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Menschen ohne Gedächtnis

Als kritischer Geist und "verbotene Dichterin" war Ana Blandiana schon in der Zeit
des Kommunismus ihren Lesern ein Begriff. Auch heute ist sie eine Stimme, die nicht
schweigt, wenn es um Freiheit und Solidarität und die Grundwerte der Demokratie geht. Zu ihrem
siebzigsten Geburtstag beleuchtet eine Sammlung von Essays das überaus facettenreiche
Werk einer der profiliertesten rumänischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. 

Von Irina Wolf
(12. 11. 2012)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren Jobs
im Telekommunikations- und
Forschungsbereich wechselte
sie 1993 in den Außenhandels-
dienst. Seit 2007 schreibt
sie freiberuflich für mehrere
rumänische und deutsch-
sprachige Kulturzeitschriften.

 
 

 

 

Ana Blandiana.
In einer spanischen
Herberge. Essays.
Herausgegeben von
Katharina Kilzer mit
Beiträgen von Maria Herlo
und Helmut Müller-Enbergs.
Noack und Block, 2012, 128 S.
ISBN: 978-3-86813-010-2.

 

 

 

"Der Osten muss sich an
die Geschichte des Kommu-
nismus erinnern. Das Erbe
eines gelebten Leidens ist
sein Beitrag zu Europa."
(Ana Blandiana)

 

 

 


(c) Wikipedia

Ana Blandiana
(geb. 1942)

 

 

   "Die Freiheit als Neurose", lautet der Schlusssatz im ersten Teil des Aufsatzbandes In einer spanischen Herberge von Ana Blandiana. Bekannt wurde die 1942 geborene Autorin durch zwei kritische Gedichte, die sie mit erst 17 Jahren im kommunistischen Rumänien veröffentlicht hatte. Von da an galt sie als "verbotene Schriftstellerin" und wurde bis zur Wende 1989 noch zwei weitere Male mit Schreibverboten belegt. "Ich lebte Jahrzehnte mit dem Traum der Freiheit des Westens und verstand nicht, dass Freiheit mehr bedeutet als nur Freisein!", bemerkte Blandiana 1999 in einem Gespräch mit dem heutigen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck. Auszüge davon werden im zweiten Teil des Bandes wiedergegeben.

Freiheit ist dennoch nur eines der Themen in diesem Jubiläumsbuch, das Katharina Kilzer der rumänischen Schriftstellerin zum 70. Geburtstag gewidmet hat. Die aus zwei Teilen bestehende Publikation ist hauptsächlich eine Sammlung von ausgewählten, nach der Wende in mehreren deutschsprachigen Zeitungen erschienenen Essays der Autorin. Hinzugefügt wurden ein paar Neuübersetzungen. Anders der zweite Teil: Die wenigen enthaltenen Beiträge von Germanisten und Wissenschaftlern vervollständigen das Bild über Ana Blandiana.

   Die rumänischen Einsprengsel, die die Essays ab und zu verzieren, erheitern die bedrückende, vom Kommunismus geprägte Atmosphäre. Kommunismus, Solidaritätsmangel und Vergangenheitsbewältigung sind weitere Schlagworte, die das Buch näher beschreiben. Blandianas sorgfältige, gefühlvolle Analyse ermöglicht ein wahrheitsgetreues Bild Rumäniens vor und nach der Wende.

Die Schriftstellerin scheint eine Kennerin der Grundwerte der Demokratie zu sein. Ihren scharfen Beobachtungen – bisweilen an einer einfachen Bushaltestelle entwachsen eindrucksvolle Bilder des Lebens unter dem rumänischen Geheimdienst Securitate und der damit verbundenen Zensur. Ihre Entdeckung 1993, dass es Zensur auch in Deutschland – zwar in einer anderen Form – gibt, war für die Autorin eine "traumatische Erfahrung". Blandiana weiß, dass es der größte Sieg des Kommunismus war, "einen Menschen ohne Gedächtnis zu schaffen". Schreiben war für sie, "eine der wenigen Möglichkeiten, allein, in einem Land, in dem Solidarität nicht viel bedeutet, durchzuhalten". Nüchtern stellt sie fest: "Freiheit besitzt keinen Wert, solange Solidarität unmöglich ist", denn Solidarität sei immerhin der Superlativ der Freiheit. Obwohl der Kommunismus in Europa heute Geschichte ist, erscheinen diese Gedanken 2012 umso aktueller. Die langanhaltenden innenpolitischen Machtkämpfe dieses heißen Sommers führten dazu, dass Rumänien sich als neues Sorgenkind der EU entpuppt hat.

   Ana Blandiana ist aber mehr als nur Schriftstellerin, sie ist auch Bürgerrechtlerin. Dies gilt es insbesondere für ein Land wie Rumänien zu bedenken, wo bis heute keine ernstzunehmende  Aufarbeitung des Kommunismus stattgefunden hat. Als die Schriftstellerin nach 1989 ihren ehemaligen Verfolgern und Bewachern auf der Straße begegnete, denselben, die jetzt im Parlament sitzen, beschloss Blandiana, die erste Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus und des Widerstands zu errichten: "Der Osten muss sich an die Geschichte des Kommunismus erinnern. Das Erbe eines gelebten Leidens ist sein Beitrag zu Europa", ist die Überzeugung der Autorin. So bietet das gut übersetzte Buch eine einzigartige Reise in die Vergangenheit.

Irgendwann stellt sich auch die Frage, wie man überhaupt auf einen solchen Titel kommt? Einer der Essays, verfasst zwischen zwei Reisen auf dem Schreibtisch der Herausgeberin (Untertitel: "Über Bücher und Geheimdienste") bildet die Überschrift des Bandes. Bekannt im romanischen wie im niederländischen Sprachraum, zeigt der Titel jedenfalls einen Ort an, "an dem sich Menschen verschiedener Herkunft treffen, jedoch jeder das verzehrt, was er sich selber mitbringt." Weiter heißt es zur Erklärung: "Ein gleiches Leid, von zwei verschiedenen Menschen erlitten, wird verschieden empfunden und verschieden geschildert!".

   Durch die Publikation solle die Vielseitigkeit der Autorin dokumentiert werden, meint die Herausgeberin in ihrem Vorwort. Tatsächlich manifestiert sich vor dem Auge des Betrachters das Bildnis einer bemerkenswert charakterfesten und aufrichtigen Person. Vor allem anderen ist Blandiana aber eine Dichterin. An den Facettenreichtum, welcher den Gedichten der Autorin entströmt, erinnert Maria Herlo in ihrem Essay im zweiten Teil des Bandes. Und das tut gut. Was mit der Geburt der Schriftstellerin beginnt, endet im Dorf, das nun den Namen der Autorin trägt. Die Rückkehr in den Blandiana-Ort im Maroschtal, auf dessen Spuren sich die Herausgeberin begeben hat, rundet den Band sehr schön ab. Eine liebenswerte Geste.

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