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In Memoriam Dieter Schnebel

"Majakowskis Tod" und das Streichquartett "Im Raum".

Von Tina Karolina Stauner
(25. 06. 2018)

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...

Tina Karolina Stauner
tkstauner [at] arcor.de

Tina Karolina Stauner
lebt in München und veröf-
fentlicht nach Ausbildung
beim Werkbund, im Theater
und in Kulturwissenschaften
als freie Autorin und Künstlerin.
Die Absolventin der Münchener
Journalistenakademie schreibt
journalistische und literarische
Texte und arbeitet als visuelle
Künstlerin in/mit mehreren
Medien. Im Bereich des
Kultur- und Musikjournalis-
mus liegen ihre Schwerpunkte
unter anderem bei Themen
wie Free Jazz, Improvisation,
experimentelle Musik, Neue
Musik, Neues Musiktheater,
Avantgarde und Songwriting.
 

Homepage
memoryvision.tumblr.com

Blog

tkstauner.blogspot.com

 


Dieter Schnebel:
String Quartets.
(Quatuor Diotima).
NEOS Music, 2013.
ASIN: B00DWW7P60

 


"Indem nun Zeit zum
Augenblick wird, verwan-
delt sie sich in Raum. Jedes
räumliche Gebilde, jede
räumliche Distanz ist eine
zeitliche, eine Zeiteinheit,
in der die Zeit erstarrt."

 

 



Theda Weber-Lucks (Hg.)
Dieter Schnebel: Querden-
ker der musikalischen
Avantgarde.

edition text + kritik, 2015.
ISBN: 978-3869163956.

 

 

Kaum stellt man sich
auf einen Rhythmus oder
eine Melodie ein, kommt
ein Abbruch. Stetig wird
Neues begonnen, um
dann immer wieder abrupt
zu enden. Sowohl visuell
als auch akustisch entsteht
eine seltsame Unruhe,
mitten darin ein bisweilen
bedrohlicher Leerraum.
Es gibt nichts, worauf man
sich in Ruhe einlassen
könnte.

 

 

Dieter Schnebel.
MO-NO: Musik zum
Lesen – Music to Read.

Edition MusikTexte, 2018.
ISBN:
978-3981331943.

 

 

Gisela Nauck.
Dieter Schnebel: Lesegänge
durch Leben und Werk.

Schott Music, 2001.
ISBN: 978-3795703035

 

 

Linktipp
http://quatuordiotima.fr

   Der Komponist und Musikwissenschaftler Dieter Schnebel lebte von 1930 bis 2018. Bis 1930 lebte Wladimir Wladimirowitsch Majakowski. "Majakowskis Tod" heißt eine Oper von Dieter Schnebel, die 2006 in München im Staatstheater am Gärtnerplatz in der Regie von Florentine Klepper inszeniert wurde (Bühnenbild: Chalune Seiberth; musikalische Leitung: Ekkehard Klemm). Zum Opernbesuch gibt es von mir eine kurze Notiz – im Unterschied zur Leipziger Uraufführung und Inszenierung von Achim Freyer, die ich in den 1990er Jahren besucht hatte:


Im Leipziger Programmheft hieß es: "Wladimir Majakowski, 1893 in Georgien geboren, beendete sein Leben 1930 in Moskau durch einen Pistolenschuß ins Herz ...".

In München steht: "Wladimir Majakowski, geb. 1893, Futurist, Zeichner, Dichter und 'Trommler der Revolution', starb am 14. April 1930. Warum er sich umbrachte, oder ob er überhaupt freiwillig aus dem Leben schied, angesichts der Herrschaft Stalins – darauf gibt das gut einstündige Opernfragment von Dieter Schnebel keine eindeutigen Antworten ...".

In Leipzig wurde die Oper mit dem vierten Teil "Totentanz" aufgeführt, der mir besonders stark in Erinnerung blieb. Und war da nicht die pinkfarbene Tänzerin, die nach der Tänzerfigur des Tod kam?

In München ist der "Totentanz" nicht mit auf der Bühne. Das Stück endet nach drei Teilen mit einem ganz kurzen Nachspiel und einer schwarzen Fläche. In diesem Moment ist für mich der Schluss und der Blick ins Schwarze ohne den "Totentanz" irritierend abrupt. – Im Programmheft auf der letzten Seite eine Abbildung von "Schwarzes Quadrat" (1929) von Kasimir Malewitsch. Auf der Heftrückseite sind dann noch die Abschlussworte von "Totentanz" abgedruckt: "entschlafen ich – schlafen wir – Schlaf alle".


   Für den Kulturgeschichtsforscher und Theologen Dieter Schnebel erwuchs aus Tradition auch futuristische Perspektive, mit wissenschaftlichen Experimenten und Versuchsanordnungen, avantgardistischen Musikperformances und Worten als philosophische Tiefendimension. Er war Nachkriegsavantgarde und experimentelle Vokalmusik gehörte ebenso zu seinem Oeuvre wie Sakralmusik und Oper.

"Indem nun Zeit zum Augenblick wird, verwandelt sie sich in Raum. Jedes räumliche Gebilde, jede räumliche Distanz ist eine zeitliche, eine Zeiteinheit, in der die Zeit erstarrt." Mit diesen Worten von Schnebel werden aktuelle Konzerte von ihm angekündigt. Eine Vertonung des Schlussmonologs aus James Joyces "Ulysses" und sein Projekt einer Einheit von Tradition und Avantgarde dynamisieren Vergangenes in Richtung Gegenwart, evozieren Bilder eines "Wagner-Idylls".

Klangkunstwerk "Im Raum" von Dieter Schnebel

   Über hr2-Konzertsaal wird am 28.06.18 vom hessischen Rundfunk "Im Raum" gesendet, im Kontext von "Stücke" (1954/55) und "Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten" (2000-2007). "Im Raum" ist ein Werk von Dieter Schnebel, das bereits im Jahr 2009 bei der Musica Viva im Carl-Orff-Saal im Gasteig aufgeführt wurde. Ich hörte mir das Konzert an, beobachtete und notierte als ein bisschen Wortkunst einen freien Wort-Assoziationsraum zu Musik und Bühne:

"Im Raum" (2005/06), das erste Streichquartett des sogenannten Alt-Avantgardisten Dieter Schnebel, hat einen Beginn, bei dem ein Streichquartett den ganzen Raum einnimmt. Zwei Musiker auf der Bühne, zwei im Hintergrund des Zuschauerbereichs. Serielles Material, den ganzen Carl-Orff-Saal auslotend und Freiraum zum entspannten Atmen schaffend. In einem Raum, der auch auf die mythische Unterwelt verweist, denn der anfängliche Tetrachord von Strawinskys Orpheus-Ballett wird betont mit eingesetzt.

   Nun wird Bewegung ins Stück gebracht. Die zwei Streicher im Zuschauerraum gehen während ihres Spiels auf die Bühne zu, wo sich das Quartett formiert. Und dies, um ein choreografisches Spiel zu beginnen. Denn so, wie Sätze unterschiedlicher musikalischer Spielweisen und Arten in der Komposition auftauchen, zeigen sich auch die Musiker wechselnd in mehr oder weniger geordneten Gruppierungen. Werden die Streichinstrumente dabei sequenzweise mit den Fingern wie Perkussioninstrumente benutzt, so werden auch die Schritte der Musiker, in militärischer Manier aufstampfend, als Rhythmus mit eingesetzt.

Musikalisch sind da immer wieder Anfänge, von dem was möglich ist, aber auch Zitate aus der Musikgeschichte. Kaum stellt man sich dabei auf einen Rhythmus oder eine Melodie ein, kommt ein Abbruch. Stetig wird Neues begonnen, um dann immer wieder abrupt zu enden. Sowohl visuell als auch akustisch entsteht eine seltsame Unruhe, mitten darin ein bisweilen bedrohlicher Leerraum. Es gibt nichts, worauf man sich in Ruhe einlassen könnte. Antonin Artaud schrieb einmal: "Alles muss haargenau in eine tobende Ordnung gebracht werden." (aus "Schluss mit dem Gottesgericht")

   Im Carl-Orff-Saal ist es, als wolle Schnebel völlige Unruhe herstellen, etwas grausam Bedrohliches heraufbeschwören, und doch gleichzeitig wieder strukturieren, ordnen und bändigen. Einem Dämon zeigen, wer der Herr ist. Dass jemand wie Artaud als Theaterregisseur bei seiner Arbeit nicht nur bis an seine Grenzen ging und manchmal auch darüber hinaus und dabei zerstört wurde, das ist bekannt. Bei seinem Stück "Im Raum" löst Schnebel eine in die Enge treibende und aufreibende psychologische Dynamik, die konträr zum Anfang zunehmend von weiten Teilen des Stücks ausgeht, aber wohlweislich spielerisch auf, in absoluter Nähe zur derzeitigen Szene der freien Improvisation.

Für Augenblicke schließlich entsteht eine Melodie, mit der man an den Jazz der 1950er Jahre erinnert wird, etwas wie ein Geborgenheitsgefühl taucht auf. Und doch: Indizien dafür, dass Geborgenheit vielleicht doch nichts weiter ist als ein flüchtiges Gefühl, gibt es im ganzen Stück: Lyrische, romantische Melodiefragmente sind zwischen Klopfen auf den Instrumentenkorpus, Schlägen mit dem Bogen in die Luft, dem schleifenden Kratzgeräusch des Cellostachels auf dem Boden, dem schmerzenden Ton, der beim Entlangstreichen an Kanten entsteht, dem faschistischen Aufstampfen von Schuhsohlen wie Momente, die auf eine Vergangenheit verweisen, die eine zum untergehen verdammte Welt ist. Eine Welt, die dennoch beharrlich präsent bleibt.

   Wobei man sich die Frage stellen kann, ob das Falsche, das Verlogene nun die biedere Idylle oder die zügellose Freiheit ist. Genau nachlesen kann man im Programmheft, wie Anfang, Scherzo, Adagio, Finale und Coda aufgebaut sind. Bis ins Detail beschrieben ist, was musikalisch und szenisch aufgeführt wird. Doch das wirklich Spannende entsteht beim Sicheinlassen auf die Freiheit des Assoziationsspielraums, der wie ein Obertonklang über dem Ganzen wie ein weiterer Raum wahrnehmbare Option ist und nicht festgeschrieben steht.

Und da ist im Programmheft auch immer wieder von dem unsichtbaren Fünften die Rede, der zu Anfang des Stückes als Schattengestalt mit auftaucht. Den ich aber nicht bemerkte. Ein Doppelgänger? Beobachter? Besucher aus der Unterwelt? Geist aus höherem Übersinnlichen? Vielleicht erinnert er daran: Es war einmal fast jenseits von Gut und Böse. Zwei der Musiker ziehen sich zum Schluss wieder spielend in den Zuschauerraum zurück. Doch der entspannte Klangraum des Anfangs, dem man trauen wollte, entsteht nicht noch einmal.

   Man muss nicht unbedingt bahnbrechend Neues einsetzen, um den harten Puls der Zeit zu treffen. Man muss nur genau wissen, was man tut und was andere tun, um Relevantes widerzuspiegeln, so wie Schnebel es tut.

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