Sie
sollen mehr als Freunde gewesen sein: Euryalus und Nisus, zwei Helden aus
Vergils Aeneis. Splitternackt stehen die zwei Schauspieler, die sie
verkörpern, auf der Bühne. Noch dazu in Einkaufswagen. Mit geschickten
Körperbewegungen gelingt es ihnen, diese in Schwung zu bringen. Ausgerechnet
in der Republik Moldau spielen sich diese Szenen ab, dem im östlichsten Teil
Europas gelegenen Land, wo am 25. Mai auf der Titelseite der Zeitung
Moldova Suverană (Souveräne Moldau) zu lesen war: "Die
Sozialisten werden gegen das Gesetz stimmen, das die Homosexualität
liberalisiert". Das Gleichbehandlungsgesetz führte zu starken Diskussionen
in der Gesellschaft, ja sogar zu heftigen Debatten im moldauischen
Parlament. Letztlich wurde es dann doch verabschiedet, wenn auch in
geänderter Form.
Troia's discount
(Trojas Rabatt) heißt die Vorstellung, die in Chişinău, der
Hauptstadt des Landes, im Rahmen des BITEI-Festivals 2012 gezeigt wurde.
Stefano Ricci und Gianni Forte sind Regisseur und Autor dieser Produktion.
Die beiden Theatermacher gelten als "enfants terribles" des zeitgenössischen
italienischen Theaters. Tiefsinnig, aufrüttelnd, anregend, vielschichtig,
kontroversiell. So könnte man ihre Produktionen bezeichnen.
Troia's discount wurde zum ersten Mal 2006 gezeigt. Euryalus und
Nisus sind Mitglieder einer Gruppe, die sich im heutigen Konsumismus
zurechtzufinden versucht. Ein metaphernreicher Text und eine Bildertyrannei,
beides verpackt in einen schwindelerregenden Rhythmus, sollen laut Stefano
Ricci die ganze "Frustrationspalette" der heutigen, vom Fernsehen
geschädigten Gesellschaft offenbaren und die Emotionen zurückrufen. Denn am
Ende heißt es: "Wir lieben nur das, was wir nicht haben können."
Vielfalt, Begegnung und Kontinuität
Troia's
discount gehört eindeutig zu den
Höhepunkten des BITEI-Festivals (Biennale des Theaters "Eugène Ionesco",
kurz TEI), das heuer sein zehnjähriges Jubiläum feierte. Was 1994 als Idee
des Journalisten und Dramatikers Val Butnaru begann (damals auch
künstlerischer Leiter des TEI), ist inzwischen zur breiten Veranstaltung der
Chişinăuer
Theaterhäuser geworden. Bereits in der zweiten Ausgabe 1997 wurde das
Festivalprogramm um Workshops und Konferenzen erweitert. 2001 nahmen
Theaterschulen, ab der siebten Ausgabe Theater der rumänischen
Underground-Szene an den Festspielen teil. Mit der achten Ausgabe
schließlich wandelte sich BITEI in ein internationales Festival der
Szenischen Künste um und umfasst nun drei Bereiche: Tanz, Musik und Theater.
All dies wäre ohne die Vision und den kontinuierlichen Einsatz von Petru
Vutcărău, bekanntester moldauischer Regisseur, BITEI-Festivaldirektor und
TEI-Gründer, nicht möglich gewesen. Lohnend war es allein schon deswegen,
weil eine derartige spartenübergreifende Kulturveranstaltung in der gesamten
Republik Moldau einmalig ist. Neben der geografischen und ästhetischen
Vielfalt wird eine Reihe von qualitativ hochwertigen Vorstellungen geboten.
"Die Theater treffen sich
in Chişinău" lautete das diesjährige Motto der Biennale, die vom 25. Mai bis
zum 3. Juni stattfand. Über 20 Darbietungen aus 15 Ländern, darunter
Deutschland, Tschechien, Israel (zum ersten Mal dabei), Spanien, Türkei,
Aserbaidschan, Russland, Ukraine und Rumänien fanden an fünf (von insgesamt
neun) vom Staat subventionierten Theaterhäusern der Hauptstadt statt.
Zwischen Tradition und Moderne
Ob
Theater oder Tanz –
japanische Produktionen sind aus dem Veranstaltungskalender längst gar nicht
mehr wegzudenken. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern begann 1996
mit einer Japan-Tournee des TEI mit Becketts Warten auf Godot, der
mehrere Workshops, weitere Tourneen und Koproduktionen sowie fünf von
Vutcărău in Szene gesetzte Stücke in Tokyo folgten.
Japan ist jedoch nicht das
einzige asiatische Land, das sich großer Beliebtheit in Chişinău erfreut.
Mit einem beeindruckenden Auftritt der Schlagwerk-Truppe "Taeguk" wurde das
Festival 2012 im Opern- und Balletttheaterhaus eröffnet. Präzision, Energie
und Harmonie entsprangen den traditionellen südkoreanischen Tanz- und
Klangformen. Per Schiff mussten die mehr als zehn gewaltigen Trommeln in die
Republik Moldau befördert werden. Musik einer ungewöhnlichen Art gab es auch
am nachfolgenden Abend in der Nationalphilharmonie zu hören. "The Tiger
Lillies", die in London beheimatete dreiköpfige Musikgruppe, löste mit ihrem
schrägen, komödiantischen Stil, ihren originellen Kostümen und geschminkten
Gesichter eine langanhaltende euphorische Begeisterung aus.
Clown
gesucht (Engagement für einen Clown)
hieß es, als das dramatische Staatstheater "Ilya Chavchavadze" aus Batumi,
Georgien, Matei Vişniecs Tragikomödie dreier Clowns im Kampf ums Überleben
zeigte. Ein Beckett zum Lachen, besetzt mit hervorragenden Schauspielern.
Tags darauf sorgte das Theater "Mihai Eminescu" aus Botoşani, Rumänien, mit
Pferde am Fenster, ein Stück desselben Autors, für eine andere Art von
Stimmung. Nacheinander wurden drei Lebensgeschichten von Menschen erzählt,
die alle in irgendeiner Form in den Krieg involviert sind. Regie führte der
Festivaldirektor selbst. Als Gegenpol zum georgischen Theaterabend (Regie
Giorgi Tavadze) lud Vutcărău zu einer Inszenierung ein, die geprägt war von
der russischen Theaterschule. Das groteske Porträt des Krieges schrieb der
aus Rumänien stammende Vişniec kurz bevor er nach Frankreich emigrierte.
Aufgrund seiner thematischen Brisanz wurde das Stück seinerseits in Rumänien
sofort verboten. 2012 behauptete der in Chişinău anwesende Autor: "Wäre ich
Präsident der Republik Moldau oder Rumäniens, würde ich ein Gesetz
einführen, das die Politiker zwingt, mindestens ein Mal pro Woche ins
Theater zu gehen". Damit bestätigte er erneut seine ungebrochene Beliebtheit
beim moldauischen Publikum (mindestens eine Vişniec-Inszenierung wird seit
1997 in jeder Ausgabe des BITEI-Festivals gezeigt).
Viele namhafte Künstler
gastierten mit abwechslungsreichen Vorstellungen bei den Festspielen. Der
provokanteste Regisseur Moskaus, Roman Viktjuk, zeigte zwei Produktionen
seines gleichnamigen Theaters: Oscar Wildes Salomé und eine
Adaptierung von Bulgakows Roman Der Meister und Margarita. Der seit
mehreren Jahren in der Ukraine lebende gebürtige moldauische Choreograf Radu
Poclitaru bot mit dem Kiew Modern Ballett zwei seiner unkonventionellen
Tanzdemonstrationen: Peters Vaskis Underground und eine
Tschechow-Adaption vom Krankenzimmer Nr. 6. Auch der rumänische
Regisseur Radu Afrim, in Deutschland bekannt durch seine Inszenierung Das
Ende des Regens von Andrew Bovell 2011 am Münchner Residenztheater, war
ebenfalls zwei Mal vertreten, mit Miriam W von Savyon Liebrecht und
Fausto Paravidinos Die Krankheit der Familie M.
KulturPreis Europa 2012
In
dieser kulturellen "Reise" quer durch Europa über Russland nach Asien war
die moldauische Theaterschule durch den Regisseur Vlad Ciobanu und seiner
Inszenierung von Witold Gombrowiczs Yvonne, die Burgunderprinzessin,
vertreten. Für das Finale sorgten der Initiator Val Butnaru als Autor und
Direktor Petru Vutcărău als Regisseur mit einer Wiederaufnahme der
Inszenierung Josef und seine Geliebte von 1992. "Nach zwanzig Jahren
hat der Text nichts von seiner Aktualität eingebüßt", schrieb die
Theaterkritikerin Larisa Ungureanu für Hotnews.md.
Bleibt noch das
unvermeidbare Thema des Zustandes der Theaterhäuser in Chişinău. 2010
feierte das Gastgebertheater sein 20-jähriges Bestehen. Trotzdem fehlt dem
Theaterhaus "Eugène Ionesco", das in einem ehemaligen Kino untergebracht
ist, die gesamte technische Ausstattung, die für die Dauer des Festivals
gemietet werden musste. Umso mehr ist Vutcărăus Beständigkeit
bewundernswert, das Theater und vor allem das Festival weiter zu gestalten.
Gerade
darin liegt die Anerkennung des Kulturforums Europa, das durch seinen
Präsidenten Dieter Topp dem Festivaldirektor den KulturPreis Europa 2012
(eine Schale aus Meissner Porzellan) bei der Eröffnungsfeier überreichte.
"BITEI und Petru Vutcărău erhalten 2012 den Preis als Vermittler in einem
kleinen Land mit großer Bedeutung zwischen Ost und West", kündigte Topp an
und fuhr fort, "sie fördern interkulturelle Verständigung, Akzeptanz,
Toleranz und bringen Menschen zusammen. Die zahlreichen verschiedenen Mottos
der Festivalausgaben wie Tradition und Moderne, Interferenzen,
Theater ohne Grenzen, Zwischen Orient und Abendland,
Begegnungen, Für eine bessere Welt, sind die offenkundigen
Slogans eines reichhaltigen Theaterprogramms, Zeugen einer breiten Auswahl
und großen Vielfalt von Unterhaltung bis zu zeitgenössischen
politisch-kritischen Theaterformen". Fazit: Seit 18 Jahren ist BITEI der
beste Kulturbotschafter der Republik Moldau im Ausland. Umso erfreulicher
war die Bekanntgabe Vutcărăus bei der Schlussfeier: Ab 2013 wird das
Festival jährlich unter dem neuem Namen FESTEI (Internationales Festival des
Theaters "Eugène Ionesco") seinen unwiderstehlichen Zauber entfalten.