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Der Hölle Rache kocht in Furth
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"Das Matratzenhaus" von Paulus Hochgatterer – eine Leseempfehlung.

Kristina Werndl
(09. 06. 2010)

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Kristina Werndl
kristina.werndl [at] gmail.com

ist Redakteurin des
Aurora-Magazins.


 

 

Paulus Hochgatterer.
Das Matratzenhaus.
Deuticke, 2010, 296 S.
ISBN: 978-3-552-06112-5

 

 

 

"Eine Mischung aus
Selbstverliebtheit und
Schmierigkeit, eine ausge-
sprochene Tendenz zum
vorauseilenden Angriff
plus die Reaktionsbildung
als dynamisches Grund-
prinzip: Mit dem, was
dir droht, bedrohe die
anderen; mit dem Richter
zum Beispiel oder mit
der Polizei."

 


 

LESEPROBE

"Wir gehen auf dem Land-
ungssteg bis nach vorn zu
den Betonpfeilern mit den
Eisenringen. Links von uns
schwimmen Enten, drei große
und fünf kleine. Eine von den
großen hat ihren Fuß auf den
Rücken gelegt; das sieht
komisch aus. Switi deutet
auf die Enten und macht
schnarrende Geräusche. Vor
uns fahren zwei Boote hin
und her, eines mit einer Reihe
blauer Punkte auf dem Segel,
eines mit einem orangefarb-
enen Streifen. Sie werden
mich suchen, denke ich, sie
werden an die Türen des
Nachbarn klopfen und sie
werden herumtelefonieren. In
ihren Gesichtern wird dabei
eine Mischung aus Angst
und Wut sein.

Auf dem Rückweg erzähle ich
ihr die Geschichte von der
Tochter eines Maharadschas,
die aus dem Palast ihrer Eltern
wegläuft, weil sei sich einge-
sperrt fühlt. Sie findet hundert
Freunde, die sie vor ihrem
grausamen Vater und ihrer
verrückten Mutter beschützen.
Wenn die Soldaten des Vaters
ganz nahe sind, versteckt sie
sich im Kehlsack eines Peli-
kans. Dort riecht es zwar
fürchterlich nach Fisch, aber
keiner entdeckt sie. Wenn der
Pelikan hochsteigt und eine
Runde fliegt, öffnet er den
Schnabel ein wenig und sie
kann durch den Spalt auf die
Stadt hinabschauen, auf die
Häuser, auf den Strand, auf
das Kraftwerk mit seinen
Schloten und auf den Palast,
in den sie nie mehr zurück-
kehren wird."

(Paulus Hochgatter: Das Matratzenhaus S. 62-63)

 

 

 

Hochgatterer eröffnet
mit dem Blick auf die
Kleinstadt einen Blick
weit darüber hinaus, bis
ans indische Meer, wo der
Erzählung nach die Peli-
kane wohnen, die bedrohte
Kinder in ihren Kehl-
säcken forttragen.

   Rache – darum ging es in Paulus Hochgatterers 2006 erschienenem Roman "Die Süße des Lebens", und um den zugrunde liegenden Schmerz. Im Fortsetzungsroman "Das Matratzenhaus", der problemlos für sich alleine stehen kann, ist dieses Motiv ebenfalls zentral:

Revenge, revenge! Timotheus cries,

See the Furies arise!
See the snakes that they rear,
How they hiss in their hair,
And the sparkles that flash from their eyes!

Die bildmächtige Archaik dieser dem Roman vorangestellten Zeilen von John Dryden ist bezeichnend für das Urgefühl der Rache, die ausgelebt immer eine Demonstration und Zeichen an die Außenwelt ist. Oft in ritueller Form wird da ein vielleicht weit zurückliegender Schmerz inszeniert und dem Publikum kunstvoll vor Augen geführt. Rache ist eine aktive Tat, und zu dieser muss man sich erst einmal aufraffen.

   Viele Menschen in Hochgatterers fiktiver Kleinstadt Furth am See haben Grund zur Rache. Böse Dinge geschahen und geschehen dort: Kinder verschwinden, werden geschlagen, verstoßen und missbraucht. Frauen ritzen sich die Pulsadern auf und verzweifelte Jugendliche versuchen sich zu erhängen.

Aus vier Perspektiven wird das Geschehen erzählt. Hochgatterer-Lesern bekannt ist der distanzierte, selbstkritische Psychiater Raffael Horn. Mit ihm zeichnet der Autor ein gewohnt witziges und pointiertes Portrait der ärztlichen Zunft und ihres angesichts des menschlichen Leides vorherrschenden Sarkasmus. Bekannt ist auch Ludwig Kovacs, der eigenbrötlerische Leiter der Further Kriminalpolizei. Er soll das mysteriöse Geschehen vor Ort untersuchen.

   Die Geschichten um diese beiden Männer werden in der dritten Person und in der Vergangenheit erzählt. Trotzdem geben die beiden anhand ihres reflexiven Charakters und Analysevermögens viel von sich und ihrer Welt preis. Wie nebenbei erfährt der Leser zum Beispiel von den charakterlichen Merkmalen männlicher Missbrauchstäter: "Eine Mischung aus Selbstverliebtheit und Schmierigkeit, eine ausgesprochene Tendenz zum vorauseilenden Angriff plus die Reaktionsbildung als dynamisches Grundprinzip: Mit dem, was dir droht, bedrohe die anderen; mit dem Richter zum Beispiel oder mit der Polizei." In diesem Sinn ist die Lektüre lehrhaft und aufklärerisch.

Eine weitere Erzählstimme gehört einer jungen Volksschullehrerin, die mit einem labilen Benediktinerpater liiert ist. Selbst Opfer männlicher Gewalttaten, steht sie den gefährdeten Kindern emotional nahe und spielt bei der Auflösung des Verbrechens eine entscheidende Rolle. Diese Lehrerinnen-Stimme ist Hochgatterer am wenigsten gelungen. Wiewohl man ihre in der Gegenwarts-Form erzählten Passagen gerne liest, tritt hier Hochgatterers Eigenart hervor, etwas undifferenziert alle handelnden Personen mit Witz und Schlagfertigkeit auszustatten – selbst wenn sie diesen Menschen nicht unbedingt zuzutrauen sind.

   Beeindruckend die vierte Erzählstimme: ein halbwüchsiges Mädchen mit indischem Adoptionshintergrund. Das einleitende Kapitel "Wie es gewesen sein muss" schildert in atemberaubend verdichteter Weise den Verkauf eines armen indischen Kindes an westliche Kunden. Dieses Kind – oder ein Kind mit ähnlicher Biographie – landet im so genannten Matratzenhaus in Furth am See, wo es zu einem Opfer eines international operierenden Kinderpornorings wird.

Es verschlägt einem die Sprache, wie Hochgatterer das Leben und Überleben eines solcherart missbrauchten Kindes erzählt: Unmittelbar und ungefiltert spricht die Halbwüchsige mit dem vielklingenden Namen "Fanni" (Englisch funny, fanny) in der Ich-Form zum Leser. Einzelheiten zum Missbrauch selbst erfährt man nicht, aber man sieht – was zumindest ebenso erschüttert –, welche Überlebensstrategien nötig werden, um gegen die erwachsenen Täter anzukommen. "Das Einzige, was wirklich zählt, ist die Augen offen zu halten", belehrt Fanni ihre Adoptivschwester Switi. Fanni entwickelt Ticks um Fluchtwege, erfindet Befreiungsgeschichten um exotische Tiere und holt sich aus dem Internet das Wissen zum finalen Racheschlag.

   Denn Wissen ist Macht. Macht, Ohnmacht und Ermächtigung – diese Trias gesellt sich zum Motivgeflecht um Rache und Schmerz. Geschlagene Väter, die ihre Kinder schlagen, ohnmächtige Kinder, die in einem exakt geplanten Rachefeldzug ihre Opferrolle transformieren. Dass Hochgatterer dies alles in einer österreichischen Kleinstadt ansiedelt, hat ihm zufolge damit zu tun, dass dort die Fallhöhe zwischen oberflächlicher Idylle und untergründiger Grausamkeit besonders hoch ist. Außerdem ist die Kleinstadt ein überschaubares Pflaster für das effektvolle Zusammentreffen der vielen Figuren, die Hochgatterer anhand seiner brillanten Dialoge lebendig werden lässt. Es ist nur mehr eine Frage der Zeit, bis dieser dialogstarke Roman verfilmt wird.

Die Welt ist und bleibt unüberschaubar, und mit seiner erzählperspektivischen Zersplittertheit gibt der Roman das gut wieder. Denn auch wenn sich die Perspektiven untereinander erhellen, bleibt dem Leser bis zum Schluss der beruhigende Durchblick verwehrt. Im Verbund mit Hochgatterers "Cliffhanger-Technik", wo die Erzählstränge an den entscheidenden Stellen abbrechen, erzeugt das einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.

   Dinge und Entwicklungen sind heute nicht mehr an einen Ort gebunden. Das beweisen nicht zuletzt die Vorgänge um den international operierenden Kinderpornoring. Es ist wie in Alejandro González Iñárritus Film "Babel": Dort reist ein Gewehr um die Welt; hier reist eine Kindersex-DVD über die Grenzen von Furth. Hochgatterer eröffnet mit seinem Blick auf die Kleinstadt einen Blick weit darüber hinaus, bis ans indische Meer, wo der Erzählung nach die Pelikane wohnen, die bedrohte Kinder in ihren Kehlsäcken forttragen.

Kritisch angemerkt sei der ärgerliche Einband des Buches: zwei verwaiste, leer schwingende Schaukeln vor Schäfchenwolkenhimmel – ein zur Plattitüde verkommenes Bild für Kindesmissbrauch, wie es in jedem schlechten Fernseh-Feature zu sehen ist. Hier hätte sich der Deuticke Verlag an Hochgatterers fantasiereichere, aber konkrete Bildproduktion halten sollen.


Zuerst erschienen im Online-Buchmagazin
des Literaturhauses Wien

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