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Reges Bedürfnis nach Neuem

"Foosbook" und "Spălătorie": Wie zwei freie Bühnen die moldauische Theaterszene antreiben.

 Von Irina Wolf
(26. 11. 2013)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.

 

 

 


(c) Florin Biolan

Mihai Fusu

 

 

 

Der Schauspieler und
Regisseur Mihai Fusu
gründete 2009 im Keller
des "Luceafărul"-Theaters
die erste Underground-
Spielstätte Chişinăus.

 

 

 


(c) www.goethe.de

Nicoleta Esinencu

 

 

 

Nicoleta Esinencu gilt als
bedeutendste moldauische
Dramatikerin. Mit ihrer
ersten, 2007 ins Leben
gerufenen Theatergruppe
 "Mobile European Trailer
Theatre" brachte sie in
Chişinău Aufführungen in
Café-Bars, Kunstgalerien,
Malateliers und auf
Freiluftterrassen.

 

 

 


(c) www.spalatorie.md

"WeArePorn"
(Regie: Viorel Pahomi)

 

 

 

Zu den umstrittensten
Tabuthemen gehören
der Umgang mit Pornogra-
fie und die sexuelle Erzie-
hung. Diese lösen regel-
mäßig in der moldauischen
Gesellschaft und Politik
lebhafte Diskussionen aus.

 

 

 


(c) www.henkel-cee.com

Pavel Brăila

 

 

 

Die Geburt des moldau-
ischen Dokumentartheaters
ist ebenfalls
Mihai Fusu
zu verdanken. Unterge-
bracht ist "Foosbook"
eher unauffällig
im
vierten Stock eines
Wohnhauses.

 

 

 


(c) www.austria.mfa.md

"Casa M"
(Regie:
Luminiţa Ticu)

 

 

 


Linktipp

www.spalatorie.md

   Von experimentellen, innovativen Inszenierungen ist im staatlichen Theatersektor der Republik Moldau nichts zu spüren. Rund zehn subventionierte Häuser, ausnahmslos Repertoiretheater, sind hauptsächlich in der Hauptstadt Chişinău konzentriert. Alle Spielstätten befinden sich im Zentrum und in Gehweite. Der Vorstellungsbeginn liegt einheitlich bei 18 Uhr. Dabei wird wöchentlich nur von Freitag bis Sonntag, in manchen Häusern sogar nur acht Mal pro Monat, gespielt. Aufgrund des geringen Budgets umfasst das Repertoire eine übersichtliche Auswahl an Stücken. Die Premieren (meistens eine einzige pro Saison) reichen manchmal bis ans Ende des vorigen Jahrhunderts zurück. Ausnahme macht das Nationaltheater, das täglich, außer montags, Vorstellungen bietet. Mit 50 Schauspielern und Schauspielerinnen ist es auch das Theater mit dem umfangreichsten fixen Ensemble. Mit zwei bis vier Premieren pro Saison bildet das Nationaltheater auch in diesem Fall die Ausnahme. Auf dem Programm stehen hauptsächlich Wiederaufnahmen von internationalen und rumänischen Klassikern (Tschechow, Gogol, Shakespeare, Molière, Gorki, Brecht, Caragiale, Alecsandri) und Romanadaptierungen. Ob rumänisch, russisch oder zweisprachig, alle Produktionen gehen auf traditionelle Theaterformen und den jahrzehntelangen Einfluss der russischen Theaterhochschulen zurück.

Gescheiterte Alternativversuche

   Versuche, langfristig alternative Spielorte zu schaffen, scheiterten teilweise an einem fehlerhaften Management sowie am Mangel an Produktionen, letztlich aber an fehlenden finanziellen Mitteln. So zum Beispiel die allererste, von Schauspieler, Regisseur und Professor Mihai Fusu 2009 im Keller des "Luceafărul"-Theaters gegründete Underground-Spielstätte Chişinăus. Das "Montagstheater" im "Club 513" sollte die moldauische Gegenwartsdramatik unterstützen sowie Crossover-Events zwischen Musik, Lesungen und Performance am Montag, am einzigen spielfreien Tag der staatlichen Theaterhäuser, präsentieren. Zu den im Laufe eines Jahres gezeigten Inszenierungen – länger hat das Theater nicht überlebt – zählen Footage von Nicoleta Esinencu (eine Performance über die landesinneren politischen Ereignisse vom 7. April 2009), Rodrigo Garcias Ronald. Der Clown von McDonalds, Neil LaButes Bash und RASSM (eine One-Man-Show von Mihai Fusu, basierend auf proletarisch-avantgardistischen Gedichten, die in der Zwischenkriegszeit in der Region Transnistrien entstanden sind).

Nicoleta Esinencu, die bedeutendste moldauische Dramatikerin, bekannt vor allem durch ihr sowohl in ihrer Heimat als auch in Rumänien 2005 kontrovers aufgenommenes schockierendes Stück Fuck You Eu.ro.Pa!, war ebenfalls ständig auf der Suche nach neuen Spielstätten in ihrem Geburtsort. Mit ihrer ersten, 2007 ins Leben gerufenen eigenen Theatergruppe "Mobile European Trailer Theatre" brachte sie in Chişinău Aufführungen in Café-Bars, Kunstgalerien, Malateliers und auf Freiluftterrassen. So etwa zuckerfrei (pure nature) und Gegenmittel (Antidot), eine in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut 2008 entstandene Produktion im Rahmen des Projektes "After the Fall. Europa nach 1989". Aber auch Esinencus METT-Initiative bestand nur kurz.

Das "Spălătorie"-Theater

   Mit der im November 2010 – zusammen mit der Kulturmanagerin Nora Dorogan – gegründeten Spielstätte "Spălătorie" leitete Esinencu endgültig die Wende ein. "Spălătorie" (zu deutsch "Wäscherei", der Name deutet auf dessen Standort in einer stillgelegten Wäscherei im Keller einer Bar hin), ist heute neben "Foosbook" eine der beiden freien Bühnen der alternativen Theaterszene Chişinăus, die länger als zwei Jahre überlebt hat. Sowohl Dorogan als auch Esinencu – beide Jahrgang 1978 – waren 2008 Stipendiaten in Dresden. Die zahlreichen internationalen Kontakte, die sie dabei geknüpft haben, kommen ihnen nun zugute. Denn eines der Ziele von "Spălătorie" ist die Förderung der internationalen Kommunikation. Dazu gehören: Einladung ausländischer Produktionen sowie die Vorstellung moldauischer Künstler, die im Ausland einen größeren Bekanntheitsgrad erlangt haben als in ihrer eigenen Heimat. Der ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchowytsch, der polnische Regisseur Wojtek Ziemliski oder der rumänische Schauspieler Florin Fluieraş sind nur einige der bisherigen Gastkünstler.

Dass die kulturelle Beziehung zu Rumänien besonders eng ist, sei hier unterstrichen. "Pacta sunt servanda" heißt die aus Bukarest eingeladene Video-Performance, in der die Künstlerin Anca Benera ein besonders heikles Thema anspricht: Transsylvaniens Geschichte, geschildert aus zwei Perspektiven, auf Basis der rumänischen und ungarischen Schulbücher. Erwartungsgemäß gab es zweierlei Betrachtungsweisen, die zu einer äußerst anregenden Vorstellung führten. Es folgten weitere Gastspiele, unter anderem aus Israel und England. Im Ausland durch seine Videoarbeiten und Performances seit Mitte der 90er Jahre auf zahlreichen internationalen Kunstausstellungen und Filmfestivals anerkannt, bleibt Pavel Brăila in seiner Geburtsstadt Chişinău fast unbekannt. Um diesen Zustand zu ändern, bemüht sich nun das "Spălătorie"-Theater, indem es den Künstler in vielen Projekten mitwirken lässt.

   "Spălătorie" produziert aber auch Inszenierungen in Eigenregie, die sich hauptsächlich den hausgemachten brandaktuellen sozialpolitischen Themen widmen. So entstanden als Reaktion auf die alltäglichen Ereignisse in der Republik Moldau unter anderem Sex erzählt den Großen (eine Performance von erotischen Gedichten über das ausgehängte Verkaufsverbot des Buches "Sex erzählt den Kleinen"), Moldova Sucks (eine Lesung von Texten ausländischer Autoren über die Republik Moldau) und Clear History (ein Dokumentartheater über eines der vielen moldauischen Tabuthemen, den bessarabischen Holocaust). All diese Produktionen tragen Esinencus Markenzeichen. Zu den umstrittensten Tabuthemen gehören der Umgang mit Pornografie und die sexuelle Erziehung. Diese lösen regelmäßig in der moldauischen Gesellschaft und Politik lebhafte Diskussionen aus und stehen deshalb des Öfteren auf dem "Spălătorie"-Spielplan. WeArePorn hieß eine der vielsagenden derartigen Performances, die Viorel Pahomi, moldauischer Schauspieler und Regisseur, produzierte.

Außerdem bietet "Spălătorie" auch ein Artist-in-Residence-Programm namens "Călcătorie" (Plätterei) an. Bogdan Georgescu, rumänischer Autor und Regisseur, begann als erster Teilnehmer mit einem fünfwöchigen Workshop; im Anschluss daran entstand seine Performance ROGVAIV. Ähnlich wie Esinencu und Pahomi nimmt auch Georgescu Stellung zu einem der heiklen Themen, die die moldauische Gesellschaft plagen. In diesem Fall ging es um das Antidiskriminierungsgesetz, das von der EU als Gegenleistung für Visumserleichterungen für die in die EU einreisenden moldauischen Staatsangehörigen verlangt wurde. Da das Gleichberechtigungsgesetz unter anderem auch die Rechte der Bürger, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung, berücksichtigen sollte, löste es 2011 endlose Diskussionen im Parlament aus. Nachdem die Kirche mehrfach die Gläubigen zu Demonstrationen aufrief, wurden die Gespräche zunächst vertagt. Erst ein Jahr später stimmten die Parlamentarier dem Gesetz mit geändertem Wortlaut zu.

Wichtig ist für "Spălătorie" auch die Einbeziehung und Teilnahme der Bürger an kulturellen Aktivitäten auf öffentlichen Plätzen der Stadt. Dafür wurde "Kompott", eine Straßeninitiative, gegründet. Zudem führt "Spălătorie", um Publikum zu gewinnen, Vorstellungen in mehreren Sprachen (Rumänisch, Russisch und Englisch) auf.

Das "Foosbook"-Theaterlabor

   Während "Spălătorie" sich hauptsächlich dem sozialpolitischen Theater zugewendet hat, ist "Foosbook"s Plattform nach drei Richtungen hin orientiert. Wie der Name schon sagt, ist dieser eine Anspielung auf das bekannte soziale Netzwerk Facebook. Dass sich "Foosbook" hauptsächlich dem Dokumentartheater widmet, ist nicht überraschend. Ist doch Mihai Fusu der Gründer des Theaterlabors (2012), das in einem unkonventionellen Raum im vierten Stock eines Wohnhauses untergebracht ist. Denn die Geburt des moldauischen Dokumentartheaters ist demselben unermüdlichen Künstler zu verdanken. Das siebte Kafana, ein Stück, das von Menschenhandel und Prostitution handelt, entstand 2001 nach einem Text von Dumitru Crudu, Nicoleta Esinencu und Mihai Fusu und wurde in der Regie von Fusu auf die Bühne gebracht. In dieser Innovation, sowohl vom Inhalt als auch der Ästhetik her, werden einerseits Archivmaterial, andererseits Interviews mit Zeugen verwendet, um daraus einen Text in der "Verbatim"-Technik zu entwickeln und den Zuschauern als Collage aus Monologen zu präsentieren. Im gleichen Stil entstand 2010 Casa M, ein Stück über Gewalt in der Familie, insbesondere gegen Frauen. Dass es sich dabei um erstklassiges Dokumentartheater handelt, davon zeugen die zahlreichen Festival-Einladungen (unter anderem in Moskau, Temeswar, Edinburgh, Tbilisi, Bukarest und Wien) und Preise. Darüber hinaus plant "Foosbook" eine Performance über das Schicksal verlassener, behinderter und verwaister Kinder.

Zu den Interessensschwerpunkten von "Foosbook" zählen ferner die Adaptierung moldauischer Romane wie Nekrotitanium (Autoren: Mitoş Micleuşanu und Florin Braghiş) und Sex und Perestroika von Constantin Cheianu sowie zeitgenössischer ausländischer Dramatik von Neil LaBute, Matei Vişniec und zahlreichen holländischen Autoren. Gleichzeitig ist das Theaterlabor Initiator der FINT Biennale. Luminiţa Țîcu, Regisseurin von Casa M und Nekrotitanium, rief 2011 das internationale Festival unter dem Motto "Feminismus" ins Leben.

   Was beide freien Theater vereint, ist die Gründungsidee – beide sind aus einer "Notwendigkeit" entstanden. Beiden ist noch die Beginnzeit (20 Uhr) und der Spieltag (Montag) gemeinsam. Was sie weiters vereint, ist die Größe des Spielortes. Sowohl die Aufführungen von "Foosbook" als auch die von "Spălătorie" finden in Räumlichkeiten mit einer Kapazität von jeweils rund 80 Zuschauern statt. Der immense Enthusiasmus und die maßlose Hingabe der Künstler, die teilweise noch in staatlichen Theatern unter Vertrag stehen, treibt sie an. Aktive Vorstellungen zu produzieren, die zu einer Stellungnahme, ja sogar zu einer Therapie ermutigen, ist ihr gemeinsames Ziel. Das Bedürfnis nach internationalen Treffen, Austausch und Kommunikation ist für beide selbstverständlich. Somit sind "Foosbook" und "Spălătorie" die derzeitigen Motoren der moldauischen Theaterszene.

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