Von
experimentellen, innovativen Inszenierungen ist im staatlichen Theatersektor
der Republik Moldau nichts zu spüren. Rund zehn subventionierte Häuser,
ausnahmslos Repertoiretheater, sind hauptsächlich in der Hauptstadt Chişinău
konzentriert. Alle Spielstätten befinden sich im Zentrum und in Gehweite.
Der Vorstellungsbeginn liegt einheitlich bei 18 Uhr. Dabei wird wöchentlich nur
von Freitag bis Sonntag, in manchen Häusern sogar nur acht Mal pro Monat,
gespielt. Aufgrund des geringen Budgets umfasst das Repertoire eine
übersichtliche Auswahl an Stücken. Die Premieren (meistens eine einzige pro
Saison) reichen manchmal bis ans Ende des vorigen Jahrhunderts zurück.
Ausnahme macht das Nationaltheater, das täglich, außer montags,
Vorstellungen bietet. Mit 50 Schauspielern und Schauspielerinnen ist es auch
das Theater mit dem umfangreichsten fixen Ensemble. Mit zwei bis vier
Premieren pro Saison bildet das Nationaltheater auch in diesem Fall die
Ausnahme. Auf dem Programm stehen hauptsächlich Wiederaufnahmen von
internationalen und rumänischen Klassikern (Tschechow, Gogol, Shakespeare,
Molière, Gorki, Brecht, Caragiale, Alecsandri) und Romanadaptierungen. Ob
rumänisch, russisch oder zweisprachig, alle Produktionen gehen auf
traditionelle Theaterformen und den jahrzehntelangen Einfluss der russischen
Theaterhochschulen zurück.
Gescheiterte Alternativversuche
Versuche,
langfristig alternative Spielorte zu schaffen, scheiterten teilweise an
einem fehlerhaften Management sowie am Mangel an Produktionen, letztlich
aber an fehlenden finanziellen Mitteln. So zum Beispiel die
allererste,
von Schauspieler,
Regisseur und Professor Mihai Fusu 2009 im Keller des "Luceafărul"-Theaters
gegründete Underground-Spielstätte Chişinăus. Das "Montagstheater" im "Club 513" sollte die moldauische Gegenwartsdramatik unterstützen
sowie Crossover-Events zwischen Musik, Lesungen und Performance am Montag,
am einzigen spielfreien Tag der staatlichen Theaterhäuser, präsentieren. Zu
den im Laufe eines Jahres gezeigten Inszenierungen – länger hat das Theater
nicht überlebt – zählen Footage von Nicoleta Esinencu (eine
Performance über die landesinneren politischen Ereignisse vom 7. April
2009), Rodrigo Garcias Ronald. Der Clown von McDonalds, Neil LaButes
Bash und RASSM (eine One-Man-Show von Mihai Fusu, basierend
auf proletarisch-avantgardistischen Gedichten, die in der Zwischenkriegszeit
in der Region Transnistrien entstanden sind).
Nicoleta
Esinencu, die bedeutendste moldauische Dramatikerin, bekannt vor allem durch
ihr sowohl in ihrer Heimat als auch in Rumänien 2005 kontrovers
aufgenommenes schockierendes Stück Fuck You Eu.ro.Pa!, war ebenfalls
ständig auf der Suche nach neuen Spielstätten in ihrem Geburtsort. Mit ihrer
ersten, 2007 ins Leben gerufenen eigenen Theatergruppe "Mobile European
Trailer Theatre" brachte sie in Chişinău Aufführungen in Café-Bars,
Kunstgalerien, Malateliers und auf Freiluftterrassen. So etwa zuckerfrei
(pure nature) und Gegenmittel (Antidot), eine in Zusammenarbeit
mit dem Goethe-Institut 2008 entstandene Produktion im Rahmen des Projektes
"After the Fall. Europa nach 1989". Aber auch Esinencus METT-Initiative
bestand nur kurz.
Das "Spălătorie"-Theater
Mit
der im November 2010 – zusammen mit der Kulturmanagerin Nora Dorogan –
gegründeten Spielstätte "Spălătorie" leitete Esinencu endgültig die Wende
ein. "Spălătorie" (zu deutsch "Wäscherei", der Name deutet auf dessen Standort in
einer stillgelegten Wäscherei im Keller einer Bar hin), ist heute neben
"Foosbook" eine der beiden freien Bühnen der alternativen Theaterszene
Chişinăus, die länger als zwei Jahre überlebt hat. Sowohl Dorogan als auch
Esinencu – beide Jahrgang 1978 – waren 2008 Stipendiaten in Dresden. Die
zahlreichen internationalen Kontakte, die sie dabei geknüpft haben, kommen
ihnen nun zugute. Denn eines der Ziele von "Spălătorie" ist die Förderung
der internationalen Kommunikation. Dazu gehören: Einladung ausländischer
Produktionen sowie die Vorstellung moldauischer Künstler, die im Ausland
einen größeren Bekanntheitsgrad erlangt haben als in ihrer eigenen Heimat.
Der ukrainische Schriftsteller Jurij Andruchowytsch, der polnische Regisseur
Wojtek Ziemliski oder der rumänische Schauspieler Florin Fluieraş sind nur
einige der bisherigen Gastkünstler.
Dass die
kulturelle Beziehung zu Rumänien besonders eng ist, sei hier unterstrichen.
"Pacta sunt servanda" heißt die aus Bukarest eingeladene Video-Performance,
in der die Künstlerin Anca Benera ein besonders heikles Thema anspricht:
Transsylvaniens Geschichte, geschildert aus zwei Perspektiven, auf Basis der
rumänischen und ungarischen Schulbücher. Erwartungsgemäß gab es zweierlei Betrachtungsweisen, die zu einer äußerst anregenden
Vorstellung führten. Es folgten weitere Gastspiele, unter anderem aus Israel
und England. Im Ausland durch seine Videoarbeiten und Performances seit
Mitte der 90er Jahre auf zahlreichen internationalen Kunstausstellungen und
Filmfestivals anerkannt, bleibt Pavel Brăila in seiner Geburtsstadt Chişinău
fast unbekannt. Um diesen Zustand zu ändern, bemüht sich nun das
"Spălătorie"-Theater, indem es den Künstler in vielen Projekten mitwirken
lässt.
"Spălătorie"
produziert aber auch Inszenierungen in Eigenregie, die sich hauptsächlich
den hausgemachten brandaktuellen sozialpolitischen Themen widmen. So entstanden
als Reaktion auf die alltäglichen Ereignisse in der Republik Moldau unter
anderem Sex erzählt den Großen (eine Performance von erotischen
Gedichten über das ausgehängte Verkaufsverbot des Buches "Sex erzählt den
Kleinen"), Moldova Sucks (eine Lesung von Texten ausländischer
Autoren über die Republik Moldau) und Clear History (ein
Dokumentartheater über eines der vielen moldauischen Tabuthemen, den
bessarabischen Holocaust). All diese Produktionen tragen Esinencus
Markenzeichen. Zu den umstrittensten Tabuthemen gehören der Umgang mit
Pornografie und die sexuelle Erziehung. Diese lösen regelmäßig in der
moldauischen Gesellschaft und Politik lebhafte Diskussionen aus und stehen
deshalb des Öfteren auf dem "Spălătorie"-Spielplan. WeArePorn hieß
eine der vielsagenden derartigen Performances, die Viorel Pahomi,
moldauischer Schauspieler und Regisseur, produzierte.
Außerdem bietet
"Spălătorie" auch ein Artist-in-Residence-Programm namens "Călcătorie"
(Plätterei) an. Bogdan Georgescu, rumänischer Autor und Regisseur,
begann als erster Teilnehmer mit einem fünfwöchigen Workshop; im Anschluss
daran entstand seine Performance ROGVAIV. Ähnlich wie Esinencu und
Pahomi nimmt auch Georgescu Stellung zu einem der heiklen Themen, die die
moldauische Gesellschaft plagen. In diesem Fall ging es um das
Antidiskriminierungsgesetz, das von der EU als Gegenleistung für
Visumserleichterungen für die in die EU einreisenden moldauischen
Staatsangehörigen verlangt wurde. Da das Gleichberechtigungsgesetz unter
anderem auch die Rechte der Bürger, unabhängig von ihrer sexuellen
Orientierung, berücksichtigen sollte, löste es 2011 endlose Diskussionen im
Parlament aus. Nachdem die Kirche mehrfach die Gläubigen zu Demonstrationen
aufrief, wurden die Gespräche zunächst vertagt. Erst ein Jahr später
stimmten die Parlamentarier dem Gesetz mit geändertem Wortlaut zu.
Wichtig ist für
"Spălătorie" auch die Einbeziehung und Teilnahme der Bürger an kulturellen
Aktivitäten auf öffentlichen Plätzen der Stadt. Dafür wurde "Kompott", eine
Straßeninitiative, gegründet. Zudem führt "Spălătorie", um Publikum zu
gewinnen, Vorstellungen in mehreren Sprachen (Rumänisch, Russisch und
Englisch) auf.
Das "Foosbook"-Theaterlabor
Während
"Spălătorie" sich hauptsächlich dem sozialpolitischen Theater
zugewendet hat,
ist "Foosbook"s Plattform nach drei Richtungen hin orientiert. Wie der Name
schon sagt, ist dieser eine Anspielung auf das bekannte soziale Netzwerk
Facebook. Dass sich "Foosbook" hauptsächlich dem Dokumentartheater widmet,
ist nicht überraschend. Ist doch Mihai Fusu der Gründer des Theaterlabors
(2012), das in einem unkonventionellen Raum im vierten Stock eines
Wohnhauses untergebracht ist. Denn die Geburt des moldauischen
Dokumentartheaters ist demselben unermüdlichen Künstler zu verdanken. Das
siebte Kafana, ein Stück, das von Menschenhandel und Prostitution
handelt, entstand 2001 nach einem Text von Dumitru Crudu, Nicoleta Esinencu
und Mihai Fusu und wurde in der Regie von Fusu auf die Bühne gebracht. In
dieser Innovation, sowohl vom Inhalt als auch der Ästhetik her, werden
einerseits Archivmaterial, andererseits Interviews mit Zeugen verwendet, um
daraus einen Text in der "Verbatim"-Technik zu entwickeln und den Zuschauern
als Collage aus Monologen zu präsentieren. Im gleichen Stil entstand 2010
Casa M, ein Stück über Gewalt in der Familie, insbesondere gegen Frauen.
Dass es sich dabei um erstklassiges Dokumentartheater handelt, davon zeugen
die zahlreichen Festival-Einladungen (unter anderem in Moskau, Temeswar,
Edinburgh, Tbilisi, Bukarest und Wien) und Preise. Darüber hinaus plant
"Foosbook" eine Performance über das Schicksal verlassener, behinderter
und verwaister Kinder.
Zu den
Interessensschwerpunkten von "Foosbook" zählen ferner die Adaptierung
moldauischer Romane wie Nekrotitanium (Autoren: Mitoş Micleuşanu und
Florin Braghiş) und Sex und Perestroika von Constantin Cheianu sowie
zeitgenössischer ausländischer Dramatik von Neil LaBute, Matei Vişniec und
zahlreichen holländischen Autoren. Gleichzeitig ist das Theaterlabor
Initiator der FINT Biennale. Luminiţa
Țîcu,
Regisseurin von Casa M und Nekrotitanium, rief 2011 das
internationale Festival unter dem Motto "Feminismus" ins Leben.
Was
beide freien Theater vereint, ist die Gründungsidee – beide sind aus einer
"Notwendigkeit" entstanden. Beiden ist noch die Beginnzeit (20 Uhr) und der
Spieltag (Montag) gemeinsam. Was sie weiters vereint, ist die Größe des
Spielortes. Sowohl die Aufführungen von "Foosbook" als auch die von
"Spălătorie" finden in Räumlichkeiten mit einer Kapazität von
jeweils rund 80
Zuschauern statt. Der immense Enthusiasmus und die maßlose Hingabe der
Künstler, die teilweise noch in staatlichen Theatern unter Vertrag stehen,
treibt sie an. Aktive Vorstellungen zu produzieren, die zu einer
Stellungnahme, ja sogar zu einer Therapie ermutigen, ist ihr gemeinsames
Ziel. Das Bedürfnis nach internationalen Treffen, Austausch und
Kommunikation ist für beide selbstverständlich. Somit sind
"Foosbook" und "Spălătorie" die derzeitigen Motoren der moldauischen
Theaterszene.