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Barbie und die Weltkrise

Für die fünfzehnte Auflage des Theaterfestivals im rumänischen Temeswar wurde
heuer die Losung "Plasticid" ausgerufen: Dorfleben und Beziehungsprobleme, kommunistische
Traumata, Konsumwahn und aktuelle soziale Realitäten
vieles davon ist künstlich, vieles spielt sich
nur an der Oberfläche ab. Dennoch ist die "Plastikgesellschaft" nicht verloren: Wie ein Kunststoff
bleibt sie flexibel und gestaltbar, bietet immer auch Raum für Veränderungen.

Von Irina Wolf
(14. 05. 2010)

...





Irina Wolf
wolfirina [at] yahoo.com


wurde in Bukarest geboren.
Nach Abschluss ihres Infor-
matikstudiums kam sie 1988
durch ein Herder-Stipendium
nach Wien. Nach mehreren
Jobs im Telekommunikations-
und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Handelsbereich. Seitdem
arbeitet sie bei der Friedrich
Wilhelm GmbH & Co.KG
und hält weiterhin engen
Kontakt mit Rumänien.

 

 


(c) A. Picilisan, TNT

"Wie Barbie die
Weltkrise überwindet
"
(Stück von Mihaela Michailov,
Regie:
Alexandra Badea).

 

 

Während das zentrale
Thema von Mihaela
Michailovs "Rumänien
Komplex" die kommunis-
tische Vergangenheit des
Landes ist, wird in "Wie
Barbie die Weltkrise
überwindet" die Konsum-
gesellschaft aufs Korn
genommen, in "Macht
Platz!" Korruption
und Restitution.


 

 


(c) Maria Draghici,
Art Act Magazin

"20/20"
(Stück und Regie
von
Gianina Cărbunariu)

 

 

Obwohl bei diesen
Festspielen die interes-
santen Workshops gefehlt
haben, waren die Buch-
präsentationen, die Les-
ungen und vor allem die
den Aufführungen nach-
folgenden Publikumsge-
spräche sehr gut besucht,
was zu spannenden Debat-
ten zwischen Künstlern
und Publikum führte.

 


 


(c) Adrian Cristea

"Macht Platz!"
(Stück von Mihaela Michailov,  Regie: David Schwartz).

   Wie unzufrieden ist die Gegenwartsdramatik mit der heutigen Gesellschaft? Wie stark trägt sie zu ihrer Veränderung bei? Oder will das moderne Theater gar nicht moralisch sein, ist alles nur ein Spiel, ein pures Vergnügen? Fragen wie diese standen im Fokus der Festspiele der rumänischen Dramatik. Diese fanden heuer vom 10. bis 17. April in Temeswar statt, der multikulturellen Stadt im Westen Rumäniens. Vom Herbst erstmals auf den Frühling vorverlegt, lief die fünfzehnte Auflage des Festivals unter dem Motto "Plasticid", beschäftigte sich also mit der "Plastikgesellschaft", der künstlichen Welt, in der wir heute leben, sowie mit deren Verwandlung.

Mihaela Michailov, die junge Intendantin der Festspiele, die das Theaterfestival zum ersten Mal kuratierte, gab durch die Auswahl brandneuer rumänischer Texte eine neue Richtung vor. Michailov, gleichzeitig Theaterkritikerin und Dramatikerin, legte ihr Hauptaugenmerk auf Texte, die nahe an der rumänischen Realität liegen. Ihre eigenen Stücke sind stark politisch und von hohem sozialen Anspruch. Während das zentrale Thema von "Der Rumänien Komplex" die kommunistische Vergangenheit des Landes ist, wird in "Wie Barbie die Weltkrise überwindet" die Konsumgesellschaft aufs Korn genommen, in "Macht Platz!" Korruption und Restitution. Auch in ihren neuesten Projekten ist die gleiche Tendenz erkennbar: "Google, mein Land" spricht über Vorurteile und Diskriminierung, auch ein Doku-Theater über die dramatischen Ereignisse von Juni 1990, die "Mineriada", ist im Entstehen. Damals wurden Bergarbeiter des Schiltals nach Bukarest geschickt, um Ordnung und Demokratie wiederherzustellen.

   Für die Hauptsektion "Fokus" wählte die Intendantin Stücke, die alltägliche Probleme behandeln. Eine äußerst angenehme Überraschung war der Dramatiker Mimi Brănescu, der gleich durch zwei Aufführungen des unabhängigen Bukarester Theaters ACT für ausverkaufte Vorstellungen sorgte. Mit seinen humorvollen und mit bissigen Dialogen gewürzten Texten, die durchwegs banalen Themen wie dem Dorfleben oder Beziehungsproblemen gewidmet sind, eroberte der Autor die Sympathien des Publikums.

Keine Überraschungen beinhaltete "Rumänien! Ich küss dich", ein atypisches Stück des vielversprechenden jungen Autors Bogdan Georgescu. Nach seinem erfolgreichen Debüt bei den Nationaltheaterfestspielen 2009 in Bukarest wurde die äußerst gelungene Inszenierung von David Schwartz am Nationaltheater Iaşi zur heurigen Theaterbiennale Neue Stücke aus Europa des Staatstheaters Wiesbaden sowie zu den Theaterfestspielen Bitei nach Kischinew, der Hauptstadt der Republik Moldau, eingeladen. Der moldawische Dramatiker Constantin Cheianu bot in Temeswar ein thematisch kräftiges Stück. "In Container" spricht er über die Auswanderung und dessen katastrophale Folgen. Auch diese Inszenierung des jungen Regisseurs Cristian Ban am Odeon Theater Bukarest war ähnlich erfolgsverwöhnt, sodass sie ebenfalls zu den Theaterfestspielen Bitei nach Kischinew eingeladen worden war.

   Bekannte Namen wie die des Dramatikers Peca Ştefan und der Autorin und Regisseurin Theodora Herghelegiu, die das erste Musical der rumänischen Theaterszene in einer Produktion der unabhängigen Bukarester Bühne "Club La Scena" zeigte, verliehen der Hauptsektion noch mehr Kraft und bestätigten die gelungene Auswahl der Intendantin.

Besonders herausragend zeigte sich neuerlich Gianina Cărbunariu mit der Inszenierung ihres eigenen Texts "20/20" im unabhängigen ungarischsprachigen Studio Yorick aus Târgu Mureş. Ihr Doku-Theater spricht vom interethnischen Konflikt am 20. März 1990. Damals war es in Târgu Mureş anlässlich des ungarischen Nationalfeiertags nach gegenseitigen Provokationen zu heftigen Straßenkämpfen zwischen Ungarn und Rumänen gekommen, bei denen fünf Menschen ums Leben kamen und Hunderte von Verletzten gezählt wurden. Cărbunariu verwendet eine zur Hälfte aus Rumänen und Ungarn bestehende Schauspieltruppe, um die Ausschreitungen, die Siebenbürgen und die Welt erschütterten, vorzuführen. Durch die Befragung von mehr als sechzig Menschen verschiedenen Alters und Profession, sowohl von Rumänen als auch von Ungarn, ist ein soziales Experiment entstanden.

   "Stop the Tempo", eines der ersten Stücke von Cărbunariu sie ist auch die derzeit meistgespielte rumänische Gegenwartsdramatikerin, wurde im renovierten Saal 2 des Temeswarer Nationaltheaters, ebenfalls von der Yorick-Gruppe gezeigt. Außerhalb des Festivals brachte das ungarische Staatstheater Temeswar "Csiky Gergely" eine Premiere des Cărbunariu Textes "mady-baby". Ursprünglich im Rahmen einer Studienprüfung an der Theaterschule Târgu Mureş vorgeführt, besticht die Darbietung durch ihre besondere Originalität. Die one-woman-show, aufgeführt in einem Minibus von nur achtzehn Plätzen, basiert hauptsächlich auf Improvisation und Interaktivität, auch mit den vorbeikommenden Fußgängern.

Als Kennerin der Tanzszene schuf Michailov eine neue Sektion "Kreuzungen", in der die einzige aus dem Ausland eingeladene Vorstellung "InTimE", eine Produktion der Kompanie Pál Frenák aus Budapest/Paris, den Abschluss des Festivals bildete. Als konsequentem Unterstützer der nationalen Gegenwartsdramatik und Organisator des landesweiten Dramatikwettbewerbs wurde dem Gastgeber, dem Nationaltheater Temeswar, eine eigene Sektion gewidmet. Symbolisch als "Unterstützer" tituliert, enthielt diese ausschließlich zeitgenössische Inszenierungen aus dem Repertoire des Temeswarer Nationaltheaters. Eugène Ionescos "Die kahle Sängerin" ergänzte als einziges klassisches Stück in einer ausgezeichneten Inszenierung des Deutschen Staatstheaters Temeswar das vielfältige Programm des Festivals.

   Obwohl bei diesen Festspielen die interessanten Workshops gefehlt haben, waren die Buchpräsentationen, die Lesungen und vor allem die den Aufführungen nachfolgenden Publikumsgespräche sehr gut besucht, was zu spannenden Debatten zwischen Künstlern und Publikum führte. So zeigte sich das Theater vor allem als eine Form des interkulturellen Dialogs. Die Intendantin gab mit ihrer Auswahl einen Panoramablick über die derzeitige Lage der rumänischen Dramatik und bekräftigte damit, dass sich die rumänische Theaterszene in Bewegung befindet.

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