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Willkommen beim Zeitreise-Guide

 Ein farbenfroher Wurm aus Menschen, überaus beweglich und tiefsinnigen Witz
versprühend, wurde kürzlich bei den Berliner Festspielen gesichtet. Doch nicht nur "Murmel
Murmel" (unter der Regie von Herbert Fritsch) bewegte die Massen, auch Stücke wie "Medea"
oder "Jeder stirbt für sich allein" hinterließen bei der Jubiläumsausgabe des
Berliner Festivals einen nachhaltigen Eindruck.

 Von Irina Wolf
(05. 07. 2013)

...



Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.

 



 


(c)
Birgit Hupfeld

Constanze Becker
in "Medea"

 

 


"Was mich bei Hans
Falladas Romanadaption
am stärksten inspiriert hat,
war das stark reduzierte
Bühnenbild, die Wand mit
den Haushaltsgeräten, von
denen ich dann gelernt
habe, dass diese tat-
sächlich Relikte aus
der NS-Zeit sind."
(
Hendrike Terheyden)

 

 

 


(c) Krafft Angerer

"Jeder stirbt für
sich allein"

 

 


"Bei Murmel Murmel
hatte ich das Gefühl der
Frage der Moral. Was
bedeutet es, wenn ich die
ganze Zeit viel rede und
große Gesten mache? Hat
mein Tun Konsequenzen?
Kann ich mich dadurch
schuldig machen oder
verwehre ich mich?

(Hendrike Terheyden)

 

 

 


(c) Thomas Aurin

"Murmel Murmel"

 


 

Der absolute Höhepunkt
meines einwöchigen Auf-
enthaltes in Berlin war die
Busfahrt durch die Berliner
Theatergeschichte.

 

 

 

 Linktipp
www.berlinerfestspiele.de

 

   Blitzartig geht das Licht im Haus der Berliner Festspiele aus. Und damit verstummt auf Anhieb das Gemurmel im Publikum. Schrittweise schreitet eine in Schwarz gekleidete Gestalt quer über die leere Bühne. Der zarte Lichtstrahl verrät in der Dunkelheit nur die kleine menschliche Figur. Es ist Medeas Amme. Sie scheint eine Ameise zu sein, erst recht im Vergleich zur bühnenhohen Wand im entfernten Hintergrund. Und dann erscheint Medea, genauso klein, auf der hohen Wandkante.

Medea war der Auftakt zur 50. Auflage des Berliner Theatertreffens. 1964 als "Schaufenster des Westens" entstanden, steht es heute als "kultureller Leuchtturm" da. Vor fünfzig Jahren sollte, wie das Gründungsdokument festhält, "der Versuch gemacht werden […] nicht nur ein Bild vom Stand des deutschsprachigen Theaters zu geben, sondern auch die wegen Isolierung der einzelnen Theaterstädte voneinander so notwendige Möglichkeit des Vergleichs zu schaffen."

Die Frage nach Schuld und Moral

   Von den fünf Inszenierungen, die ich gesehen habe (zehn waren es insgesamt), war Medea mit Sicherheit eine der strahlendsten und markantesten Präsenzen. Nicht umsonst erhielt die Hauptdarstellerin den Gertrud-Eysoldt-Ring 2012, einen der bedeutendsten Theaterpreise im deutschsprachigen Raum. Jedoch nicht nur Constanze Beckers Spiel begeisterte das Publikum. Wie schon bei der beeindruckenden Inszenierung von Elektra im Wiener Burgtheater, reduzieren Regisseur Michael Thalheimer und Bühnenbildner Olaf Altmann den Raum auf ein minimalistisches Bild. Dem Regisseur gelingt ein einzigartiges Spiel aus Licht und Schatten, ein hervorragendes Wechselspiel zwischen Körperhaltung und Text.

In ähnlicher Weise bemerkenswert war Luk Percevals Inszenierung von Jeder stirbt für sich allein. "Was mich bei Hans Falladas Romanadaption am stärksten inspiriert hat", sagt Hendrike Terheyden, "war das stark reduzierte Bühnenbild, die Wand mit den Haushaltsgeräten, von denen ich dann gelernt habe, dass diese tatsächlich Relikte aus der NS-Zeit sind. Die aus dieser Zeit stammenden Objekte haben für mich ein starkes Bild ergeben, weil sie so angeordnet waren wie die Straßenzüge und Häuser in Google-Maps. Der Dualismus zwischen Öffentlichkeit und Privatem, der sich durch das ganze Stück zog, hat sich für mich in diesem von Annette Kurz entworfenen Bühnenbild so krass kristallisiert." Hendrike Terheyden, Teil der diesjährigen TT-Blogredaktion, begleitete das Festival in der innovativen journalistischen Form der gezeichneten Aufführungskritik.

Auf die Frage der großen inhaltlichen Themen beim Theatertreffen meinte sie: "Die Frage nach Schuld und Moral zieht sich meiner Ansicht nach durch das ganze Festival. Vor allem bei Medea stellt sich die Problematik der Schuld, der Begründung der Taten." Zwei weitere Inszenierungen − Krieg und Frieden (Regie: Sebastian Hartmann) und Die Strasse. Die Stadt. Der Überfall (Regie: Johan Simons) − schienen dieses Zentralthema ebenfalls hervorzuheben. Alleine Murmel Murmel (Regie: Herbert Fritsch) ragte aus dem Mainstream heraus. Die farbenfrohe, siebzigminütige Aufführung sprühte vor ansteckendem Witz und Slapstick. Im Sekundentakt bewegten sich die elf Darsteller. Und hier brillierte ihre Koordination in einer ganz eigenen Ästhetik. "Auch bei Murmel Murmel hatte ich das Gefühl der Frage der Moral. Was bedeutet es, wenn ich die ganze Zeit viel rede und große Gesten mache, mich in bestimmten Bewegungs- und Inszenierungsschemata darstelle? Was bedeutet es, wenn ich dabei immer nur 'Murmel Murmel' sage? Hat also mein Tun Konsequenzen? Kann ich mich dadurch schuldig machen oder verwehre ich mich? Für den Autor hat dies, glaube ich, keine Rolle gespielt. Aber ich hatte den Eindruck, dass sich diese Schuldfrage durch das Festival zieht. Das ist dann interessant, wenn man überlegt, dass die Jury nicht mit einem kuratorischen Konzept herangegangen ist, sondern eben, dass es sich quasi zusammenfügt", widersprach mir Hendrike.

Zeitreise in die Vergangenheit

   Doch nicht nur die Inszenierungen setzten spannende Akzente. Auch die zusätzlichen Programmpunkte sorgten im heurigen Jubiläumsjahr für besondere Stimmung. Zu den Highlights gehörten unter anderem eine Video-Bustour, ein Fest sowie die Spezialedition zur 35. Auflage des Stückemarkts, der Plattform zur Förderung zeitgenössischer Dramatik. Gerne erinnert man sich daran, dass zur ersten Ausgabe 1978 auch eine Wiener Musikstudentin namens Elfriede Jelinek eingeladen war. Darüber hinaus fand im geschichtsträchtigen Ort der Pan-Am-Lounge ein dreitägiges Site-Specific-Projekt  statt. Dabei wurden Lesungen, Installationen und Hörspiele zum Thema "Verfall und Untergang der westlichen Zivilisation?" präsentiert.

Der absolute Höhepunkt meines einwöchigen Aufenthaltes in Berlin war jedoch die Fahrt durch die Berliner Theatergeschichte. Denn als Kind des Kalten Krieges ist das Theatertreffen ein Geschichtsvermittler. Die mit je drei Videomonitoren ausgestatteten Busse boten nicht nur eine einmalige Stadttour, sondern vielmehr eine Rückschau auf berühmte Inszenierungen, die Furore gemacht haben. Vom Schillertheater im Herzen Charlottenburgs ging die multimediale Reise in die Vergangenheit immer weiter Richtung Osten. Vorbei am Grips-Theater und an der Akademie der Künste. Besonders gefühlsbeladen gestaltete sich der Übergang vom westlichen in den östlichen Stadtteil: "Wir stehen nun genau mitten 'auf der Mauer', auf dieser schönen Linie, die unter dem Bus entlang geht und uns sozusagen schneidet. Halb im Westen, halb im Osten, steht der Bus. Und wenn wir jetzt rechts abbiegen, sind wir im alten Ost-Berlin, in der Nähe eines der berühmtesten Theater der Stadt, dem Deutschen Theater" (so der Moderator, unser Zeitreise-Guide). Obwohl es laut offiziellen Angaben in der DDR über siebzig Bühnen gab und viele davon vor 1989 zum Theatertreffen eingeladen waren, erlaubte das kommunistische Regime kein einziges Mal eine Teilnahme. Der krönende Abschluss der Bustour wurde die kurze Rundfahrt auf dem Flughafen Berlin Tempelhof. Im Jahr 2010 war der hiesige Hangar 5 die Spielstätte von Christoph Marthalers Inszenierung von Thomas Bernhards Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie (eine Produktion der Wiener Festwochen).

   Mit der Teilnahme von "Rimini Protokoll" am Theatertreffen im Jahr 2004 begann die Annäherung des Stadttheaters an die Freie Szene. Zwei Jahre später folgte schon deren nächste Mitwirkung im HAU 2 mit Wallenstein. Heute setzt das Theatertreffen zunehmend auf Kooperationen und Internationalisierung. Regisseure wie Katie Mitchell, Johan Simons, Luk Perceval und Jérôme Bel sind der Beweis dafür. Teilnahme am Internationalen Forum (heuer waren es Stipendiaten aus 19 Ländern), Symposien, Buchpräsentationen, Künstlergespräche, Workshops und eine stetige Erweiterung und zweisprachige Führung des Blogs sind aus dem heutigen Festivalprogramm nicht mehr wegzudenken. Mehr noch: Die eingeladenen deutschen Bühnen sollen in Zukunft "einen Mittelpunkt des Vergleichs, der Diskussion, des Meinungsaustauschs und der Orientierung vor internationaler Öffentlichkeit bilden", lautet die aktuelle Verfahrensordnung des Berliner Theatertreffens. Und aus dieser heraus ergibt sich auch der Wandel des Festivals. "Das Publikum wird immer jünger, das Theatertreffen immer internationaler", bilanzierte Intendant Thomas Oberender jüngst die 50-jährigen Festspiele.

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