Das "geheimnisvollste
und tiefste Theaterstück der Weltliteratur" wollte Luc Bondy mit dem
"Lear" in Angriff nehmen, auch wenn es "unmöglich
sei, dieses Stück zu inszenieren … ich will es dennoch riskieren". Wer wagt,
gewinnt – stimmt dieses Sprichwort, das der Roulettetisch längst als
unrichtig entlarvt hat, für den Regiesessel?
Nicht, wenn man das Risiko
wie Luc Bondy nur in die Figurenexegese verlegt und es an einem schlüssig
durchgezogenen Regiekonzept mangeln lässt. Zu unentschlossen erweist sich
der Ansatz des Schweizers, der zwischen Naturalismus und Brechung eben
dieses Anscheins von Wirklichkeit hin und her laviert. Zum einen flattern
wie in einem barocken Zaubertheater von unsichtbaren Windgeneratoren
verwirbelte Blätter in der Sturmnacht auf der Heide, zum anderen füttert in
der Folgeszene der Narr (Birgit Minichmayr) die auf der Bühne exponierte
Windmaschine mit Blättern und stellt so das Artifizielle der Bühnenhandlung
aus. Einmal spielt man antiillusionistisch (bzw. um den Umbau zu überbrücken)
vorm Eisernen Vorhang, dann wieder fliegt das Zelt, das dem irren König und
den in vorgebliches Irrsein abgetauchten jungen Gloster (Philipp Hauß)
Unterschlupf gewährt hat, wie von Geisterhand davon und landet krachend am
Boden. Ein auch symbolischer
Absturz, der auf das dräuende Ende der allermeisten Figuren verweist. Im
Schlussbild sitzt wie zu Stückbeginn der König an der Rampe und hält seine
geliebte jüngste Tochter Cordelia (Adina Vetter) im Arm, die bösen
Schwestern (Andrea Clausen, Caroline Peters) umranken die innige Pietà. Nur
sind sie nun alle tot.
In der genauen
Personenführung, den sorgfältigen Bewegungsarrangements spielt Bondy all
seine Routine aus, wenn er dabei auch mit arg symbolistischen
Überpinselungen gelegentlich nahe am Kitsch vorbeischrammt, etwa wenn
Cordelia im weißen Unschulds-Kleidchen springschnurhüpfend aus dem
Bühnenschwarz hervortritt.
Das Bühnenbild von Richard
Peduzzi mit hohen, verschiebbaren Turm- und Festungs-Elementen und die
präzise Lichtregie (Dominique Bruguière) unterstützen in ihrer
Pittura-Metafisica-Manier diesen Zug ins Symbolische und Mythische, der auf
eine andere Wirklichkeit hinter der vor-gestellten hindeutet. Die Demut und
Dankbarkeit der älteren Schwestern haben sich letztlich ja auch nur als Fassade erwiesen.
Am stärksten ist die
Inszenierung in jenen Momenten, in denen sie ohne viel Schnickschnack bei
ihren Figuren bleibt und diese uns sagen, was sich in ihren Köpfen abspielt.
Ergreifend die Szene, als der geblendete alte Gloster (Martin Schwab) von
seinem redlichen Sohn zu den Klippen von Dover geführt wird, wo er seinem
Leben eine Ende bereiten möchte. Der letale Schritt in die Tiefe erfolgt nur
in Glosters Imagination, tatsächlich befindet er sich nach wie vor auf der
weiten Heide. Hier treten die Stärken des Stücks
hervor: wenn es vormacht, was die Vorstellung ausmachen kann, wenn wir
sehen, wie Blinde sehend werden, wenn Täuschung zum Weiterleben überzeugen
kann,
wenn der verrückte Lear sich vom Geblendeten wie selbstverständlich aus der
Hand lesen lässt … Dafür brauchst du doch keine Augen! Das sind
Sternstunden, wo man Lear in seiner Verrücktheit für voll nimmt. Wo sich
unmittelbare Betroffenheit einstellt. Da braucht es keine
Sturm(musik)-Kulisse. Kulissen aus Worten – word scenery – genügen.
Gert Voss als Lear ist vor
allem im zweiten Akt zu erwartbar verrückt – muss sich Verrücktheit denn
immer in Gebrochenheit und Larmoyanz, kann sie sich nicht etwa in Heiterkeit
ausdrücken? Zu wenig Wandlung erfährt dieser Lear, bleibt ein weinerlicher,
kindischer Greis. Vom gewaltigen Umschlag in den Wahn, ins Außer-sich-Sein
ist wenig zu spüren, damit geht die Spannung flöten. Man kann nicht
wirklich nachvollziehen, warum diese Gestalt über die Jahrhunderte so
fasziniert hat.
Besondere Aufmerksamkeit
schenkt Bondy dem Narren, dessen Lieder hier von Peter Handke übertragen wurden.
Er ist mit rotem Stecktuch und schwarzem Hochwasseranzug neben all den
Figuren in ihren Fantasy- und Musketier-Dressen am "seriösesten"
gekleidet, was durch seine hinkende, verrenkte Gangart merkwürdig
konterkariert wird und vielleicht Verletzlichkeit andeuten soll. Warum hinkt
er? Warum hat Bondy den zeitlos modern daherkommenden Narren nicht ohne die – nahezu olympiareifen –
Verrenkungen einer verwachsenen Gestalt auftreten lassen, womit er ein
Stereotyp bedient bzw. an der historischen Wahrheit kleben bleibt. Dabei
exponiert er die Figur doch sonst so deutlich von ihrem Umfeld.
Nachdrücklich in
Erinnerung bleiben der durchtriebene Oswald von Markus Hering, aber auch
Darsteller wie Philipp Hauß, Caroline Peters, Gerd Böckmann oder Klaus Pohl
in mittelgroßen Rollen.
Die Inszenierung kam bei
der internationalen Kritik sehr gut an, es scheint, als könne man mit
Shakespeare und dem Shakespeare-Zyklus nichts grundlegend falsch machen.
Aber richtig macht man es damit noch lange nicht. |