Man
will sich auskennen, sich zurechtfinden. Nirgendwo sonst wird der Verlust an
Orientierung so spürbar wie in einer fremden Stadt. Angst und Neugier
zwingen einen zum Gehen. In meinen schlimmsten Träumen laufe ich durch eine
Straße, die mir gut bekannt ist, aber jedes Mal, wenn ich an ihrem Ende
angelangt bin oder auch einfach nur in die nächste Seitenstraße abbiege,
beginnt diese Straße wieder von vorne.
Jedes Ding und
jeder Mensch hat seinen eigenen Albtraum:
"Der Albtraum
des Cd-Players ist die Repeat-Taste. Der Albtraum des Micky-Maus-Heftes
ist, dass Tick, Trick und Track herausspringen könnten. Der Albtraum
eines Apfels ist, an einem nummerierten Baum zu wachsen. Der Albtraum
eines Textes ist ein wahrer Satz am falschen Ort." (Elmar Tannert: Der
Stadtverwalter).
Elmar Tannerts
Blick auf Nürnberg ist nicht der des Flaneurs. Er gibt sich nicht dem
Vergnügen hin, mit seinen Figuren absichtslos durch die Stadt zu schlendern,
zu sehen, sich treiben zu lassen. Bei Walter Benjamin wird der Flaneur von
anderen gerne wie ein möglicher Taschendieb beäugt. Tannerts Stadtvermesser
aber würde als Wahnsinnger gesehen werden, gäbe er sich zu erkennen. Der
Stadtvermesser sieht seine Stadt nicht in ironischer Distanz, sondern ist
mittendrin im großen Organismus, der vor sich hinwabert und der ihn schon
lange verschlungen hat. Kein Mensch weiß, wie dieser Auswuchs an
Zivilisation funktioniert und warum er überhaupt funktioniert. "Der
Stadtvermesser" ist keine topographische, sondern Gefühlsbeschreibung. Es
vermischen sich viele Bilder mit einem Gedanken, so als ob es irgendwie
stimmen könnte:
"Jedesmal,
wenn ich als Fußgänger durch eine Fußgängerunterführung gehen soll, weil
ich unter den Autos durch muss, komme ich mir entwürdigt vor." Oder: "Es
gibt drei Städte auf der Welt, die gesehen werden müssen, um zu leben:
Nürnberg, Prag, und die dritte habe ich vergessen."
Wels?
–
Das Glänzende, Neue, Fröhliche einer Stadt ist nicht mehr als die bröckelnde
Fassade einer Uraltwüste, in der jede ursprüngliche Anordnung unter Abrissen
verschwindet. Tannerts Stadtvermesser ist kein Flaneur, er ist Maßeinheit
und Instrument. Das Messen ist das Wahrnehmen und Empfinden von etwas. Und
als Instrument steckt der Mensch in der permanenten Gegenwärtigkeit des
Geräusches, die der Organismus Stadt abgibt, und er hat einfach dazusein wie
alles andere. Im Kapitel "Katastrophe" wird der Stadtvermesser vom
Bürgermeister entlassen, weil er als geborener Linkshänder und umgeschulter
Rechtshänder durch Überlastung seiner linken Gehirnhälfte Nürnberg leider
seitenverkehrt vermessen hat und daher alles neu interpretiert werden muss.
Der Berührungspunkt oder die Wahlverwandtschaft zwischen dem Autor Tannert
und dem Modellbauer Wanoth: immer Heimweh haben (schöner im Englischen:
homesick).
Bei Fredder
Wanoth heißt Stadt aber auch: Form werden! Modellbau als Denkmodell
und als Kunstform. Schon Otto Wagner sah Architektur als Symbiose zwischen
Kunst und Technik, den Architekten zwischen Gott und bildendem Künstler. Mit
Materialen, die "nicht mehr gebraucht werden" (und eben nicht Abfall!)
schafft Wanoth unfertige oder immer wieder umgebaute Modelle als Antipathos,
vielleicht auch aus Angst vor der der Vollendung, nach der nichts mehr
kommen kann. Das Modell einer kompletten Stadt ist bis heute Plan geblieben.
Aber "Planung ist letztlich nichts anderes als der Ersatz des Zufalls durch
die Willkür." Die ausgestellten Objekte beziehen sich immer auf einzelne
Häuser verschiedener Städte der ganzen Welt, vorliebend osteuropäische. Sie
sind deformiert, in jedem Modell finden sich zwei und mehr Maßstäbe, die den
Betrachter zwingen, die Objekte neu wahrzunehmen, um sie erkennen zu können.
Sie heißen zum Beispiel: "Die Unentschlossenheit Otto Wagners beim Entwurf
der Wiener Ring- und Vorortbahnen.", "Nürnberger Altlast" oder "Ein leider
missglückter Eiffelturm". Auf die Frage, wie tauglich Ironie als Mittel
gegen Pathos ist, meint Wanoth lakonisch: "Ironie ist eine
Selbstverteidigungsmethode."
Wanoths
Stadtbild der Zukunft, damit es nicht zu vollendeten Glaspalästen und Slums
gleich um die Ecke kommt, ist das der Improvisation, die eine
Auseinandersetzung mit und auch zwischen den einzelnen Bauträgern zulässt.
Kein grüner Tisch, von dem herunterbestimmt wird. Denn selbst Hitler und
Speer haben leidenschaftlich Modelle gebaut, für den Nürnberger Kongressbau
sogar einmal ein 1:1 Segment aus Sperrholz. Daran sieht man aber nur, so
Wanoth, dass die Nazis keinerlei Vertrauen in die Phantasie hatten. Dagegen
entspricht Wanoths Städtevision einem Satz von Bert Brecht:
"Ich wünsche
der großen und lebendigen Stadt, daß ihre Intelligenz, ihre Tapferkeit
und ihr schlechtes Gedächtnis, also ihre revolutionärsten Eigenschaften,
gesund bleiben."