Die bildmächtige
Archaik dieser dem Roman vorangestellten Zeilen von John Dryden ist
bezeichnend für das Urgefühl der Rache, die ausgelebt immer eine
Demonstration und Zeichen an die Außenwelt ist. Oft in ritueller Form wird
da ein vielleicht weit zurückliegender Schmerz inszeniert und dem Publikum
kunstvoll vor Augen geführt. Rache ist eine aktive Tat, und zu dieser muss
man sich erst einmal aufraffen.
Viele
Menschen in Hochgatterers fiktiver Kleinstadt Furth am See haben Grund zur
Rache. Böse Dinge geschahen und geschehen dort: Kinder verschwinden, werden
geschlagen, verstoßen und missbraucht. Frauen ritzen sich die Pulsadern auf
und verzweifelte Jugendliche versuchen sich zu erhängen.
Aus vier
Perspektiven wird das Geschehen erzählt. Hochgatterer-Lesern bekannt ist der
distanzierte, selbstkritische Psychiater Raffael Horn. Mit ihm zeichnet der
Autor ein gewohnt witziges und pointiertes Portrait der ärztlichen Zunft und
ihres angesichts des menschlichen Leides vorherrschenden Sarkasmus. Bekannt ist
auch Ludwig Kovacs, der eigenbrötlerische Leiter der Further Kriminalpolizei. Er soll das mysteriöse
Geschehen vor Ort untersuchen.
Die
Geschichten um diese beiden Männer werden in der dritten Person und in der
Vergangenheit erzählt. Trotzdem geben die beiden anhand ihres reflexiven
Charakters und Analysevermögens viel von sich und ihrer Welt
preis. Wie nebenbei erfährt der Leser zum Beispiel von den charakterlichen
Merkmalen männlicher Missbrauchstäter: "Eine Mischung aus Selbstverliebtheit
und Schmierigkeit, eine ausgesprochene Tendenz zum vorauseilenden Angriff
plus die Reaktionsbildung als dynamisches Grundprinzip: Mit dem, was dir
droht, bedrohe die anderen; mit dem Richter zum Beispiel oder mit der
Polizei." In diesem Sinn ist die Lektüre lehrhaft und aufklärerisch.
Eine weitere
Erzählstimme gehört einer jungen Volksschullehrerin, die mit einem labilen
Benediktinerpater liiert ist. Selbst Opfer männlicher Gewalttaten, steht sie
den gefährdeten Kindern emotional nahe und spielt bei der Auflösung des
Verbrechens eine entscheidende Rolle. Diese Lehrerinnen-Stimme ist
Hochgatterer am wenigsten gelungen. Wiewohl man ihre in der Gegenwarts-Form
erzählten Passagen gerne liest, tritt hier Hochgatterers Eigenart hervor,
etwas undifferenziert alle handelnden Personen mit Witz und Schlagfertigkeit
auszustatten – selbst wenn sie diesen Menschen nicht unbedingt zuzutrauen
sind.
Beeindruckend
die vierte Erzählstimme: ein halbwüchsiges Mädchen mit indischem
Adoptionshintergrund. Das einleitende Kapitel "Wie es gewesen sein muss"
schildert in atemberaubend verdichteter Weise den Verkauf eines armen
indischen Kindes an westliche Kunden. Dieses Kind – oder ein Kind mit
ähnlicher Biographie – landet im so genannten Matratzenhaus in Furth am See,
wo es zu einem Opfer eines international operierenden Kinderpornorings wird.
Es verschlägt
einem die Sprache, wie Hochgatterer das Leben und Überleben eines solcherart
missbrauchten Kindes erzählt: Unmittelbar und ungefiltert spricht die
Halbwüchsige mit dem vielklingenden Namen "Fanni" (Englisch funny, fanny)
in der Ich-Form zum Leser. Einzelheiten zum Missbrauch selbst erfährt man
nicht, aber man sieht – was zumindest ebenso erschüttert –, welche
Überlebensstrategien nötig werden, um gegen die erwachsenen Täter
anzukommen. "Das Einzige, was wirklich zählt, ist die Augen offen zu
halten", belehrt Fanni ihre Adoptivschwester Switi. Fanni entwickelt Ticks
um Fluchtwege, erfindet Befreiungsgeschichten um exotische Tiere und holt
sich aus dem Internet das Wissen zum finalen Racheschlag.
Denn
Wissen ist Macht. Macht, Ohnmacht und Ermächtigung – diese Trias gesellt
sich zum Motivgeflecht um Rache und Schmerz. Geschlagene Väter, die ihre
Kinder schlagen, ohnmächtige Kinder, die in einem exakt geplanten
Rachefeldzug ihre Opferrolle transformieren. Dass Hochgatterer dies alles in
einer österreichischen Kleinstadt ansiedelt, hat ihm zufolge damit zu tun,
dass dort die Fallhöhe zwischen oberflächlicher Idylle und untergründiger
Grausamkeit besonders hoch ist. Außerdem ist die Kleinstadt ein
überschaubares Pflaster für das effektvolle Zusammentreffen der vielen
Figuren, die Hochgatterer anhand seiner brillanten Dialoge lebendig werden
lässt. Es ist nur mehr eine Frage der Zeit, bis dieser dialogstarke Roman
verfilmt wird.
Die Welt ist und
bleibt unüberschaubar, und mit seiner erzählperspektivischen
Zersplittertheit gibt der Roman das gut wieder. Denn auch wenn sich die
Perspektiven untereinander erhellen, bleibt dem Leser bis zum Schluss der
beruhigende Durchblick verwehrt. Im Verbund mit Hochgatterers
"Cliffhanger-Technik", wo die Erzählstränge an den entscheidenden Stellen
abbrechen, erzeugt das einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann.
Dinge
und Entwicklungen sind heute nicht mehr an einen Ort gebunden. Das beweisen
nicht zuletzt
die Vorgänge um den international operierenden Kinderpornoring.
Es ist wie in Alejandro González Iñárritus Film "Babel": Dort reist ein
Gewehr um die Welt; hier reist eine Kindersex-DVD über die Grenzen von
Furth. Hochgatterer eröffnet mit seinem Blick auf die Kleinstadt einen Blick
weit darüber hinaus, bis ans indische Meer, wo der Erzählung nach die
Pelikane wohnen, die bedrohte Kinder in ihren Kehlsäcken forttragen.
Kritisch
angemerkt sei der ärgerliche Einband des Buches: zwei verwaiste, leer
schwingende Schaukeln vor Schäfchenwolkenhimmel – ein zur Plattitüde
verkommenes Bild für Kindesmissbrauch, wie es in jedem schlechten
Fernseh-Feature zu sehen ist. Hier hätte sich der Deuticke Verlag an
Hochgatterers fantasiereichere, aber konkrete Bildproduktion halten sollen.
Zuerst erschienen im Online-Buchmagazin
des
Literaturhauses Wien