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Tina Karolina Stauner
tkstauner [at] arcor.de
Tina Karolina Stauner
lebt in München und veröf-
fentlicht nach Ausbildung
beim Werkbund, im Theater
und in Kulturwissenschaften
als freie Autorin und Künstlerin.
Die Absolventin der Münchener
Journalistenakademie schreibt
journalistische und literarische
Texte und arbeitet als visuelle
Künstlerin in/mit mehreren
Medien. Im Bereich des
Kultur- und Musikjournalis-
mus liegen ihre Schwerpunkte
unter anderem bei Themen
wie Free Jazz, Improvisation,
experimentelle Musik, Neue
Musik, Neues Musiktheater,
Avantgarde und Songwriting.
Homepage
memoryvision.tumblr.com
Blog
tkstauner.blogspot.com

Dieter Schnebel:
String Quartets.
(Quatuor Diotima).
NEOS Music, 2013.
ASIN: B00DWW7P60
"Indem nun Zeit zum
Augenblick wird, verwan-
delt sie sich in Raum. Jedes
räumliche Gebilde, jede
räumliche Distanz ist eine
zeitliche, eine Zeiteinheit,
in der die Zeit erstarrt."

Theda Weber-Lucks (Hg.)
Dieter Schnebel: Querden-
ker der musikalischen
Avantgarde.
edition text + kritik, 2015.
ISBN: 978-3869163956.
Kaum stellt man sich
auf einen Rhythmus oder
eine Melodie ein, kommt
ein Abbruch. Stetig wird
Neues begonnen, um
dann immer wieder abrupt
zu enden. Sowohl visuell
als auch akustisch entsteht
eine seltsame Unruhe,
mitten darin ein bisweilen
bedrohlicher Leerraum.
Es gibt nichts, worauf man
sich in Ruhe einlassen
könnte.

Dieter Schnebel.
MO-NO: Musik zum
Lesen – Music to Read.
Edition MusikTexte,
2018.
ISBN: 978-3981331943.

Gisela Nauck.
Dieter Schnebel: Lesegänge
durch Leben und Werk.
Schott Music, 2001.
ISBN: 978-3795703035
Linktipp
http://quatuordiotima.fr
|
D er
Komponist und Musikwissenschaftler Dieter Schnebel lebte von 1930 bis 2018.
Bis 1930 lebte Wladimir Wladimirowitsch Majakowski. "Majakowskis Tod"
heißt eine Oper von Dieter Schnebel, die 2006 in München im Staatstheater am
Gärtnerplatz
in der Regie von Florentine Klepper
inszeniert wurde (Bühnenbild: Chalune Seiberth; musikalische Leitung:
Ekkehard Klemm). Zum Opernbesuch gibt es von mir eine kurze Notiz
– im Unterschied zur Leipziger
Uraufführung und Inszenierung von Achim Freyer, die ich in den 1990er Jahren
besucht hatte:
Im Leipziger Programmheft hieß es: "Wladimir Majakowski, 1893 in
Georgien geboren, beendete sein Leben 1930 in Moskau durch einen
Pistolenschuß ins Herz ...".
In München steht: "Wladimir Majakowski, geb. 1893,
Futurist, Zeichner, Dichter und 'Trommler der Revolution', starb am 14.
April 1930. Warum er sich umbrachte, oder ob er überhaupt freiwillig aus
dem Leben schied, angesichts der Herrschaft Stalins – darauf gibt das
gut einstündige Opernfragment von Dieter Schnebel keine eindeutigen
Antworten ...".
In Leipzig wurde die Oper mit dem vierten Teil
"Totentanz" aufgeführt, der mir besonders stark in Erinnerung blieb. Und
war da nicht die pinkfarbene Tänzerin, die nach der Tänzerfigur des Tod
kam?
In München ist der "Totentanz" nicht mit auf der
Bühne. Das Stück endet nach drei Teilen mit einem ganz kurzen Nachspiel
und einer schwarzen Fläche. In diesem Moment ist für mich der Schluss
und der Blick ins Schwarze ohne den "Totentanz" irritierend abrupt. – Im
Programmheft auf der letzten Seite eine Abbildung von "Schwarzes
Quadrat" (1929) von Kasimir Malewitsch. Auf der Heftrückseite sind dann
noch die Abschlussworte von "Totentanz" abgedruckt: "entschlafen ich –
schlafen wir – Schlaf alle".
Für
den Kulturgeschichtsforscher und Theologen Dieter
Schnebel erwuchs aus Tradition auch futuristische Perspektive, mit
wissenschaftlichen Experimenten und Versuchsanordnungen, avantgardistischen
Musikperformances und Worten als philosophische Tiefendimension. Er war Nachkriegsavantgarde und experimentelle Vokalmusik gehörte
ebenso zu seinem Oeuvre wie Sakralmusik und Oper.
"Indem nun Zeit zum Augenblick wird, verwandelt sie sich
in Raum. Jedes räumliche Gebilde, jede räumliche Distanz ist eine zeitliche,
eine Zeiteinheit, in der die Zeit erstarrt." Mit diesen Worten von Schnebel
werden aktuelle Konzerte von ihm angekündigt. Eine Vertonung des
Schlussmonologs aus James Joyces "Ulysses" und sein Projekt einer Einheit
von Tradition und Avantgarde dynamisieren Vergangenes in Richtung Gegenwart,
evozieren Bilder eines "Wagner-Idylls".
Klangkunstwerk "Im Raum" von Dieter Schnebel
Ü ber
hr2-Konzertsaal wird am 28.06.18 vom hessischen Rundfunk "Im Raum" gesendet,
im Kontext von "Stücke" (1954/55) und "Erinnern
– Wiederholen
– Durcharbeiten" (2000-2007). "Im
Raum" ist ein Werk von Dieter Schnebel, das bereits im Jahr 2009 bei der
Musica Viva im Carl-Orff-Saal im Gasteig aufgeführt wurde. Ich hörte mir das
Konzert an, beobachtete und notierte als ein bisschen Wortkunst einen freien
Wort-Assoziationsraum zu Musik und Bühne:
"Im Raum" (2005/06), das erste Streichquartett des
sogenannten Alt-Avantgardisten Dieter Schnebel, hat einen Beginn, bei dem
ein Streichquartett den ganzen Raum einnimmt. Zwei Musiker auf der Bühne,
zwei im Hintergrund des Zuschauerbereichs. Serielles Material, den ganzen
Carl-Orff-Saal auslotend und Freiraum zum entspannten Atmen schaffend. In
einem Raum, der auch auf die mythische Unterwelt verweist, denn der
anfängliche Tetrachord von Strawinskys Orpheus-Ballett wird betont mit
eingesetzt.
N un
wird Bewegung ins Stück gebracht. Die zwei Streicher im Zuschauerraum gehen
während ihres Spiels auf die Bühne zu, wo sich das Quartett formiert. Und
dies, um ein choreografisches Spiel zu beginnen. Denn so, wie Sätze
unterschiedlicher musikalischer Spielweisen und Arten in der Komposition
auftauchen, zeigen sich auch die Musiker wechselnd in mehr oder weniger
geordneten Gruppierungen. Werden die Streichinstrumente dabei sequenzweise
mit den Fingern wie Perkussioninstrumente benutzt, so werden auch die
Schritte der Musiker, in militärischer Manier aufstampfend, als Rhythmus mit
eingesetzt.
Musikalisch sind da immer wieder Anfänge, von dem was
möglich ist, aber auch Zitate aus der Musikgeschichte. Kaum stellt man sich
dabei auf einen Rhythmus oder eine Melodie ein, kommt ein Abbruch. Stetig
wird Neues begonnen, um dann immer wieder abrupt zu enden. Sowohl visuell
als auch akustisch entsteht eine seltsame Unruhe, mitten darin ein bisweilen
bedrohlicher Leerraum. Es gibt nichts, worauf man sich in Ruhe einlassen
könnte. Antonin Artaud schrieb einmal: "Alles muss haargenau in eine tobende
Ordnung gebracht werden." (aus "Schluss mit dem Gottesgericht")
I m
Carl-Orff-Saal ist es, als wolle Schnebel völlige Unruhe herstellen, etwas
grausam Bedrohliches heraufbeschwören, und doch gleichzeitig wieder
strukturieren, ordnen und bändigen. Einem Dämon zeigen, wer der Herr ist.
Dass jemand wie Artaud als Theaterregisseur bei seiner Arbeit nicht nur bis
an seine Grenzen ging und manchmal auch darüber hinaus und dabei zerstört
wurde, das ist bekannt. Bei seinem Stück "Im Raum" löst Schnebel eine in die
Enge treibende und aufreibende psychologische Dynamik, die konträr zum
Anfang zunehmend von weiten Teilen des Stücks ausgeht, aber wohlweislich
spielerisch auf, in absoluter Nähe zur derzeitigen Szene der freien
Improvisation.
Für Augenblicke
schließlich entsteht eine Melodie, mit der man an den Jazz der 1950er Jahre
erinnert wird, etwas wie ein Geborgenheitsgefühl taucht auf. Und doch:
Indizien dafür, dass Geborgenheit vielleicht doch nichts weiter ist als ein
flüchtiges Gefühl, gibt es im ganzen Stück: Lyrische, romantische
Melodiefragmente sind zwischen Klopfen auf den Instrumentenkorpus, Schlägen
mit dem Bogen in die Luft, dem schleifenden Kratzgeräusch des Cellostachels
auf dem Boden, dem schmerzenden Ton, der beim Entlangstreichen an Kanten
entsteht, dem faschistischen Aufstampfen von Schuhsohlen wie Momente, die
auf eine Vergangenheit verweisen, die eine zum untergehen verdammte Welt
ist. Eine Welt, die dennoch beharrlich präsent bleibt.
Wobei
man sich die Frage stellen kann, ob das Falsche, das Verlogene nun die
biedere Idylle oder die zügellose Freiheit ist. Genau nachlesen kann man im
Programmheft, wie Anfang, Scherzo, Adagio, Finale und Coda aufgebaut sind.
Bis ins Detail beschrieben ist, was musikalisch und szenisch aufgeführt
wird. Doch das wirklich Spannende entsteht beim Sicheinlassen auf die
Freiheit des Assoziationsspielraums, der wie ein Obertonklang über dem
Ganzen wie ein weiterer Raum wahrnehmbare Option ist und nicht
festgeschrieben steht.
Und da ist im
Programmheft auch immer wieder von dem unsichtbaren Fünften die Rede, der zu
Anfang des Stückes als Schattengestalt mit auftaucht. Den ich aber nicht
bemerkte. Ein Doppelgänger? Beobachter? Besucher aus der Unterwelt? Geist
aus höherem Übersinnlichen? Vielleicht erinnert er daran: Es war einmal fast
jenseits von Gut und Böse. Zwei der Musiker ziehen sich zum Schluss
wieder spielend in den Zuschauerraum zurück. Doch der entspannte Klangraum
des Anfangs, dem man trauen wollte, entsteht nicht noch einmal.
M an
muss nicht unbedingt bahnbrechend Neues einsetzen, um den harten Puls der
Zeit zu treffen. Man muss nur genau wissen, was man tut und was andere tun,
um Relevantes widerzuspiegeln, so wie Schnebel es tut.
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