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Heinrich Steinfest: Der Allesforscher
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In seinem jüngsten Roman erweist sich Heinrich Steinfest neuerlich als Meister
der überraschenden Plot- und Figurenentwicklung. Rund um seinen jungen Helden
Sixten Braun erschafft der Autor einen Schwarm an faszinierenden Gestalten. Atmosphärisch
zu spüren ist dabei eine nicht religiöse, eher schon pantheistisch anmutende Humanität, die
sich vorrangig aus der Wertschätzung der Einmaligkeit der Menschenwesen und ihrer
vielgestaltigen Bindungen ergibt. Das färbt ab, öffnet Herz und Hirn des
Lesers für die verborgene Poesie der Welt.

Von Kristina Werndl
(26. 08. 2014)

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Kristina Werndl
kristina.werndl [at] gmail.com

ist Redakteurin des
Aurora-Magazins.

 

 

 

Heinrich Steinfest.
Der Allesforscher.
Piper, 2014, 400 S.
ISBN: 978-3-492-05408-9.

 

 

Im "Allesforscher" verleiht
Steinfest seinem litera-
rischen Schöpfungsakt
einen wunderbar uni-
versalistischen Anstrich
und eine Stoßrichtung,
die ihn gewissermaßen
in die Tradition mancher
deutscher Romantiker
stellt.

 

 


(c) Wikipedia

Heinrich Steinfest
(geb. 1961) wurde mehrfach
mit dem Deutschen Krimi-
preis ausgezeichnet, erhielt
den Stuttgarter Krimipreis
2009 und den Heimito-von-
Doderer-Preis. "Ein dickes
Fell" wurde für den Deutschen
Buchpreis 2006 nominiert.
Zuletzt erschienen seine
Romane "Die Haischwim-
merin" und "Das himmli-
sche Kind".

 

 

   Was ist ein Allesforscher? Ein Mensch, der das Alles erforscht oder einer, der alles erforscht? So sinniert der heranwachsende Sixten Braun, die Hauptfigur in Heinrich Steinfests jüngstem Roman. Er entdeckt einen Allesforscher im alten, einsamen Gelehrten, der im Dachgeschoss über der elterlichen Wohnung in Köln lebt. Dieser macht den kleinbürgerlich erzogenen Sixten mit klassischer Musik wie auch mit den "sichtbaren Gewändern des Normalen" und den "unsichtbaren des Paranormalen" bekannt. Erst nach Managerjahren im "Fahrwasser der Normalität" lassen Sixten ein eigenartiger Unfall und eine anschließende schicksalhafte Begegnung in Taiwan in eine Umlaufbahn einschwenken, in der die Allesforschung, und damit die Vermischung von Traum- und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, Tier- und Menschenwelten, wieder in den Blick rückt.

Erneut stellt Steinfest im "Allesforscher" seine Meisterschaft der überraschenden Plot- und Figurenentwicklung unter Beweis: Er lässt Sixten Braun, der zum wohlgestalten Bademeister in Stuttgart avanciert, ein Büblein aus Taiwan zuwachsen, das ihm als sein biologisches verkauft wird und zu dem er trotz besseren Wissens Ja sagt. Diese Verbindung von Sixten und seinem baldigen Adoptivsohn Simon ist eine von vielen wundersamen Beziehungen, an deren Entwicklung und beglückender Einmaligkeit uns Steinfest teilhaben lässt. Wie so oft stellt er das Vertraute auf den Kopf, so sind es etwa die Kinder, die den Erwachsenen in schwierigen Situationen die Hand halten, und nicht umgekehrt. Simon, der nur seine eigene Kunstsprache spricht und auch mit seinem unglaublichen Kletter- und Zeichentalent ein Solitär ist, rückt für Sixten zunehmend in den Dunstkreis der Allesforschung. In Simons Gravitationsfeld bewegt sich ein Schwarm faszinierender Gestalten, die Steinfest mit großer Kunstfertigkeit aus der Ursuppe des Erzählens schöpft. Denn am Anfang seines Buches sei, so Steinfest im Epilog, allein das Wort "Allesforscher" gewesen, in die Welt gekommen, um ihm als Romantitel zu dienen ...

   Uns Lesern drängt sich freilich ein weiterer Gedanke auf: der des Autors als Allesforscher. Die Denkfigur vom Dichter als Schöpfer fiktiver Welten, als Erforscher unterschiedlicher Figuren-Psychen ist altbekannt. Im "Allesforscher" allerdings verleiht Steinfest seinem literarischen Schöpfungsakt einen wunderbar universalistischen Anstrich und eine Stoßrichtung, die ihn gewissermaßen in die Tradition mancher deutscher Romantiker stellt. Formal betrachtet finden sich da ein Erzählrahmen, in dem der Autor spricht, ebenso unterschiedlich fokussierte Buch-Teile mit einem teilweise unzuverlässigen Ich-Erzähler, glänzende Dialoge und Sätze, die mit amüsanten und erhellenden Vergleichen erfreuen.

Amöbenhafte Zeichnungen von Steinfest treiben wie zufällig durch das Buchstabenmeer, Kritzel-Plankton, das im ersten Moment ein Wiedererkennen von Vertrautem verspricht, beim zweiten Hinsehen aber schon wieder an Eindeutigkeit verliert und den Lesenden in einem wohlig fortplätschernden Rätsel zurücklässt. Inhaltlich verströmt der Roman eine nicht religiöse, eher schon pantheistisch anmutende Humanität, die sich vorrangig aus der Wertschätzung der Einmaligkeit der Menschenwesen und ihrer vielgestaltigen Bindungen ergibt. Das färbt ab, öffnet Herz und Hirn des Lesers für die verborgene Poesie der Welt. Mit gutem Recht hätte Eichendorffs Gedicht "Wünschelrute" im Roman abgedruckt werden können.

   Metamorphose, Entgrenzung, Zufall, Schöpfung, alles dies findet auf inhaltlicher bzw. gestalterischer Ebene im Roman Platz. Dabei ist dieser mitnichten schwurbelig-esoterisch, sondern leichtfüßig, elegant und lustig zu lesen. Fast zwei Jahrzehnte Autorschaft haben Steinfest ein gut austariertes, bis zuletzt die Spannung haltendes Buch schreiben lassen, an dem es nur zu bemängeln gibt, dass nach 400 Seiten Schluss ist.


Zuerst erschienen im Online-Buchmagazin
des Literaturhauses Wien.

 

Leseprobe:

Der Beginn eines jeden Buches leidet unter einem großen Manko: Es fehlt die Musik.

Wie gut hat es da der Film, dessen Vorspann getragen wird von einer klanglichen Ouvertüre, die verspricht, was nachher erfüllt wird oder nicht, aber in jedem Fall den Zuseher augenblicklich in ihren Bann zieht, augenblicklich eine Aufregung, eine Rührung oder ein Staunen hervorruft. [...] In der Art, wie man ohne jede Vorwarnung einen Kuß erhält oder eine Ohrfeige. Ein Buchumschlag oder Prolog ist dagegen schwächlich. Ein kleines Zittern im Vergleich zum Schüttelfrost. [...]

Ich würde viel darum geben, könnte ich der Geschichte, die hier zu erzählen ist, eine Einleitung verleihen, die mit Musik und verdichteten Bildern unterlegt wird, Bildern, vor deren Hintergrund Personen oder Dinge auftauchen und verschwinden gleich Geistern. Geistern von Bedeutung.

Wie würde ich diese Eröffnungssequenz umsetzen? Welche Musik verwenden? Eine klassische oder eher eine dieser Zwölftonkompositionen, die an unseren Nerven zerren? Aber eben ganz anders, als viele es im Konzertsaal empfinden, dort die Nerven tötend, beim Vorspann hingegen in der Tat an ihnen ziehend: eine Spannung erzeugend.

Ja, ich denke, ich würde etwas von Schönberg nehmen. Und dazu anfangs völlig uneindeutige dunkle Bilder, in die sich nach und nach helle, bläuliche Flecken mischen und den Zuseher begreifen lassen, auf eine in Zeitlupe ablaufende Unterwasserszene zu schauen. Schlußendlich realisiert das Publikum, daß es sich um ein mächtiges Wesen oder Objekt handeln muß, welches hier durchs Wasser gleitet. Keinen Hai, eher ein U-Boot oder einen Wal oder schwimmenden Elefanten, vielleicht auch ein versinkendes Schiff. So klar soll das jetzt noch gar nicht werden, weil der Vorspann etwas verspricht, aber nicht verrät. Ein riesiges Ding eben. Riesig und dennoch verletzlich, zumindest wird diese Verletzlichkeit in einer letzten Einstellung angedeutet, dann, wenn der Name des Regisseurs auf der Leinwand sichtbar wird. Wie bei einer umgekehrten Schöpfung, wo der Name des Schöpfers den Schluß der Schöpfung bildet. Beinahe im Stil einer Geständnisses, einer Reue, einer Abbitte. Ein Gott, der sich entschuldigt.

Seiten 7-9, (c) Piper Verlag.

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