Über die Aurora

Aktuelle Ausgabe

Frühere Ausgaben

Suche

   Schwerpunkte    Theater     Kulturphilosophie     Belletristik      Literatur     Film     Forschung    Atelier     Musik  

......
Moldawischer Trommelwirbel

Teilnehmer aus 15 Ländern trafen sich im heurigen Frühsommer zu einer kulturellen
Reise
quer durch Europa und nach Asien: Vom 25. Mai bis zum 3. Juni fand in der moldawischen
Kapitale Chişinău das
nach Eugène Ionesco benannte "BITEI"-Festival statt. Auch wenn die
Elektrik der Aufführungshäuser noch leicht schwächelte: In sympathischer Eintracht aus
munterer Weltläufigkeit und politischer Brisanz zeigten die Beteiligten ihr ganzes Können,
insbesondere, wie
vielschichtig und kontroversiell Theater von heute sein kann.

Von Irina Wolf
(21. 07. 2012)

...





Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren Jobs
im Telekommunikations- und
Forschungsbereich wechselte
sie 1993 in den Außenhandels-
dienst. Seit 2007 schreibt
sie freiberuflich für mehrere
rumänische und deutsch-
sprachige Kulturzeitschriften.

 

 


 

Euryalus und Nisus sind
Mitglieder einer Gruppe,
die sich im heutigen Kon-
sumismus zurechtzufin-
den versucht. Ein metaph-
ernreicher Text und
eine Bildertyrannei
gleichermaßen.
 

 

 

 


(c) Irina Wolf

Petru Vutcărău
(Festivaldirektor)

 

 

 

Mit der achten
Ausgabe wandelte sich
BITEI in ein internationales
Festival der Szenischen
Künste um und umfasst
nun drei Bereiche: Tanz,
Musik und Theater.

 

 

 


(c) Irina Wolf

Gastgebertheater
"Eugène Ionesco"

 

 

 

"Wäre ich Präsident der
Republik Moldau oder
Rumäniens, würde ich ein
Gesetz einführen, das die
Politiker zwingt, mindestens
ein Mal pro Woche ins
Theater zu gehen".
(Matei Vişniec)

 

 

 




 


(c) Irina Wolf

Poster mit Szenen-
fotos aus dem
Festivalprogramm.

   Sie sollen mehr als Freunde gewesen sein: Euryalus und Nisus, zwei Helden aus Vergils Aeneis. Splitternackt stehen die zwei Schauspieler, die sie verkörpern, auf der Bühne. Noch dazu in Einkaufswagen. Mit geschickten Körperbewegungen gelingt es ihnen, diese in Schwung zu bringen. Ausgerechnet in der Republik Moldau spielen sich diese Szenen ab, dem im östlichsten Teil Europas gelegenen Land, wo am 25. Mai auf der Titelseite der Zeitung Moldova Suverană (Souveräne Moldau) zu lesen war: "Die Sozialisten werden gegen das Gesetz stimmen, das die Homosexualität liberalisiert". Das Gleichbehandlungsgesetz führte zu starken Diskussionen in der Gesellschaft, ja sogar zu heftigen Debatten im moldauischen Parlament. Letztlich wurde es dann doch verabschiedet, wenn auch in geänderter Form.

Troia's discount (Trojas Rabatt) heißt die Vorstellung, die in Chişinău, der Hauptstadt des Landes, im Rahmen des BITEI-Festivals 2012 gezeigt wurde. Stefano Ricci und Gianni Forte sind Regisseur und Autor dieser Produktion. Die beiden Theatermacher gelten als "enfants terribles" des zeitgenössischen italienischen Theaters. Tiefsinnig, aufrüttelnd, anregend, vielschichtig, kontroversiell. So könnte man ihre Produktionen bezeichnen. Troia's discount wurde zum ersten Mal 2006 gezeigt. Euryalus und Nisus sind Mitglieder einer Gruppe, die sich im heutigen Konsumismus zurechtzufinden versucht. Ein metaphernreicher Text und eine Bildertyrannei, beides verpackt in einen schwindelerregenden Rhythmus, sollen laut Stefano Ricci die ganze "Frustrationspalette" der heutigen, vom Fernsehen geschädigten Gesellschaft offenbaren und die Emotionen zurückrufen. Denn am Ende heißt es: "Wir lieben nur das, was wir nicht haben können."

Vielfalt, Begegnung und Kontinuität

   Troia's discount gehört eindeutig zu den Höhepunkten des BITEI-Festivals (Biennale des Theaters "Eugène Ionesco", kurz TEI), das heuer sein zehnjähriges Jubiläum feierte. Was 1994 als Idee des Journalisten und Dramatikers Val Butnaru begann (damals auch künstlerischer Leiter des TEI), ist inzwischen zur breiten Veranstaltung der Chişinăuer Theaterhäuser geworden. Bereits in der zweiten Ausgabe 1997 wurde das Festivalprogramm um Workshops und Konferenzen erweitert. 2001 nahmen Theaterschulen, ab der siebten Ausgabe Theater der rumänischen Underground-Szene an den Festspielen teil. Mit der achten Ausgabe schließlich wandelte sich BITEI in ein internationales Festival der Szenischen Künste um und umfasst nun drei Bereiche: Tanz, Musik und Theater. All dies wäre ohne die Vision und den kontinuierlichen Einsatz von Petru Vutcărău, bekanntester moldauischer Regisseur, BITEI-Festivaldirektor und TEI-Gründer, nicht möglich gewesen. Lohnend war es allein schon deswegen, weil eine derartige spartenübergreifende Kulturveranstaltung in der gesamten Republik Moldau einmalig ist. Neben der geografischen und ästhetischen Vielfalt wird eine Reihe von qualitativ hochwertigen Vorstellungen geboten.

"Die Theater treffen sich in Chişinău" lautete das diesjährige Motto der Biennale, die vom 25. Mai bis zum 3. Juni stattfand. Über 20 Darbietungen aus 15 Ländern, darunter Deutschland, Tschechien, Israel (zum ersten Mal dabei), Spanien, Türkei, Aserbaidschan, Russland, Ukraine und Rumänien fanden an fünf (von insgesamt neun) vom Staat subventionierten Theaterhäusern der Hauptstadt statt.

Zwischen Tradition und Moderne

   Ob Theater oder Tanz japanische Produktionen sind aus dem Veranstaltungskalender längst gar nicht mehr wegzudenken. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern begann 1996 mit einer Japan-Tournee des TEI mit Becketts Warten auf Godot, der mehrere Workshops, weitere Tourneen und Koproduktionen sowie fünf von Vutcărău in Szene gesetzte Stücke in Tokyo folgten.

Japan ist jedoch nicht das einzige asiatische Land, das sich großer Beliebtheit in Chişinău erfreut. Mit einem beeindruckenden Auftritt der Schlagwerk-Truppe "Taeguk" wurde das Festival 2012 im Opern- und Balletttheaterhaus eröffnet. Präzision, Energie und Harmonie entsprangen den traditionellen südkoreanischen Tanz- und Klangformen. Per Schiff mussten die mehr als zehn gewaltigen Trommeln in die Republik Moldau befördert werden. Musik einer ungewöhnlichen Art gab es auch am nachfolgenden Abend in der Nationalphilharmonie zu hören. "The Tiger Lillies", die in London beheimatete dreiköpfige Musikgruppe, löste mit ihrem schrägen, komödiantischen Stil, ihren originellen Kostümen und geschminkten Gesichter eine langanhaltende euphorische Begeisterung aus.

   Clown gesucht (Engagement für einen Clown) hieß es, als das dramatische Staatstheater "Ilya Chavchavadze" aus Batumi, Georgien, Matei Vişniecs Tragikomödie dreier Clowns im Kampf ums Überleben zeigte. Ein Beckett zum Lachen, besetzt mit hervorragenden Schauspielern. Tags darauf sorgte das Theater "Mihai Eminescu" aus Botoşani, Rumänien, mit Pferde am Fenster, ein Stück desselben Autors, für eine andere Art von Stimmung. Nacheinander wurden drei Lebensgeschichten von Menschen erzählt, die alle in irgendeiner Form in den Krieg involviert sind. Regie führte der Festivaldirektor selbst. Als Gegenpol zum georgischen Theaterabend (Regie Giorgi Tavadze) lud Vutcărău zu einer Inszenierung ein, die geprägt war von der russischen Theaterschule. Das groteske Porträt des Krieges schrieb der aus Rumänien stammende Vişniec kurz bevor er nach Frankreich emigrierte. Aufgrund seiner thematischen Brisanz wurde das Stück seinerseits in Rumänien sofort verboten. 2012 behauptete der in Chişinău anwesende Autor: "Wäre ich Präsident der Republik Moldau oder Rumäniens, würde ich ein Gesetz einführen, das die Politiker zwingt, mindestens ein Mal pro Woche ins Theater zu gehen". Damit bestätigte er erneut seine ungebrochene Beliebtheit beim moldauischen Publikum (mindestens eine Vişniec-Inszenierung wird seit 1997 in jeder Ausgabe des BITEI-Festivals gezeigt).

Viele namhafte Künstler gastierten mit abwechslungsreichen Vorstellungen bei den Festspielen. Der provokanteste Regisseur Moskaus, Roman Viktjuk, zeigte zwei Produktionen seines gleichnamigen Theaters: Oscar Wildes Salomé und eine Adaptierung von Bulgakows Roman Der Meister und Margarita. Der seit mehreren Jahren in der Ukraine lebende gebürtige moldauische Choreograf Radu Poclitaru bot mit dem Kiew Modern Ballett zwei seiner unkonventionellen Tanzdemonstrationen: Peters Vaskis Underground und eine Tschechow-Adaption vom Krankenzimmer Nr. 6. Auch der rumänische Regisseur Radu Afrim, in Deutschland bekannt durch seine Inszenierung Das Ende des Regens von Andrew Bovell 2011 am Münchner Residenztheater, war ebenfalls zwei Mal vertreten, mit Miriam W von Savyon Liebrecht und Fausto Paravidinos Die Krankheit der Familie M.

KulturPreis Europa 2012

   In dieser kulturellen "Reise" quer durch Europa über Russland nach Asien war die moldauische Theaterschule durch den Regisseur Vlad Ciobanu und seiner Inszenierung von Witold Gombrowiczs Yvonne, die Burgunderprinzessin, vertreten. Für das Finale sorgten der Initiator Val Butnaru als Autor und Direktor Petru Vutcărău als Regisseur mit einer Wiederaufnahme der Inszenierung Josef und seine Geliebte von 1992. "Nach zwanzig Jahren hat der Text nichts von seiner Aktualität eingebüßt", schrieb die Theaterkritikerin Larisa Ungureanu für Hotnews.md.

Bleibt noch das unvermeidbare Thema des Zustandes der Theaterhäuser in Chişinău. 2010 feierte das Gastgebertheater sein 20-jähriges Bestehen. Trotzdem fehlt dem Theaterhaus "Eugène Ionesco", das in einem ehemaligen Kino untergebracht ist, die gesamte technische Ausstattung, die für die Dauer des Festivals gemietet werden musste. Umso mehr ist Vutcărăus Beständigkeit bewundernswert, das Theater und vor allem das Festival weiter zu gestalten.

   Gerade darin liegt die Anerkennung des Kulturforums Europa, das durch seinen Präsidenten Dieter Topp dem Festivaldirektor den KulturPreis Europa 2012 (eine Schale aus Meissner Porzellan) bei der Eröffnungsfeier überreichte. "BITEI und Petru Vutcărău erhalten 2012 den Preis als Vermittler in einem kleinen Land mit großer Bedeutung zwischen Ost und West", kündigte Topp an und fuhr fort, "sie fördern interkulturelle Verständigung, Akzeptanz, Toleranz und bringen Menschen zusammen. Die zahlreichen verschiedenen Mottos der Festivalausgaben wie Tradition und Moderne, Interferenzen, Theater ohne Grenzen, Zwischen Orient und Abendland, Begegnungen, Für eine bessere Welt, sind die offenkundigen Slogans eines reichhaltigen Theaterprogramms, Zeugen einer breiten Auswahl und großen Vielfalt von Unterhaltung bis zu zeitgenössischen politisch-kritischen Theaterformen". Fazit: Seit 18 Jahren ist BITEI der beste Kulturbotschafter der Republik Moldau im Ausland. Umso erfreulicher war die Bekanntgabe Vutcărăus bei der Schlussfeier: Ab 2013 wird das Festival jährlich unter dem neuem Namen FESTEI (Internationales Festival des Theaters "Eugène Ionesco") seinen unwiderstehlichen Zauber entfalten.

Ausdrucken?

....

Zurück zur Übersicht