"Es ist ein großes Spektakel", sagt Dieter Topp,
Präsident des Kulturforums Europa, "im besten Sinne ein Volksfest für
Hermannstadt, das sich sowohl optisch wie akustisch an vielen In- und
Outdoor-Spielorten und auch auf den dazwischen liegenden Straßen abspielt.
Es bietet von der zeitgenössischen Studioproduktion bis zur Großproduktion
Faust des einheimischen Nationaltheaters 'Radu Stanca' eine breite
Palette an: Jeder kann suchen und finden, was ihm gefällt."
Freiwilligentätigkeit um Mitternacht
Während
manche Besucher um Mitternacht im Klub des Nationaltheaters feiern, haben
andere erst jetzt Lust auf Musik und Theater. Denn ab Mitternacht
werden Vorstellungen der Kategorie "Underground" in den Cafés und Pubs
geboten. "Wir denken viel an die Jugend und haben für die diesjährige
Auflage des Festivals vor allem die Spielorte erweitert. Anders als im
Vorjahr bieten wir diesmal für die Vorstellungen der Off-Szene zehn
Räumlichkeiten anstatt nur zwei an", so Constantin Chiriac, Intendant der
Festspiele, der in der Früh die Pressekonferenz eröffnet, vormittags
Buchpräsentationen begleitet, tagsüber Journalistentreffen absolviert und am
späten Abend noch als Schauspieler in den Repertoirestücken des
Nationaltheaters – das Chiriac selbst leitet – zu sehen ist.
Für Hunderte von
ehrenamtlich Tätigen ist der Arbeitstag aber noch lange nicht vorbei. In der
Mitternachtssitzung werden etwaige Missstände besprochen und dadurch
die vorbildliche Gesamtorganisation noch weiter verbessert.
Freiwilligentätigkeit hat in Rumänien im Vergleich zu anderen Ländern der
Europäischen Union keine lange Tradition. Dennoch hat Hermannstadt eine bedeutende Plattform dafür
geschaffen. So arbeiten beim Internationalen Theaterfestival immerhin rund 200
Menschen ehrenamtlich. "Es ist eine sehr gute Erfahrung, neue Menschen aus
unterschiedlichen Kulturen kennenzulernen", meinen Flavius Retea und Mihai
Guta, beide Studenten am Schauspielinstitut der West-Universität Temeswar,
die zum ersten Mal freiwillig dabei sind. Während Mihai im Technikbereich tätig ist, betreut Flavius
die Teilnehmer.
Über die gelungene Organisation des Festivals
– nicht selbstverständlich
angesichts des umfangreichen Programms
– zeigen sich die
beiden beeindruckt, gestehen aber ein, dass bisweilen auch "Improvisationsfähigkeit" gefragt ist.
Zwei neue Formen, das Theater heute zu
lesen
Ganz
auf Improvisation legen der junge ungarische Regisseur Zoltán Balász und
sein vor zehn Jahren gegründetes Theater "Maladype" die Umsetzung von
Leonce und Lena an. Obwohl es zeitgleich mit dem Highlight
des Festivals, einer fünfstündigen Vorstellung von Dostojewskis Der Idiot
(Regie Eimuntas Nekrosius) spielt, kommen zahlreiche Besucher, um sich vom
neuen künstlerischen Konzept überraschen zu lassen. In knappen zwei Stunden
bringen neun Akteure Büchners bekanntes
Werk in einer originellen, unterhaltsamen und dynamischen Vorstellung auf
die Bühne. Viel gibt es zu staunen über den Erfindungsgeist des Regisseurs:
"Jede der 25 Szenen des Stückes ist in vier Varianten vorbereitet worden",
erklärt Balász vor Vorstellungsbeginn. Allein schon die Szenentitel, wie
"Jacuzzi", "Mission Impossible" oder "Britney",
machen im Vorfeld neugierig und sorgen dafür, dass Langeweile erst gar nicht aufkommt. Mit
großer Achtsamkeit gegenüber der Stimmung im Publikum adaptiert der Regisseur
die Anzahl und Reihenfolge der Szenen. Da für jede männliche Rolle jeder
Schauspieler eingesetzt werden kann, "verteilt" der Spielleiter jeweils bei
Szenenbeginn spontan die Rollen. Dementsprechend entwickeln die
Darsteller eine mitreißende Spielfreude und überzeugen durch ungeheuere
Energie und Präsenz.
Kein Geheimtipp mehr ist
für das Festivalpublikum "Yamanote Jijosha", eine
junge Avantgarde-Theatergruppe aus Japan. Nachdem sie 2009 Titus
Andronicus und 2010 Ödipus in Hermannstadt zeigten, wurde dieses
Jahr Keisei Hangonko ("Vom Erscheinen der toten Kurtisane im
Rauch des
Räucherstäbchens"), ein klassisches Stück des japanischen
Dramatikers Monzaemon Chikamatsu vorgeführt. Der Regisseur Masahiro Yasuda
setzte dabei voll auf den eigenen Performance-Stil "Yojo-han", der den
Schauspielern einen genauen Verhaltenskodex vorgibt: Zum einen in Ruhe
verharren und gleichzeitig eine schiefe Körperhaltung einnehmen immer dann,
wenn die
anderen Akteure gerade ihren Text vortragen; zum anderen sich weiterhin in
Zeitlupe bewegen, wenn niemand zu ihnen spricht. Dadurch entstehen
einzigartige ästhetische Gruppierungen. Emile Lansman, Gründer des
gleichnamigen belgischen Verlags, zeigt sich auf seinem Blog "fasziniert
von der Vorstellung der Japaner", von diesem "uns Europäer fremden, aber
umso spannenderen Spiel: der Auftritt der Personen, ihre Gesten und Mimik, die
ruckartige Bewegung ihrer Körper und dann deren Erstarrung. All das
ist ein exotischer Vorschlag, das Theater heutzutage zu lesen".
Österreich mit breit gefächertem
Angebot
Tosender
Applaus und absolute Begeisterungsstürme: Damit endete die
Burgtheater-Vorstellung Dorian Gray, die am 5. Juni den krönenden
Abschluss des diesjährigen Internationalen Hermannstädter Theaterfestivals
bildete. Gleich zwei Mal hintereinander wurde die eindrucksvolle
Inszenierung von Bastian Kraft gezeigt. "Das Burgtheater war einfach
fantastisch. So etwas habe ich noch nicht gesehen!", begeisterte sich die
rumänische Journalistin Christa Richter, die in ihrer Kritik in der
Hermannstädter Zeitung ergänzte: "Als Hauptdarsteller glänzte Markus Meyer
in einer Einmannshow, die als Perfektion bezeichnet werden kann."
Mit dem Musik-Theaterstück
Herzfleisch von René Freund stand eine weitere österreichische
Produktion auf dem Theaterprogramm der Festspiele. Das Litschauer Theater
Brauhaus präsentierte auf berührende Weise das Leben der Gebrüder Schrammel,
nachdem am warmen Sommerabend davor Hunderte Menschen die aus Österreich
stammende Schrammelmusik in der Michelsberger Burg bejubelt hatten. Dem Regisseur
Zeno Stanek, gleichzeitig Leiter des Kaiserverlags Wien, gebührt das Lob für
diese außergewöhnliche Produktion.
Nicht weniger als drei
Autorinnen und Autoren des Kaiserverlags wurden nach Hermannstadt
eingeladen. Ihre Stücke wurden in rumänischen Lesungen präsentiert und im
jährlichen zweisprachigen Anthologieband vorgestellt. Beeindruckend ist dabei die Bandbreite der
von der Koordinatorin des Bandes, Alina Mazilu, getroffenen Auswahl: Neben
dem in Frankreich lebenden, meistgespielten rumänischen Autor Matei
Vişniec, enthält die diesjährige Publikation Stücke von Dramatikern aus
Belgien, Bulgarien, Holland, Kroatien und Lettland.
"Gemeinschaften" als
Begegnungsplattform
Unter
dem Motto "Gemeinschaften" ("Comunităţi") markierten die Festspiele 2011
nunmehr ihr achtzehnjähriges Bestehen. Zum einen wurde damit die spirituelle
Begegnungsplattform thematisiert. Zum anderen aber hat das Programm für
regionale und internationale Entitäten sensibilisiert. "Ohne Gemeinschaften
werden wir in der heutigen, von Unruheherden geplagten Welt nicht
weiterkommen", begründet Constantin Chiriac die Wahl des Mottos und erwähnt
als Beispiel die Lesungsreihe: "Da entsteht schon eine Gemeinschaft:
zwischen Autor, Übersetzer, Schauspieler und Zuhörer". Im Konkreten
spiegelte sich das Festspielmotto in einer Reihe von Inszenierungen. So
reihten sich etwa ein Tanztheater aus Israel (Inbal Pinto
& Avshalom Pollak Dance Company), Einmannshows aus Italien (Ascanio
Celestini), mitreißende Straßendarbietungen (unter
anderem aus Deutschland, Frankreich und Argentinien) neben
Konzerte, Konferenzen, Buchpräsentationen und
Ausstellungen.
"Seit 1993 komme ich
hierher und habe jedes Jahr etwas Neues entdecken können", behauptet Noel
Witts, Professor für Darstellende Künste an der englischen Universität von
Leeds, und fährt fort: "Durch die nachhaltige Nutzung von Spielorten und
Energieressourcen sowie das vielfältige Angebot für jeden Kulturliebhaber
hat sich das Festival etabliert und ist mittlerweile – nicht nur in der
Region – ein Motor für Veränderungen geworden".