Blitzartig
geht das Licht im Haus der Berliner Festspiele aus. Und damit verstummt auf
Anhieb das Gemurmel im Publikum. Schrittweise schreitet eine in Schwarz
gekleidete Gestalt quer über die leere Bühne. Der zarte Lichtstrahl verrät
in der Dunkelheit nur die kleine menschliche Figur. Es ist Medeas Amme. Sie
scheint eine Ameise zu sein, erst recht im Vergleich zur bühnenhohen Wand im
entfernten Hintergrund. Und dann erscheint Medea, genauso klein, auf der
hohen Wandkante.
Medea
war der Auftakt zur 50. Auflage des Berliner Theatertreffens. 1964 als
"Schaufenster des Westens" entstanden, steht es heute als "kultureller
Leuchtturm" da. Vor fünfzig Jahren sollte, wie das Gründungsdokument
festhält, "der Versuch gemacht werden […] nicht nur ein Bild vom Stand des
deutschsprachigen Theaters zu geben, sondern auch die wegen Isolierung der
einzelnen Theaterstädte voneinander so notwendige Möglichkeit des Vergleichs
zu schaffen."
Die Frage nach Schuld und Moral
Von
den fünf Inszenierungen, die ich gesehen habe (zehn waren es insgesamt), war
Medea mit Sicherheit eine der strahlendsten und markantesten Präsenzen.
Nicht umsonst erhielt die Hauptdarstellerin den Gertrud-Eysoldt-Ring 2012,
einen der bedeutendsten Theaterpreise im deutschsprachigen Raum. Jedoch
nicht nur Constanze Beckers Spiel begeisterte das Publikum. Wie schon bei
der beeindruckenden Inszenierung von Elektra im Wiener Burgtheater,
reduzieren Regisseur Michael Thalheimer und Bühnenbildner Olaf Altmann den
Raum auf ein minimalistisches Bild. Dem Regisseur gelingt ein einzigartiges
Spiel aus Licht und Schatten, ein hervorragendes Wechselspiel zwischen
Körperhaltung und Text.
In ähnlicher
Weise bemerkenswert war Luk Percevals Inszenierung von Jeder stirbt für
sich allein. "Was mich bei Hans Falladas Romanadaption am stärksten
inspiriert hat", sagt Hendrike Terheyden, "war das stark reduzierte
Bühnenbild, die Wand mit den Haushaltsgeräten, von denen ich dann gelernt
habe, dass diese tatsächlich Relikte aus der NS-Zeit sind. Die aus dieser
Zeit stammenden Objekte haben für mich ein starkes Bild ergeben, weil sie so
angeordnet waren wie die Straßenzüge und Häuser in Google-Maps. Der
Dualismus zwischen Öffentlichkeit und Privatem, der sich durch das ganze
Stück zog, hat sich für mich in diesem von Annette Kurz entworfenen
Bühnenbild so krass kristallisiert." Hendrike Terheyden, Teil der
diesjährigen TT-Blogredaktion, begleitete das Festival in der innovativen
journalistischen Form der gezeichneten Aufführungskritik.
Auf die Frage
der großen inhaltlichen Themen beim Theatertreffen meinte sie: "Die Frage
nach Schuld und Moral zieht sich meiner Ansicht nach durch das ganze
Festival. Vor allem bei Medea stellt sich die Problematik der Schuld,
der Begründung der Taten." Zwei weitere Inszenierungen − Krieg und
Frieden (Regie: Sebastian Hartmann) und Die Strasse. Die Stadt. Der
Überfall (Regie: Johan Simons) − schienen dieses Zentralthema ebenfalls
hervorzuheben. Alleine Murmel Murmel (Regie: Herbert Fritsch) ragte
aus dem Mainstream heraus. Die farbenfrohe, siebzigminütige Aufführung
sprühte vor ansteckendem Witz und Slapstick. Im Sekundentakt bewegten sich
die elf Darsteller. Und hier brillierte ihre Koordination in einer ganz
eigenen Ästhetik. "Auch bei Murmel Murmel hatte ich das Gefühl der
Frage der Moral. Was bedeutet es, wenn ich die ganze Zeit viel rede und
große Gesten mache, mich in bestimmten Bewegungs- und Inszenierungsschemata
darstelle? Was bedeutet es, wenn ich dabei immer nur 'Murmel Murmel' sage?
Hat also mein Tun Konsequenzen? Kann ich mich dadurch schuldig machen oder
verwehre ich mich? Für den Autor hat dies, glaube ich, keine Rolle gespielt.
Aber ich hatte den Eindruck, dass sich diese Schuldfrage durch das Festival
zieht. Das ist dann interessant, wenn man überlegt, dass die Jury nicht mit
einem kuratorischen Konzept herangegangen ist, sondern eben, dass es sich
quasi zusammenfügt", widersprach mir Hendrike.
Zeitreise in die Vergangenheit
Doch
nicht nur die Inszenierungen setzten spannende Akzente. Auch die
zusätzlichen Programmpunkte sorgten im heurigen
Jubiläumsjahr für besondere Stimmung.
Zu den Highlights gehörten unter anderem eine Video-Bustour, ein Fest sowie
die Spezialedition zur 35. Auflage des Stückemarkts, der Plattform zur
Förderung zeitgenössischer Dramatik. Gerne erinnert man sich
daran, dass zur ersten Ausgabe 1978 auch eine Wiener Musikstudentin namens
Elfriede Jelinek eingeladen war. Darüber hinaus fand
im geschichtsträchtigen Ort der
Pan-Am-Lounge ein dreitägiges
Site-Specific-Projekt statt. Dabei wurden Lesungen, Installationen und
Hörspiele zum Thema "Verfall und Untergang der westlichen Zivilisation?"
präsentiert.
Der absolute
Höhepunkt meines einwöchigen Aufenthaltes in Berlin
war jedoch
die Fahrt durch die Berliner
Theatergeschichte. Denn als Kind des Kalten Krieges ist das Theatertreffen
ein Geschichtsvermittler. Die mit je drei Videomonitoren ausgestatteten
Busse boten nicht nur eine einmalige Stadttour, sondern vielmehr eine
Rückschau auf berühmte Inszenierungen, die Furore gemacht haben. Vom
Schillertheater im Herzen Charlottenburgs ging die multimediale Reise in die
Vergangenheit immer weiter Richtung Osten. Vorbei am Grips-Theater und an
der Akademie der Künste. Besonders gefühlsbeladen gestaltete sich der
Übergang vom westlichen in den östlichen Stadtteil: "Wir stehen nun genau
mitten 'auf der Mauer', auf dieser schönen Linie, die unter dem Bus entlang
geht und uns sozusagen schneidet. Halb im Westen, halb im Osten, steht der
Bus. Und wenn wir jetzt rechts abbiegen, sind wir im alten Ost-Berlin, in
der Nähe eines der berühmtesten Theater der Stadt, dem Deutschen Theater"
(so der Moderator, unser Zeitreise-Guide). Obwohl es laut offiziellen
Angaben in der DDR über siebzig Bühnen gab und viele davon vor 1989 zum
Theatertreffen eingeladen waren, erlaubte das kommunistische Regime kein
einziges Mal eine Teilnahme. Der krönende Abschluss der Bustour wurde die
kurze Rundfahrt auf dem Flughafen Berlin Tempelhof. Im Jahr 2010 war der
hiesige Hangar 5 die Spielstätte von Christoph Marthalers Inszenierung von
Thomas Bernhards
Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie (eine Produktion der Wiener
Festwochen).
Mit
der Teilnahme von "Rimini Protokoll" am Theatertreffen
im Jahr 2004 begann die Annäherung des
Stadttheaters an die Freie Szene. Zwei Jahre später folgte schon deren
nächste Mitwirkung im HAU 2 mit
Wallenstein. Heute setzt das Theatertreffen zunehmend auf Kooperationen
und Internationalisierung. Regisseure wie Katie Mitchell, Johan Simons, Luk
Perceval und Jérôme Bel sind der Beweis dafür. Teilnahme am Internationalen
Forum (heuer waren es Stipendiaten aus 19 Ländern),
Symposien, Buchpräsentationen,
Künstlergespräche, Workshops und eine
stetige Erweiterung und zweisprachige Führung des Blogs sind aus dem
heutigen Festivalprogramm nicht mehr wegzudenken. Mehr noch: Die
eingeladenen deutschen Bühnen sollen in Zukunft "einen Mittelpunkt des
Vergleichs, der Diskussion, des Meinungsaustauschs und der Orientierung vor
internationaler Öffentlichkeit bilden", lautet die aktuelle
Verfahrensordnung des Berliner Theatertreffens. Und aus dieser heraus ergibt
sich auch der Wandel des Festivals. "Das Publikum wird immer jünger, das
Theatertreffen immer internationaler", bilanzierte Intendant Thomas
Oberender jüngst die 50-jährigen Festspiele.