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Ewig Kinder sollt ihr sein

Călin Peter Netzers mit dem Goldenen Bären belohnter Film Child’s Pose zeigt
 vordergründig die Geschichte einer neurotischen Mutter-Sohn-Beziehung. Er wirft zugleich aber
auch ein bezeichnendes Licht auf das erschreckende Ausmaß an Korruption, das die rumänische
Polizei, Justiz und Gesundheitswesen noch immer durchzieht. Child's Pose ist zuletzt aber
auch ein Film, der unterschwellig für mehr Kommunikation und echte Liebe wirbt.

Von Irina Wolf
(06. 05. 2013)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.

 

 

  

Child's Pose
(Filmplakat)
 


Synopsis

An einem kalten Märzabend
rast Barbu mit 50 Stundenkilo-
metern mehr als erlaubt über
die Straßen und reißt dabei
ein Kind mit sich. Der Junge
stirbt kurz nach dem Unfall.
Als Strafe droht Barbu eine
Gefängnishaft zwischen drei
und 15 Jahren. Höchste Zeit
für seine Mutter Cornelia, ins
Geschehen einzugreifen ...
 

 


(c) www.berlinale.de

Regisseur Călin Peter
Netzer und Produzentin
Ada Solomon: Goldener
Bär für den Besten Film.

   Wollen Eltern tatsächlich ihre Träume durch ihre Kinder verwirklichen? Das ist zumindest die Meinung von Cornelia, der von Mutterliebe besessenen Frau in Child’s Pose (Poziţia copilului). Der Gewinner und Preisträger der 63. Berlinale kommt erstmals aus Rumänien. Er erzählt die dramatische Geschichte einer Mutter und ihres Sohnes, der bei einem Verkehrsunfall ein Kind totgefahren hat. Von maßloser Mutterliebe bis zum Exzess vorangetrieben, kämpft Cornelia (Luminiţa Gheorghiu) mit allen Mitteln darum, ihren Sohn Barbu (Bogdan Dumitrache) vor dem Gefängnis zu bewahren. Als Mitglied der bürgerlichen Oberschicht setzt sie, eine gelernte Architektin, ihr Vermögen und ihre soziale Stellung ein, um ihren lethargischen Sohn (ein Doktorand im Bereich Chemie) zu entlasten. Ausschlaggebende Dokumente vor den Augen der Polizei zu fälschen, Zeugen zu Falschaussagen zu veranlassen, sogar die Eltern des toten Kindes mit Geld zu kaufen, sind für Cornelia selbstverständlich.

Mit viel Gefühl und Humor schildert Regisseur Călin Peter Netzer, der auch das Drehbuch zusammen mit Răzvan Rădulescu schrieb, die abnorme Mutter-Sohn-Beziehung. "Zum Teil enthält der Film autobiografische Elemente, denn als Basis des Drehbuchs diente die missglückte Beziehung zu unseren Müttern", sagt der Regisseur in einem Interview mit der rumänischen Kulturzeitschrift Observator Cultural. "Meine Mutter ist zum Beispiel bestürzt, dass ich keine deutschen Bücher mehr lese. Daher bringt sie mir ständig Artikel aus dem Spiegel mit, die ihrer Meinung nach interessant sind", fährt Netzer fort. In ähnlicher Weise versucht Cornelia ihren Sohn zu zwingen, Herta Müller und Orhan Pamuk zu lesen. Das sind die ersten Sachen, die sie aus dem Bücherregal ausräumt und in den Koffer packt, als sie den nach dem Verkehrsunfall noch unter Schock stehenden Barbu von der Wohnung der Lebensgefährtin mit nach Hause schleppt. Dass so eine krankhafte Beziehung sogar ins Perverse ausarten kann, davon zeugt die Szene, in der Cornelia mit einem Latex-Einweghandschuh ihrem Sohn eine Rückenmassage verpasst. "Der Handschuh ist eine Art Kondom, deutet also auf eine Inzestbeziehung hin. Damit wollte ich die Ursache der Neurose, unter der Barbu leidet, verdeutlichen", erklärt der Regisseur.

   Vor allem aber verwandelt die souveräne schauspielerische Glanzleistung von Luminiţa Gheorghiu Child’s Pose in ein weiteres ergreifendes Meisterwerk der "rumänischen New Wave". Auch im deutschen Raum ist sie keine Unbekannte, arbeitete sie doch im Jahr 2000 zusammen mit Michael Haneke an dem französisch-deutsch-rumänischen Film Code: unbekannt (Code Unknown: Incomplete Tales of Several Journeys). Als Cornelia setzt die Hauptdarstellerin ihre inneren Empfindungen hervorragend in Mimik und Gestik um. Am Anfang wirkt sie kühl und berechnend. Erst in der Schlussszene kommt ihre menschliche Seite zum Vorschein. Diese aus dem Inneren des Autos heraus gedrehte, in den Seitenspiegeln sichtbare Szene, erregt besonderes Aufsehen. Im Übrigen wechselt der Regisseur geschickt zwischen halbdokumentarischen Mitteln, turbulenten Dialogen und Frontalaufnahmen. Eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass Netzer den Film mit spartanischen Mitteln in nur 30 Tagen drehte. Schon am ersten Wochenende hat Child’s Pose in Rumänien einen Zuschauer-Rekord aufgestellt. Über 19.000 Besucher (die höchste Anzahl des letzten Jahrzehnts!) wohnten der Premiere in Bukarest am 8. März bei.

Spätestens seit Cristian Mungius Spielfilm 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage, der unter anderem 2007 mit der Goldenen Palme der Filmfestspiele von Cannes ausgezeichnet wurde, ist das "neue rumänische Kino" in Westeuropa bekannt. Authentisch und dokumentarisch wirkende Filme, gekennzeichnet durch filmischen Realismus, üben Kritik an Politik und Gesellschaft. So gibt auch Netzers Child’s Pose gleichzeitig einen Einblick in das Leben der rumänischen zeitgenössischen Elite. Gleichermaßen wirft der Spielfilm ein bezeichnendes Licht auf den Zustand gesellschaftlicher Institutionen wie Polizei, Justiz und Gesundheitswesen und das erschreckende Ausmaß an Korruption, das in ihnen herrscht.

   Fazit: Ein solides und lehrreiches Werk, das zur Meditation über die Beziehung zu unseren Nächsten aufruft und unterschwellig für mehr Kommunikation und echte Liebe wirbt.

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