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Ganze zehn Tage lang
standen im rumänischen Hermannstadt die Uhren still:
Von
Irina Wolf |
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Der Startschuss für ein ebenso spannendes wie innovatives Kulturprogramm fiel an einem Freitagnachmittag: "Es war der fulminanteste Festivalstart aller bisherigen siebzehn Auflagen", gestand Constantin Chiriac, Intendant des Internationalen Theaterfestivals in Hermannstadt (Sibiu) am darauf folgenden Tag auf der Pressekonferenz. Zum Auftakt am 28. Mai gab es die Möglichkeit, gleich vier kontrastreiche Programmpunkte zu sehen. Für Theaterkenner bildete das legendäre "Odin Theatret" aus Dänemark mit der Vorstellung Ode to Progress unter der Regie von Eugenio Barba eindeutig den Höhepunkt des Abends. In einem bis auf den letzten Platz gefüllten Saal sorgte das britische Tanzensemble "Motion House" mit seiner explosiven Performance Scattered (Tropfen) für ein besonderes Erlebnis der Sinne. Ancient Art New Paths hieß das im Anschluss vorgeführte Puppenspiel der traditionsreichen "Quanzhou Marionettengruppe" aus China, das von minutenlangem Beifall und euphorischen Bravo-Rufen belohnt wurde. Schlusspunkt des
Abends bildete die französische Truppe "Transe Express" mit ihrer
spektakulären Straßenshow Mobilissimo. Über 40.000 Zuschauer
versammelten sich im Stadtzentrum, um die an Riesenkränen hängenden
Trommler, Bläser und Trapezkünstler, die in schwindelerregender Höhe neben
der Kirchturmspitze über den Großen Ring schwebten, zu bewundern. Absolute Höhepunkte: die Theaterlegenden Peter Brook und Eugenio Barba Unter dem Motto "Fragen" ("Întrebări") rief das diesjährige Festival Publikum und Künstler dazu auf, sich Gedanken über die bislang entstandenen Aufführungen zu machen: "Es sind nun zwanzig Jahre vergangen, seitdem die Länder Osteuropas, darunter auch Rumänien, ein neues Leben begonnen haben. Es ist selbstverständlich, dass wir uns zahlreiche Fragen stellen: Wer sind wir? Wohin treiben wir? Was ist unser Platz in der EU? Nach welchen Werten leben wir? Was ist die Rolle des Künstlers in einer Gesellschaft?", zählte Chiriac nur einige der vielen Fragen auf. Nicht umsonst hieß eines der am stärksten diskutierten Stücke der Festspiele Warum, warum, eine Koproduktion des Schauspielhauses Zürich zusammen mit dem Teatro Garibaldi di Palermo und Bart Production s.à.r.I. In seiner neuesten Inszenierung untersucht Peter Brook, der zu den wichtigsten Vertretern des zeitgenössischen europäischen Theaters gezählt wird, den kreativen Prozess von Theater. Dadurch entstand eine Textmontage jener Autoren und Künstler, die Brook am intensivsten beeinflusst haben, zuvorderst Shakespeare. Die Zweifel, die zum künstlerischen Schaffen gehören, fasste der Regisseur abschließend in der Frage "Warum?" zusammen. Eine großartige Miriam Goldschmidt wird dabei auf der Bühne von Francesco Agnello begleitet, der sie auf seinem "Hang" – ein in der Schweiz entwickeltes und noch kaum bekanntes Instrument – aufs Schönste unterstützt. Inside the
Skeleton of the Whale hieß die
zweite Produktion des renommierten "Odin Theatrets". Zur Verblüffung der
Zuschauer erfolgte der Eintritt zur Vorstellung nur nach Aufruf einer
VIP-Liste, woraufhin die außerhalb der Halle gebliebene Menschenmenge größer
als die der "Spezialgäste" war. Mit Rotwein, Oliven und Brot wurden die
glücklichen Teilnehmer zum "Letzten Abendmahl" empfangen. An zwei langen
gedeckten Tischen sitzend, durften sie der außergewöhnlichen Aufführung
–
einer Variation nach Franz Kafkas Prosatext "Vor dem Gesetz"
– beiwohnen. Der
Titel bezieht sich auf einen Vers des Evangeliums nach Matthäus: "Es
verlangt ein Zeichen; es wird ihm aber kein Zeichen gegeben werden als das
Zeichen des Propheten Jonas." Flackerndes Kerzenlicht hob die Stimmung noch
mehr hervor. Fast im Dunkeln spielten die acht Schauspieler des Odin
Theaters sich glänzend durch die Torhüterlegende, begleitet von
metaphysischen Versen aus den heiligen Schriften. Beeindruckendes Patrimonium Ebenfalls in einer Fabrikhalle fand die Inszenierung von Goethes Faust unter der Regie von Silviu Purcărete statt. "Ich würde meine Seele verkaufen, um Faust wieder zu sehen", behauptete Euan Fergusson von "The Observer" nach dessen Aufführung 2009 beim Internationalen Festival Edinburgh, bei dem Ofelia Popii mit dem Herald-Angel-Preis für ihre Rolle als Mephisto ausgezeichnet wurde. Wie schon im vorigen Jahr wurde der Parkplatz des Nationaltheaters für Ovids Metamorphosen – ebenfalls unter der Regie von Silviu Purcărete –, in ein riesiges Wasserbecken verwandelt. Neben diesen beiden Megaproduktionen des lokalen Nationaltheaters "Radu Stanca" gehört die wohl originellste Straßenbahnfahrt Rumäniens, Eine Straßenbahn namens Popescu (Regie: Gavriil Pinte), zu den meistgespielten Aufführungen der Festspiele. Glücklich und
froh zeigte sich Intendant Chiriac, gleichzeitig Direktor des heimischen
Theaters, bei der Pressekonferenz: "Aus unserem reichen und vielschichtigen
Patrimonium haben wir bei der heurigen Festival-Auflage zum ersten Mal
eine eigene Sektion gemacht." Elektra nach Sophokles und Euripides
(Regie: Mihai Măniuţiu), Turandot nach Carlo Gozzi (Regie: Andriy
Zholdak) und Breaking the waves or the blessed life of Bess, eine
Dramatisierung nach Lars von Trier unter der Regie des jungen Radu-Alexandru
Nica, sind nur eine repräsentative Auswahl wichtiger Repertoire-Stücke. Mit
großer Spannung wurden die zwei Premieren Berlin Alexanderplatz nach
Alfred Döblin (Regie: Dragos Galgoţiu) und A Guide to my reclaimed
childhood von Andrei Codrescu, Gavriil Pinte und Florentina Mocanu
(Regie: Gavriil Pinte) erwartet. Nicht ohne Stolz sprach Chiriac von
beachtlichen 68
Vorstellungen, die deren eine
Theatersaison umfasse, davon fünfzehn Premieren. "Wir sind das einzige
Theater in Rumänien, das monatlich um die fünf Produktionen an sieben
unterschiedlichen Aufführungsorten spielt." Literarische Brillanz Eines der Festivalziele ist es, die Theatertradition zu pflegen. Trotzdem setzt das erweiterte Rahmenprogramm bewusst auch auf neue Akzente. Mit mehr als 40 Ausstellern und 3.000 Titeln auf einer rund 700 Quadratmeter großen Ausstellungsfläche wurde heuer das Bookfest, die erste Buchmesse des Festivals unter dem Motto "Die Zeiten vergehen, die Bücher bleiben" ins Leben gerufen. Das Messegelände am Kleinen Ring war Treffpunkt nicht nur für Buchhändler, sondern auch für Multimedia-Anbieter und Hörbuchverlage. Die erstmalige Buchvorstellung des in die rumänische Sprache übersetzten Romans der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller stellte definitiv das diesjährige literarische Highlight dar. Die Präsentation von Müllers "Atemschaukel" setzte ein symbolisches Zeichen, wenn man bedenkt, dass die Geschichte der Deportierung Leo Aubergs in Hermannstadt seinen Anfang nahm. Für Chiriac ist
die Buchmesse jedoch nicht der einzige Programmpunkt aus dem
Literaturbereich des Festivals. "Wir selbst produzieren eine bemerkenswerte
Anzahl von Büchern. Bisher haben wir 56 Bände herausgegeben, darunter
jährlich einen zweisprachigen Anthologieband, der Theaterstücke von sieben
Dramatikern, davon zwei rumänische, vorstellt. Diese werden während des
Festivals täglich in Lesungen für Radioaufnahmen vorgespielt. Bislang wurden
102 Werke von uns präsentiert", räumt Chiriac ein. Die diesjährige
Anthologie enthielt Stücke von Conall Quinn (Irland), Nina Mitrović
(Kroatien), Koffi Kwahulé (Elfenbeinküste), Lia Bugnar und Ioan Peter (beide
aus Rumänien) sowie Felix Mitterer und Volker Schmidt, letztere mit
freundlicher Unterstützung des Kaiserverlags Wien. Ein Wohlfühlerlebnis mit hohem Unterhaltungsfaktor Das opulente Mehrspartenprogramm aus Sprech- und Tanztheater, Straßenshows, Konferenzen, Konzerten und Ausstellungen richtet sich an ein gemischtes Publikum, an Menschen unterschiedlichen Alters und Hintergrunds, die offen sind für Neues und mit Interesse an Kultur und Kulturen. Eugenio Barba, italienischer Autor und Regisseur und Gründer des Odin Theaters und der internationalen dänischen Theaterschule, setzte heuer den Reigen prominenter Konferenzredner fort. Bekannte Tanzgruppen, unter anderem die Kibbutz Contemporary Dance Company (Israel), die Splish-Splash Theatre Company (Griechenland) oder Masashi Mishiro Jazz Dance (Japan) führten zu schwungvollen Rhythmen ihr Können vor. Zu Begeisterungsstürmen kam es durch die One-Man-Pantomime-Show Traum des mittlerweile international bekannten rumänischen Tänzers Dan Puric. Die Liste der unterhaltsamen Programmpunkte wollte kein Ende nehmen. Fünfundsiebzig Minuten vom Feinsten bot der Schauspieler Samuel Fintzi vom Deutschen Staatstheater Berlin in dem Ein-Mann-Stück Tagebuch eines Wahnsinnigen von Gogol und verlieh dem zehntägigen Festival dabei ein besondere Note. Stark umjubelt wurde der aufsehenerregende Faust des georgischen Puppentheaters "The Basement Theater". Zu den vielen Highlights des Festivals zählten außerdem die Underground-Vorstellungen der rumänischen Alternativtheater "Luni im Klub Green Hours" Bukarest und "Yorick Studio" Târgu Mureş im neu entdeckten Spielraum Klub Zebrano. Ein Wohlfühlerlebnis mit hohem Unterhaltungsfaktor boten Straßenkünstler aus ganz Europa. Mit geballtem Programm an Comedy, dramatischer Feuerperformance und gewagter Akrobatik sowie einem attraktiven Kinderprogramm wurde die Innenstadt zu einer Oase der guten Laune für die ganze Familie. Die musikalische Reise durch die verschiedensten Musikrichtungen für jeden Geschmack, von Flamenco und indischer Musik über Folk, Beat und Roma-Musik bis hin zu traditioneller Musik aus dem Balkan und beliebten rumänischen Rockbands kam beim Publikum in der Fußgängerzone und auf der Zentralbühne am Großen Ring bestens an. Mit mehr als 350 Events in und um Hermannstadt präsentierte sich die XVII. Auflage der Internationalen Theaterfestspiele als kulturelles Großereignis. |