
Irina Wolf
irinawolf10 [at]
gmail.com
Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und
Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.



(c) Cesare Fabbri
Während die Zuschauer
auf einer Tribüne mitten
auf der Bühne sitzen, ist
der Spielraum in den
großen Theatersaal
versetzt worden.

(c) Cesare Fabbri
Der Kontrast zu den in
Schwarz gekleideten
Chormitgliedern ist gewal-
tig. Geräuschlos irren die
Seelen zwischen den roten
Sitzen herum, fallen und
erheben sich wie Wellen
eines stürmischen Meeres.

(c) Cesare Fabbri |
Aussehen
tut sie wie der Eiserne Vorhang. Eine mit einer Flut von Zahlen beschriftete
Container-ähnliche Wand trennt die Bühne vom Saal. "Da soll einer was lesen?
Man kapiert rein gar nichts. Ein einziges Durcheinander", lauten auch die
ersten Worte des in einem Militärkostüm davorstehenden Mannes. Die
zahlreichen Medaillen auf der Jacke zeugen von seiner Tapferkeit. Er trägt
hellblaue Handschuhe und eine extra dunkle Sonnenbrille. Die Ähnlichkeit mit
Muammar al-Gaddafi ist auffallend. Kein Wunder, hat doch Marco Martinelli
die Hauptfigur von Wassergeräusch, seinem international gefeierten
Theaterstück, in Anlehnung an den libyschen Diktator geschrieben.
Es war 2008, als
Autor und Regisseur Marco Martinelli und Bühnen- und Kostümbildnerin Ermanna
Montanari – Gründer des Teatro delle Albe – in Mazara del Vallo, in der
südlichsten Gemeinde Siziliens, die Geschichten von Verzweifelten, die ihren
Traum von einem besseren Leben verwirklichen wollten, zusammengetragen haben.
Fast ein Jahrzehnt später ist kaum ein Thema so aktuell wie die Tausenden im
Mittelmeer ertrunkenen Bootsflüchtlinge, die tagtäglich für Schlagzeilen
sorgen. Doch überrascht Wassergeräusch durch eine ungewöhnliche
Dramaturgie. Denn Martinelli erzählt nicht die Ereignisse, sondern stellt
die Figur eines teuflischen Generals in den Mittelpunkt, der von einem
Phantom-Ministerium beauftragt ist, die Toten der Überfahrten zu
katalogisieren und zu "archivieren". Es war die Besonderheit dieser
Dramaturgie, die Daniel Cordova, künstlerischer Leiter des
Théâtre le Manège und des Festivals au Carré, dazu bewegt hat,
Martinellis brisantes Stück aufzugreifen und in das Veranstaltungsprogramm
von Mons, Kulturhauptstadt Europas 2015, in einer Chorversion zu
integrieren.
So
entstand eine zweiteilige Produktion, dessen symbolischer Titel,
Le c(h)oeur montois de Marco Martinelli, auf
ihre Herzlichkeit einerseits, andererseits aber auf ihre Originalität
verweist. Denn ein aus 65 Bürgern aller Altersgruppen zusammengesetzter Chor
verkörpert die Seelen der Verstorbenen. Die von 8 bis 93 Jahre alte
Chormitglieder belagern im ersten Teil, einer Inszenierung von
Wassergeräusch, den General. Der zweite Teil heißt Irrglaube des
Glücks und ist ein fröhliches Ereignis, das die Tragödie der
Bootsflüchtlinge in die utopische Welt des Wladimir Majakowski versetzt.
Einmalig ist
auch das Bühnenbild. Denn im Théâtre Royal sind die Räume vertauscht:
Während die Zuschauer auf einer Tribüne mitten auf der Bühne sitzen, ist der
Spielraum in den großen Theatersaal versetzt worden. Über den roten Sesseln
erheben sich drei Podeste, womöglich mehrere 'Inseln' im blutigen
Mittelmeer. Mittig erstreckt sich eine lange Plattform, rechts und links
davon zwei kleinere. "Die Produktion in verschiedenen Räumen zu schaffen,
begeistert mich! Der Ort inspiriert mich. Ich spüre sofort seine Energie und
hole nur noch das Hauptmerkmal des Raumes ein", erzählt Ermanna Montanari
die Entstehungsgeschichte des Bühnenbildes.
Zweifelsohne zählt die Ausstattung in Mons zu
den gelungensten ihrer Kreationen.
Auf
dem links errichteten kleinen Podest sitzen die aus Sizilien stammenden
Brüder Mancuso. Ihre leidenschaftlichen Stimmen gehen unter die Haut. Durch
den zauberhaften Klang ihrer traditionellen Instrumente sorgen sie für die
passende musikalische Untermalung. Musik und Erzählung verschmelzen
miteinander. Die Geschichten von Yusuf, Sakina, Jasmin und dem kleinen
Jean-Baptiste scheinen den Zahlen Gesichter zu geben. Symbolträchtig ist die
dritte, mit Kohlen bedeckte Plattform. Obwohl während der gesamten
Vorstellung unbenützt, ist sie eine Hommage an die ehemalige Zechen- und
Grubenstadt Mons und an die vulkanische Insel Ferdinandea.
Mit einer
ausgefeilten Lichtregie
–
wofür Enrico Isola verantwortlich zeichnet
–
und der klug eingesetzten Livemusik
wird jede Emotion verstärkt. Die grellweiße Beleuchtung der zentralen
Plattform hebt die Figur des Generals hervor. Ansehnlich die Leistung des
belgischen Schauspielers Karim Barras! Das von ihm an die Wände geworfene
Schattenbild zeugt von seiner dämonischen Ader. Der
Kontrast zu den in Schwarz gekleideten Chormitgliedern ist gewaltig.
Geräuschlos irren die Seelen zwischen den roten Sitzen herum, fallen und
erheben sich wie Wellen eines stürmischen Meeres (Chorleiterin Michela
Marangoni). Die Interaktion des Militärs mit den 'Toten'
ist gekonnt gelöst: "3389
–
nicht identifiziert, 569
–
nicht identifiziert, 16781
–
nicht identifiziert". Die als
Zahlen Verkleideten behaupten ihr
Recht auf Anerkennung. Die Aufgabe des Generals
ist dennoch zum Scheitern verurteilt. Schlussendlich
bedecken die Opfer mit ihrer schwarzen Kleidung die zentrale Plattform.
Währenddessen wiederholt der Protagonist vom Balkon des Theatersaals mit
fast nicht vernehmbarer Stimme: "Ich kann nicht
lesen, ich kann nicht lesen...".
Im Gegensatz dazu beruhigen sich
im zweiten Teil die "Wassergeräusche". Irrglaube des Glücks findet
seinen Ursprung im non-scuola-Labor, das vor zwanzig Jahren von
Martinelli initiierte informelle Bildungsprojekt. Ziel war es, "Jugendlichen
die Möglichkeit zu geben, die Kraft des dionysischen Theaters zu entdecken".
Nach einer kurzen Pause sind die Spielräume wiederum getauscht. Schon beim
Betreten des Saals fallen die gelben Hemden des auf der Bühne stehenden
Chores auf. Mit großer Überzeugung und Begeisterung rezitieren die
Chormitglieder Verse aus Majakowskis Gedichten. Ihre intensiven Töne
schaffen die Illusion einer idealistischen Welt
–
und das auf Französisch, Flämisch, Deutsch und Italienisch. Kontinuierlich
und prägnant als Hintergrundmusik eingesetzt erklingt die Internationale.
Unter der sorgfältigen Leitung von Martinelli starten die
nichtprofessionellen Darsteller zarte Berührungs- und Umarmungsversuche und
laden schließlich das Publikum zum Tanzen ein. Erst dann hat die Liebe
gewonnen.
Fazit: Mit
beeindruckender Menschenführung dringt Martinellis Inszenierung
in die menschliche Seele und
löst starke Gefühle aus. Le c(h)oeur montois ist ein überwältigender,
beeindruckender Theaterabend, der jeden Zuschauer unmittelbar
anspricht und noch Wochen später nicht loslässt. |
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