Was
ist ein Allesforscher? Ein Mensch, der das Alles erforscht oder
einer, der alles erforscht? So sinniert der heranwachsende Sixten
Braun, die Hauptfigur in Heinrich Steinfests jüngstem Roman. Er entdeckt
einen Allesforscher im alten, einsamen Gelehrten, der im Dachgeschoss über
der elterlichen Wohnung in Köln lebt. Dieser macht den kleinbürgerlich
erzogenen Sixten mit klassischer Musik wie auch mit den "sichtbaren
Gewändern des Normalen" und den "unsichtbaren des Paranormalen" bekannt.
Erst nach Managerjahren im "Fahrwasser der Normalität" lassen Sixten ein
eigenartiger Unfall und eine anschließende schicksalhafte Begegnung in
Taiwan in eine Umlaufbahn einschwenken, in der die Allesforschung, und damit
die Vermischung von Traum- und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart,
Tier- und Menschenwelten, wieder in den Blick rückt.
Erneut stellt
Steinfest im "Allesforscher" seine Meisterschaft der überraschenden Plot-
und Figurenentwicklung unter Beweis: Er lässt Sixten Braun, der zum
wohlgestalten Bademeister in Stuttgart avanciert, ein Büblein aus Taiwan
zuwachsen, das ihm als sein biologisches verkauft wird und zu dem er trotz
besseren Wissens Ja sagt. Diese Verbindung von Sixten und seinem baldigen
Adoptivsohn Simon ist eine von vielen wundersamen Beziehungen, an deren
Entwicklung und beglückender Einmaligkeit uns Steinfest teilhaben lässt. Wie
so oft stellt er das Vertraute auf den Kopf, so sind es etwa die Kinder, die
den Erwachsenen in schwierigen Situationen die Hand halten, und nicht
umgekehrt. Simon, der nur seine eigene Kunstsprache spricht und auch mit
seinem unglaublichen Kletter- und Zeichentalent ein Solitär ist, rückt für
Sixten zunehmend in den Dunstkreis der Allesforschung. In Simons
Gravitationsfeld bewegt sich ein Schwarm faszinierender Gestalten, die
Steinfest mit großer Kunstfertigkeit aus der Ursuppe des Erzählens schöpft.
Denn am Anfang seines Buches sei, so Steinfest im Epilog, allein das Wort
"Allesforscher" gewesen, in die Welt gekommen, um ihm als Romantitel zu
dienen ...
Uns Lesern
drängt sich freilich ein weiterer Gedanke auf: der des Autors als
Allesforscher. Die Denkfigur vom Dichter als Schöpfer fiktiver Welten, als
Erforscher unterschiedlicher Figuren-Psychen ist altbekannt. Im
"Allesforscher" allerdings verleiht Steinfest seinem literarischen
Schöpfungsakt einen wunderbar universalistischen Anstrich und eine
Stoßrichtung, die ihn gewissermaßen in die Tradition mancher deutscher
Romantiker stellt. Formal betrachtet finden sich da ein Erzählrahmen, in dem
der Autor spricht, ebenso unterschiedlich fokussierte Buch-Teile mit einem
teilweise unzuverlässigen Ich-Erzähler, glänzende Dialoge und Sätze, die mit
amüsanten und erhellenden Vergleichen erfreuen.
Amöbenhafte
Zeichnungen von Steinfest treiben wie zufällig durch das Buchstabenmeer,
Kritzel-Plankton, das im ersten Moment ein Wiedererkennen von Vertrautem
verspricht, beim zweiten Hinsehen aber schon wieder an Eindeutigkeit
verliert und den Lesenden in einem wohlig fortplätschernden Rätsel
zurücklässt. Inhaltlich verströmt der Roman eine nicht religiöse, eher schon
pantheistisch anmutende Humanität, die sich vorrangig aus der Wertschätzung
der Einmaligkeit der Menschenwesen und ihrer vielgestaltigen Bindungen
ergibt. Das färbt ab, öffnet Herz und Hirn des Lesers für die verborgene
Poesie der Welt. Mit gutem Recht hätte Eichendorffs Gedicht "Wünschelrute"
im Roman abgedruckt werden können.
Metamorphose,
Entgrenzung, Zufall, Schöpfung, alles dies findet auf inhaltlicher bzw.
gestalterischer Ebene im Roman Platz. Dabei ist dieser mitnichten
schwurbelig-esoterisch, sondern leichtfüßig, elegant und lustig zu lesen.
Fast zwei Jahrzehnte Autorschaft haben Steinfest ein gut austariertes, bis
zuletzt die Spannung haltendes Buch schreiben lassen, an dem es nur zu
bemängeln gibt, dass nach 400 Seiten Schluss ist.
Zuerst erschienen im Online-Buchmagazin
des Literaturhauses Wien.
Leseprobe:
Der Beginn eines jeden Buches leidet unter einem
großen Manko: Es fehlt die Musik.
Wie gut hat es da der Film, dessen Vorspann
getragen wird von einer klanglichen Ouvertüre, die verspricht, was nachher
erfüllt wird oder nicht, aber in jedem Fall den Zuseher augenblicklich in
ihren Bann zieht, augenblicklich eine Aufregung, eine Rührung oder ein
Staunen hervorruft. [...] In der Art, wie man ohne jede Vorwarnung einen Kuß
erhält oder eine Ohrfeige. Ein Buchumschlag oder Prolog ist dagegen
schwächlich. Ein kleines Zittern im Vergleich zum Schüttelfrost. [...]
Ich würde viel darum geben, könnte ich der
Geschichte, die hier zu erzählen ist, eine Einleitung verleihen, die mit
Musik und verdichteten Bildern unterlegt wird, Bildern, vor deren
Hintergrund Personen oder Dinge auftauchen und verschwinden gleich Geistern.
Geistern von Bedeutung.
Wie würde ich diese Eröffnungssequenz umsetzen?
Welche Musik verwenden? Eine klassische oder eher eine dieser
Zwölftonkompositionen, die an unseren Nerven zerren? Aber eben ganz anders,
als viele es im Konzertsaal empfinden, dort die Nerven tötend, beim Vorspann
hingegen in der Tat an ihnen ziehend: eine Spannung erzeugend.
Ja, ich denke, ich würde etwas von Schönberg
nehmen. Und dazu anfangs völlig uneindeutige dunkle Bilder, in die sich nach
und nach helle, bläuliche Flecken mischen und den Zuseher begreifen lassen,
auf eine in Zeitlupe ablaufende Unterwasserszene zu schauen. Schlußendlich
realisiert das Publikum, daß es sich um ein mächtiges Wesen oder Objekt
handeln muß, welches hier durchs Wasser gleitet. Keinen Hai, eher ein U-Boot
oder einen Wal oder schwimmenden Elefanten, vielleicht auch ein versinkendes
Schiff. So klar soll das jetzt noch gar nicht werden, weil der Vorspann
etwas verspricht, aber nicht verrät. Ein riesiges Ding eben.
Riesig und dennoch verletzlich, zumindest wird diese Verletzlichkeit in
einer letzten Einstellung angedeutet, dann, wenn der Name des Regisseurs auf
der Leinwand sichtbar wird. Wie bei einer umgekehrten Schöpfung, wo der Name
des Schöpfers den Schluß der Schöpfung bildet. Beinahe im Stil einer
Geständnisses, einer Reue, einer Abbitte. Ein Gott, der sich entschuldigt.