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Zwischen Räucherstäbchen und Schrammelmusik

Besucher, die aus Hermannstadt zurückkommen, können mit dem Schwärmen
gar nicht aufhören. Keine andere Stadt Rumäniens veranstaltet alljährlich ein vergleichbares
Fest: Mit einem hochkarätigen Programm internationaler und heimischer Vorstellungen
aus allen Sparten der darstellenden Kunst schlug das Internationale Theaterfestival
vom 27. Mai bis 5. Juni ein weiteres Kapitel seiner Erfolgsgeschichte auf.

Von Irina Wolf
(25. 08. 2011)

...





Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren Jobs
im Telekommunikations- und
Forschungsbereich wechselte
sie 1993 in den Außenhandels-
dienst. Seit 2007 schreibt
sie freiberuflich für mehrere
rumänische und deutsch-
sprachige Kulturzeitschriften.

 

 

 


(c) Sebastian Marcovici

"Keisei Hangonko"
(Regie: Masahiro Yasuda)


 

 

Freiwilligentätigkeit hat
in Rumänien im Vergleich
zu anderen Ländern der
Europäischen Union keine
lange Tradition. Dennoch
hat Hermannstadt eine
bedeutende Plattform
dafür geschaffen.

 

 

 


(c) Mihaela Marin

"Leonce und Lena"
(Regie:
Zoltán Balász)

 


 

Mit großer Achtsamkeit
gegenüber der Stimmung
im Publikum adaptiert
Regisseur
Zoltán Balász
die Anzahl und Reihen-
folge der Szenen.

 


 


(c) Irina Wolf

Open-Air-Aufführung
im Zentrum von
Hermannstadt
 


 


Zum einen in Ruhe
verharren und gleichzeitig
eine schiefe Körperhaltung
einnehmen immer dann,
wenn die anderen Akteure
gerade ihren Text vortra-
gen; zum anderen sich
weiterhin in Zeitlupe be-
wegen, wenn niemand
zu ihnen spricht.

 


 



(c) Irina Wolf

"Malabar Insecta"


 



Linktipp

festivalsibiu.blogspot.com
(Blog von Emile Lansman)

 


 

"Da entsteht schon
eine Gemeinschaft:
zwischen Autor, Übersetzer,
Schauspieler und Zuhörer".
(Constantin Chiriac,
Festpielleiter)

   "Es ist ein großes Spektakel", sagt Dieter Topp, Präsident des Kulturforums Europa, "im besten Sinne ein Volksfest für Hermannstadt, das sich sowohl optisch wie akustisch an vielen In- und Outdoor-Spielorten und auch auf den dazwischen liegenden Straßen abspielt. Es bietet von der zeitgenössischen Studioproduktion bis zur Großproduktion Faust des einheimischen Nationaltheaters 'Radu Stanca' eine breite Palette an: Jeder kann suchen und finden, was ihm gefällt."

Freiwilligentätigkeit um Mitternacht

   Während manche Besucher um Mitternacht im Klub des Nationaltheaters feiern, haben andere erst jetzt Lust auf Musik und Theater. Denn ab Mitternacht werden Vorstellungen der Kategorie "Underground" in den Cafés und Pubs geboten. "Wir denken viel an die Jugend und haben für die diesjährige Auflage des Festivals vor allem die Spielorte erweitert. Anders als im Vorjahr bieten wir diesmal für die Vorstellungen der Off-Szene zehn Räumlichkeiten anstatt nur zwei an", so Constantin Chiriac, Intendant der Festspiele, der in der Früh die Pressekonferenz eröffnet, vormittags Buchpräsentationen begleitet, tagsüber Journalistentreffen absolviert und am späten Abend noch als Schauspieler in den Repertoirestücken des Nationaltheaters – das Chiriac selbst leitet – zu sehen ist.

Für Hunderte von ehrenamtlich Tätigen ist der Arbeitstag aber noch lange nicht vorbei. In der Mitternachtssitzung werden etwaige Missstände besprochen und dadurch die vorbildliche Gesamtorganisation noch weiter verbessert. Freiwilligentätigkeit hat in Rumänien im Vergleich zu anderen Ländern der Europäischen Union keine lange Tradition. Dennoch hat Hermannstadt eine bedeutende Plattform dafür geschaffen. So arbeiten beim Internationalen Theaterfestival immerhin rund 200 Menschen ehrenamtlich. "Es ist eine sehr gute Erfahrung, neue Menschen aus unterschiedlichen Kulturen kennenzulernen", meinen Flavius Retea und Mihai Guta, beide Studenten am Schauspielinstitut der West-Universität Temeswar, die zum ersten Mal freiwillig dabei sind. Während Mihai im Technikbereich tätig ist, betreut Flavius die Teilnehmer. Über die gelungene Organisation des Festivals – nicht selbstverständlich angesichts des umfangreichen Programms zeigen sich die beiden beeindruckt, gestehen aber ein, dass bisweilen auch "Improvisationsfähigkeit" gefragt ist.

Zwei neue Formen, das Theater heute zu lesen

   Ganz auf Improvisation legen der junge ungarische Regisseur Zoltán Balász und sein vor zehn Jahren gegründetes Theater "Maladype" die Umsetzung von Leonce und Lena an. Obwohl es zeitgleich mit dem Highlight des Festivals, einer fünfstündigen Vorstellung von Dostojewskis Der Idiot (Regie Eimuntas Nekrosius) spielt, kommen zahlreiche Besucher, um sich vom neuen künstlerischen Konzept überraschen zu lassen. In knappen zwei Stunden bringen neun Akteure Büchners bekanntes Werk in einer originellen, unterhaltsamen und dynamischen Vorstellung auf die Bühne. Viel gibt es zu staunen über den Erfindungsgeist des Regisseurs: "Jede der 25 Szenen des Stückes ist in vier Varianten vorbereitet worden", erklärt Balász vor Vorstellungsbeginn. Allein schon die Szenentitel, wie "Jacuzzi", "Mission Impossible" oder "Britney", machen im Vorfeld neugierig und sorgen dafür, dass Langeweile erst gar nicht aufkommt. Mit großer Achtsamkeit gegenüber der Stimmung im Publikum adaptiert der Regisseur die Anzahl und Reihenfolge der Szenen. Da für jede männliche Rolle jeder Schauspieler eingesetzt werden kann, "verteilt" der Spielleiter jeweils bei Szenenbeginn spontan die Rollen. Dementsprechend entwickeln die Darsteller eine mitreißende Spielfreude und überzeugen durch ungeheuere Energie und Präsenz.

Kein Geheimtipp mehr ist für das Festivalpublikum "Yamanote Jijosha", eine junge Avantgarde-Theatergruppe aus Japan. Nachdem sie 2009 Titus Andronicus und 2010 Ödipus in Hermannstadt zeigten, wurde dieses Jahr Keisei Hangonko ("Vom Erscheinen der toten Kurtisane im Rauch des Räucherstäbchens"), ein klassisches Stück des japanischen Dramatikers Monzaemon Chikamatsu vorgeführt. Der Regisseur Masahiro Yasuda setzte dabei voll auf den eigenen Performance-Stil "Yojo-han", der den Schauspielern einen genauen Verhaltenskodex vorgibt: Zum einen in Ruhe verharren und gleichzeitig eine schiefe Körperhaltung einnehmen immer dann, wenn die anderen Akteure gerade ihren Text vortragen; zum anderen sich weiterhin in Zeitlupe bewegen, wenn niemand zu ihnen spricht. Dadurch entstehen einzigartige ästhetische Gruppierungen. Emile Lansman, Gründer des gleichnamigen belgischen Verlags, zeigt sich auf seinem Blog "fasziniert von der Vorstellung der Japaner", von diesem "uns Europäer fremden, aber umso spannenderen Spiel: der Auftritt der Personen, ihre Gesten und Mimik, die ruckartige Bewegung ihrer Körper und dann deren Erstarrung. All das ist ein exotischer Vorschlag, das Theater heutzutage zu lesen".

Österreich mit breit gefächertem Angebot

   Tosender Applaus und absolute Begeisterungsstürme: Damit endete die Burgtheater-Vorstellung Dorian Gray, die am 5. Juni den krönenden Abschluss des diesjährigen Internationalen Hermannstädter Theaterfestivals bildete. Gleich zwei Mal hintereinander wurde die eindrucksvolle Inszenierung von Bastian Kraft gezeigt. "Das Burgtheater war einfach fantastisch. So etwas habe ich noch nicht gesehen!", begeisterte sich die rumänische Journalistin Christa Richter, die in ihrer Kritik in der Hermannstädter Zeitung ergänzte: "Als Hauptdarsteller glänzte Markus Meyer in einer Einmannshow, die als Perfektion bezeichnet werden kann."

Mit dem Musik-Theaterstück Herzfleisch von René Freund stand eine weitere österreichische Produktion auf dem Theaterprogramm der Festspiele. Das Litschauer Theater Brauhaus präsentierte auf berührende Weise das Leben der Gebrüder Schrammel, nachdem am warmen Sommerabend davor Hunderte Menschen die aus Österreich stammende Schrammelmusik in der Michelsberger Burg bejubelt hatten. Dem Regisseur Zeno Stanek, gleichzeitig Leiter des Kaiserverlags Wien, gebührt das Lob für diese außergewöhnliche Produktion.

Nicht weniger als drei Autorinnen und Autoren des Kaiserverlags wurden nach Hermannstadt eingeladen. Ihre Stücke wurden in rumänischen Lesungen präsentiert und im jährlichen zweisprachigen Anthologieband vorgestellt. Beeindruckend ist dabei die Bandbreite der von der Koordinatorin des Bandes, Alina Mazilu, getroffenen Auswahl: Neben dem in Frankreich lebenden, meistgespielten rumänischen Autor Matei Vişniec, enthält die diesjährige Publikation Stücke von Dramatikern aus Belgien, Bulgarien, Holland, Kroatien und Lettland.

"Gemeinschaften" als Begegnungsplattform

   Unter dem Motto "Gemeinschaften" ("Comunităţi") markierten die Festspiele 2011 nunmehr ihr achtzehnjähriges Bestehen. Zum einen wurde damit die spirituelle Begegnungsplattform thematisiert. Zum anderen aber hat das Programm für regionale und internationale Entitäten sensibilisiert. "Ohne Gemeinschaften werden wir in der heutigen, von Unruheherden geplagten Welt nicht weiterkommen", begründet Constantin Chiriac die Wahl des Mottos und erwähnt als Beispiel die Lesungsreihe: "Da entsteht schon eine Gemeinschaft: zwischen Autor, Übersetzer, Schauspieler und Zuhörer". Im Konkreten spiegelte sich das Festspielmotto in einer Reihe von Inszenierungen. So reihten sich etwa ein Tanztheater aus Israel (Inbal Pinto & Avshalom Pollak Dance Company), Einmannshows aus Italien (Ascanio Celestini), mitreißende Straßendarbietungen (unter anderem aus Deutschland, Frankreich und Argentinien) neben Konzerte, Konferenzen, Buchpräsentationen und Ausstellungen.

"Seit 1993 komme ich hierher und habe jedes Jahr etwas Neues entdecken können", behauptet Noel Witts, Professor für Darstellende Künste an der englischen Universität von Leeds, und fährt fort: "Durch die nachhaltige Nutzung von Spielorten und Energieressourcen sowie das vielfältige Angebot für jeden Kulturliebhaber hat sich das Festival etabliert und ist mittlerweile – nicht nur in der Region – ein Motor für Veränderungen geworden".

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