Zum
ersten Mal gestaltete die Theaterwissenschaftlerin Oana Borş als
künstlerische Leiterin das Geschehen. Demzufolge setzten sich die Festspiele
erstmals aus zwei zeitlich voneinander getrennten und eigenständigen Teilen
zusammen. Fünf Tage lang drehte sich im Mai alles um das bekannte Festival
der rumänischen Dramatik (FDR). Diesem folgte vom 10. bis 17. Juni das
Europäische Festival der darstellenden Künste (FEST). Dabei wurde Vielfalt
groß geschrieben: Sprechtheater, Performance, Stand-Up-Comedy, Tanz- und
Straßentheater erwarteten die Zuschauer an fünf verschiedenen Spielorten.
Reichtum an Themen und Stilen
"Ich
habe versucht, ein Puzzle aus Stücken zu legen, die einen Blick auf die
zeitgenössische rumänische Dramatik werfen und trotzdem die
Neuinterpretation von klassischen Texten nicht auslassen", so Oana Borş über
das Programm des FDR, das sich hauptsächlich den jungen Theaterschaffenden
widmete. Dabei zeichneten die Autoren in mehr als der Hälfte der Werke
gleichzeitig für die Regie verantwortlich, darunter so bekannte Namen, wie
Gianina Cărbunariu, David Schwartz und Bogdan Georgescu. Die Fülle von
Themen erstreckte sich von Korruption und Nationalismus über Migration und
Integration bis hin zur Auseinandersetzung mit der kommunistischen
Vergangenheit des Landes.
Mit viel Humor
zeigten mehrere Vorstellungen einen Spiegel der heutigen rumänischen
Gesellschaft, so z.B. Radu Iacoban in der mit witzigen Einfällen gespickten
Komödie Carpathian Garden, das Theater Fix aus Iaşi im
Gemeinschaftswerk Dreaming Romania oder Gianina Cărbunariu in
Solitaritate. Diese im Rahmen des EU-finanzierten Projektes "Cities on
Stage" entstandene Koproduktion wird beim diesjährigen
Avignon-Theaterfestival aufgeführt.
Dass
Gianina Cărbunariu ein etablierter Name in der europäischen Theaterszene
ist, davon zeugte ihre zweite im Rahmen des FDR programmierte Inszenierung:
Schrift in Großbuchstaben (Tipografic Majuscul) entstand im
groß angelegten Projekt "Parallel Lives – das 20. Jahrhundert durch die
Augen der Geheimdienste gesehen" des Internationalen Theaterfestivals
Divadelná Nitra in der Slowakei. Auf der Grundlage von Akten und Dokumenten
der Archive der ehemaligen Securitate entwickelte Cărbunariu ein bewegendes
Stück und brachte die Lebensgeschichte eines Schülers auf die Bühne, eines
der vielen Opfer des rumänischen kommunistischen Geheimdienstes.
Seit nunmehr
sieben Jahren hat sich David Schwartz dem Dokumentartheater gewidmet. Am
falschen Ort (Nu ne-am născut
la locul potrivit) heißt das
Stück, mit dem er, zusammen mit Alice Monica Marinescu, 2012 den
österreichischen Wettbewerb "Über Grenzen sprechen" gewann und das das
Schicksal der Flüchtlinge im heutigen Bukarest auf berührende Weise
behandelt.
Abseits
des sozialpolitischen Theaters warfen neue Namen einen frischen Blick auf
vermeintlich Altbekanntes. Die mit sprudelnder Fantasie von Catinca
Drăgănescu und Eugen Jebeleanu erzählte Geschichte dontcrybaby
basiert auf dem Märchen Rotkäppchen der Gebrüder Grimm. Daraus schuf
Jebeleanu, zusammen mit den Schauspielern, hauptsächlich durch
Improvisationstechniken, eine bemerkenswerte Performance, die Schuld und
Unschuld, Opfer und Täter, auf originelle Weise beleuchtet.
Zu den neuen
Namen zählt auch die aus Kronstadt stammende Elise Wilk. Als Teilnehmerin am
internationalen Autorenprojekt "Fabulamundi, Playwriting Europe" schrieb sie
Die grüne Katze (Pisica verde), die von den Mühen des
Erwachsenwerdens erzählt und dabei lakonisch und nahezu beiläufig einen Mord
unter Teenagern rekonstruiert. Das schon in zahlreiche Sprachen übersetzte
Stück wurde von Studenten der Nationalen Theater- und Filmakademie Bukarest
unter der Regie von Cristi Juncu auf der Bühne umgesetzt. Ein großzügiges
Rahmenprogramm aus Konzerten und Buchpräsentationen, der Endphase des
nationalen Dramatikwettbewerbs, sowie einer Jubiläumsausstellung, gewidmet
dem berühmten rumänischen Maler und Bühnenbildner George Löwendal,
unterstrich das Potenzial des Festivals als "Schaufenster der rumänischen
Dramatik".
Facettenreiches europäisches Programm
Mit
FEST, als Bindeglied zum europäischen Theater, begann schließlich der zweite
Teil der Festspiele. Ein vielschichtiges und breit gefächertes Programm bot
für jeden Geschmack das Richtige. Weit über den Köpfen der Zuschauer
entfaltete sich etwa die von der spanischen Gruppe Puja!
frei nach Alice im Wunderland
erzählte Geschichte Do Do
Land,
in der der exotische, flugunfähige
Dodo-Vogel im Vordergrund stand.
Schattenspiele an den Wänden des Nationaltheaters,
Akrobatikshows über den Dächern von Temeswar sowie eine Live-Band mitten auf
dem Theaterplatz sorgten für große Begeisterung und hinterließen einen
unvergesslichen Eindruck.
Ein Tanztheater
besonderer Art lieferte am darauffolgenden Tag die ebenfalls aus Spanien
angereiste Gruppe SenZa TemPo. Blitzartig wurde der Kran, der die Akrobaten
am Vortag in der Luft schweben ließ, abmontiert und stattdessen ein
aufblasbares Schwimmbecken, das nicht weniger als 7.000 Liter verschlang,
montiert. "Das Mittelmeer gibt es nicht … Es handelt sich nur um ein
innerliches Meer, das von jedem von uns täglich bereist wird und dessen
Wasserfarbe die Tiefe unserer Erinnerungen widerspiegelt. Lazurd ist
eine Reise durch solche Gewässer. Dabei wird der Weg der vom Aussterben
bedrohten Nomadenvölker und deren Exodus auf der Fahrt zu einer besseren
Welt verfolgt", sagen die Produzenten.
Für
mich bleibt jedoch Parallel, eine Produktion der GroundFloor Group
aus Klausenburg, der absolute Höhepunkt dieses Festivals. Ausgehend von den
persönlichen Erfahrungen und Vorschlägen der zwei Protagonistinnen wurden
große Tabuthemen der rumänischen Gesellschaft direkt angesprochen: die
Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper, mit der Geschlechtsidentität, mit
der lesbischen Liebe und den damit verbundenen Klischees. In einem
minimalistischen Bühnenbild boten Lucia Mărneanu und Kata Bodoki-Halmen mit
viel Spielfreude und Humor eine einmalige Performance. Was als
energiegeladener Aerobic-Tanz begann, endete als Spiel zwischen
Frage-Antwort-Stellung und Drag-Show. Einzigartig das Konzept von Ferenc
Sinkó, der zusammen mit Leta Popescu auch Regie führte. Eine dynamische,
bewegende, nachhaltige Vorstellung. Dass es Standing Ovations gab, ist nicht
verwunderlich.