina Karolina Stauner
tkstauner [at] arcor.de
Tina Karolina Stauner
lebt in München und veröf-
fentlicht nach Ausbildung
beim Werkbund, im Theater
und in Kulturwissenschaften
als freie Autorin und Künstlerin.
Die Absolventin der Münchener
Journalistenakademie schreibt
journalistische und literarische
Texte und arbeitet als visuelle
Künstlerin in/mit mehreren
Medien. Im Bereich des
Kultur- und Musikjournalis-
mus liegen ihre Schwerpunkte
unter anderem bei Themen
wie Free Jazz, Improvisation,
experimentelle Musik, Neue
Musik, Neues Musiktheater,
Avantgarde und Songwriting.
Homepage
memoryvision.tumblr.com
Blog
tkstauner.blogspot.com

Niklas Wilson.
Ornette Coleman.
Sein
Leben, seine Musik,
seine
Schallplatten.
Oreos, 1989, 192 S.
ISBN: 3923657242
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Blau überspannt den
sommerwarmen Bergort. Im
Congress Saalfelden, einem
schicken
Festivalzentrum,
verbringe ich Zeit fast wie chillend, relaxt in musikalische Sets
mit zumeist eher Feinnervigem hineinhörend. Zwischendurch unterhalten wir
Journalisten uns mit den Musikern auf dem Balkon der Lounge.
Ich stimme mich
gedanklich ein auf den Festival-Mainact: Ornette Coleman.
Coleman, der 1960 mit der
Veröffentlichung von "Free Jazz" als Neuerer auftrat, startet seinen
Auftritt zum Festvalabschluss fast lyrisch, sentimental .
Wechselt im ersten
Stück zwischen Saxophon und Trompete. Später auch einmal zur Violine,
neben
einem Bass gespielt,
wie bei einer Cellosuite. Im lilafarbenen,
feinrotgestreiften Anzug und schwarzen Basthut
steht
der schmächtige, fast
80-jährige Mann, lebende Autorität des Free Jazz, im Zentrum der Bühne und
koordiniert ein Spiel, das in seine gesamte Werkgeschichte und sein
antiautoritäres Musiksystem führt. Mit ihm in der Formation die Bassisten
Anthony Falanga und Al McDowell und sein 53-jähriger Sohn Denardo Coleman am
Schlagzeug. Ein Quartett.
Coleman
lässt
damit an sein Original Quartet
der 60er Jahre
denken,
deutet die
Zeit von Prime Time
an,
begibt sich dadurch aber
ebenso in sein jüngstes
Gebiet. Die
Übergänge sind wie fließend. Das harmolodische Gedankengebäude besteht
in Colemans Arbeit
im
Grunde von Anfang an, auch schon im Original Quartet,
wurde aber erst etwa 1972
in
Prime Time theoretisch mit Worten artikuliert
und diskutiert.
Der Grundgedanke ist eine Synthese aus
"harmony",
"movement"
und
"melody"
bzw. "melodic", daraus entsteht die Formel
"harmolodics"
als
ein offenes Spiel, bei dem die Improvisation Form schafft.
Auch in
Saalfelden
ergibt das
ein sich stets veränderndes Klangbild. Immer wieder werden in
diesem Ineinandergehen von Soundflächen und Soundlinien Motivkürzel
eingefügt, die betont oft wiederholt werden. Auch Denardo Colemans
Schlagzeugarbeit ist davon geprägt.
Sie kann
ebenso
einfühlend zurückhaltend
sein
wie härtest
strukturieren und
vorwärtstreiben. Coleman verlangt vom
Musiker wie vom Zuhörer extreme Hörfähigkeit, Bereitschaft zu besonderem
musikalischen Denken. Wobei das Ganze mittlerweile etwas gezähmt wirkt, da
nicht mehr neu, nicht mehr alternativ, längst den Hörgewohnheiten vieler
vertraut. Aber an Ausstrahlungskraft hat der Charismatiker aus Fort Worth
in
Texas nichts eingebüßt.
Sicher hat sich sein Spiel etwas verändert. Weniger
Widerspenstigkeit,
mehr
eine unglaubliche Wärme geht davon aus. Auch im
Dissonanten, Atonalen. Coleman soll ja Kreativität als soziale Botschaft
bezeichnet haben, von Beginn an als Visionär von Weltverbesserung gesprochen
haben. "Harmolodic meint nicht nur Musik. Sie existiert auch im menschlichen
Körper, in dem Sinne, wie das Nervensystem mit dem Wissen korreliert. Es ist
ein Weg wahrzunehmen, wie alles auf alles einwirkt", so Coleman.
Coleman zeigt sich nach
dem Konzert kommunikativ in der Lounge. Ich interviewe ihn spontan mit ein
paar Fragen über harmolodics. Harmolodics, zeitlos, ständig in Wandlung
begriffen, ist eine musikalische Philosophie. Mit
dem
Potential, eine
Weltphilosophie
zu bergen.
Vielleicht
ist es, wie
der CD-Titel
"Sound Grammar" von 2006
es ausdrückt,
eine Art Grammatik dafür.
Gedacht für ein musikphilosophisches Programm,
als
Entwurf zu herrschaftsfreiem Diskurs
und Kollektivität.
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