"Osta
şi,
vă
ordon: treceţi
Prutul!" (Soldaten, ich befehle euch: Überquert den Pruth!). So
lautete der am 22. Juni 1941 an die rumänische Armee gerichtete Befehl des
Generals Ion Antonescu. Diese sollte den Fluss namens Pruth, der Rumänien
vom damaligen Bessarabien (der heutigen Republik Moldau) trennt, überqueren
und das benachbarte Gebiet "vom bolschewistischen Joch" befreien. Heute noch
wird Antonescu, der selbsternannte
"Marschall" Rumäniens, als Nationalheld in den moldawischen
Geschichtsbüchern gefeiert. Dass der obige Befehl auch einen Holocaust in
Bessarabien zur Folge hatte, wird in der moldawischen Gesellschaft
freilich verschwiegen.
Um das öffentliche Bewusstsein für dieses Schicksal zu wecken, wurde die Performance Clear History
ins Leben gerufen. Die Produktion
des Theaters Spălătorie,
eines der zwei Theater der alternativen Szene der moldawischen Hauptstadt
Chişinău,
wurde erstmals in Deutschland Mitte Dezember 2012 im Rahmen des rumänischen
Theaterfestivals "Many Years After ..." gezeigt. Autorin und Regisseurin der
Performance ist Nicoleta Esinencu, eine der Gründerinnen des Theaters Spălătorie.
Übersetzt heißt dies "Wäscherei" (weil sich der Spielort im Keller einer
Wäscherei befindet). "Über den Holocaust in Bessarabien habe ich während
eines Stipendienaufenthaltes in Deutschland erfahren", begründet Esinencu,
die derzeit im Ausland bekannteste moldawische Dramatikerin, die
Entstehungsidee von Clear History, und fügt hinzu: "Dieser Teil der
Geschichte ist in den Lehrbüchern nicht vorhanden und wird dementsprechend
in der Schule nicht unterrichtet".
Esinencu
schafft es, mit nur drei Schauspielern (Veaceslav Sambriş,
Doriana Tălmăzan
und Irina Vacarciuc, alle drei überzeugend) eine bemerkenswerte Inszenierung
zu kreieren. Einen wesentlichen Baustein davon bildet das einfache, aber
umso wirkungsvollere Bühnenbild: nur zwei Sessel und zwei Mikrofone. Dazu
auf der Rückwand Videoprojektionen von Archivfilmszenen deportierter
Judenkolonnen oder
Überschriften von Zeitungsartikeln in
rumänischer Sprache (zum Beispiel: "vom Führer mit Orden ausgezeichnete
Rumänen"). Das umfangreiche Archivmaterial aus Rumänien und dem
Holocaust-Museum in Washington, die Daten aus der Volkszählung von 1930 (in
denen etwa der jüdische Einwohneranteil in Prozent der Bevölkerung
ersichtlich ist. In moldawischen Dörfern betrug dieser damals bis zu 88,9%),
die Tonaufnahmen von Interviews mit Zeitzeugen und Überlebenden aus Chişinau,
Odessa und den moldawischen Dörfern. Alle diese Daten ergeben ein
schockierendes Bild des Massakers, das in Bessarabien stattgefunden hat:
mehr als 250.000 aus ihren Häusern vertriebene, beraubte, gefolterte und in
den damaligen KZs nach Transnistrien deportierte "überreiche" Juden.
Die Entdeckung,
dass die Bevölkerung geschwiegen, ja sogar mitgemacht hat, war für die
Schauspieler das stärkste Erlebnis. "Es war schockierend herauszufinden,
dass dies in unseren Nachbardörfern passiert ist. Alle schweigen auch heute
noch. Sogar unsere Eltern waren verzweifelt, dass wir dieses Projekt
durchziehen wollten, und haben versucht, uns zu überzeugen, dass es besser
wäre, klassische Stücke zu spielen", gestehen Veaceslav Sambriş
und Doriana Tălmăzan.
Während
Sambriş und Vacarciuc
die aus den Interviews erfassten Geschichten erzählen, verfällt Tălmăzan,
die General Antonescu verkörpert, in eine nationalistische Suada. Dabei
wechselt die Sprache oft zwischen Moldawisch, Rumänisch, Russisch und
Ukrainisch. Äußerst einfallsreich ist Esinencus Idee, die zwei Erzähler auf
Sesseln sitzen zu lassen, während der "General" stehend die Bühne
beherrscht. Eindeutiger Höhepunkt der Vorstellung ist die Aufforderung Tălmăzans,
das Publikum die Worte Antonescus nachsprechen zu lassen. Totale
Überraschung im Berliner Hebbel-am-Ufer Theater. Viele rumänischsprachige
Zuschauer folgen dem Aufruf! Manche kichern noch dabei! "Das hat mich am
meisten beeindruckt", bemerkt verblüfft meine Berliner Freundin, die mit mir
die Vorstellung besucht hat, "wie viele tatsächlich, ohne zu reflektieren,
nachgesprochen haben". Nach anderthalb Stunden verlassen die Schauspieler
fast unbemerkt die Bühne. Minutenlang gibt es keinen Beifall. Andächtige
Stille herrscht im Publikum. Die Zuschauer starren auf die leere Bühne.
Zögernd beginnen die ersten zu klatschen. Jedoch kommen die Schauspieler
nicht mehr heraus, um sich zu verbeugen, sondern erscheinen erst später zum
Publikumsgespräch. Eine symbolische "Verbeugung" vor den Opfern?
Nicoleta
Esinencu und das Theater Spălătorie
haben hervorragendes Dokumentartheater geschaffen. Eine Performance, die
mehrere mögliche Schlüsse zulässt, aus denen das Publikum frei auswählen
kann. Dennoch bildet die einzige positive Geschichte den tatsächlichen
Vorstellungsschluss: Ein Jude wird von einer Moldawierin als "ihr Sohn"
aufgenommen. Dies ist seine Rettung. Um die düstere moldawische
Vergangenheit aufzuarbeiten, wird jedoch mehr als Clear History
notwendig sein.