In
ein lebhaftes Gespräch vertieft, hört sie nicht auf die sich nähernden
Gestalten. Erst als diese sich über sie beugen, zuckt sie zusammen.
Blitzschnell kommt der Kuss. Sie schaut auf: drei gottähnliche Menschen
blicken auf sie. Die nur in Sandalen und kurze Röcke gekleideten Männer
gehören zur französischen Straßengruppe Les Goulus. Mit ihren Pfeilen
und Bögen versuchen sie, "ins Herz der Dame zu treffen" und dadurch ihre
Liebe zu erwecken. Dass diese Vorstellung – inmitten der Fußgängerzone im
rumänischen Sibiu (Hermannstadt) – durchaus für einige Erheiterung sorgte,
verwundert nicht. Les Coupidons war freilich nur eine von vielen
vergleichbaren Straßenveranstaltungen, die Anfang Juni Tausende Besucher in
Sibius Innenstadt lockte. Das vor zwanzig Jahren in der entzückenden
mittelalterlichen Stadt in Siebenbürgen gegründete Festival fand 2013 unter
dem Motto Dialog statt. Was 1994 als bescheidene Theaterveranstaltung
begann, ist heute ein internationales Großereignis. Schon 2007, als Sibiu
(neben Luxemburg) den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt trug, nahmen
2500 Künstler aus über siebzig Ländern an den Festspielen teil. Das überaus vielfältige Angebot der heurigen
Jubiläumsedition umfasste Theateraufführungen, Tanz-, Zirkus-, Musik- und
Straßenvorstellungen. Dazu gehörten noch zahlreiche Konferenzen, Lesungen,
Buchpräsentationen, Ausstellungen und Filmabende.
Im
Dialog mit weltweit bekannten Künstlern
Dass
es dem wie immer energiegeladenen Intendanten Constantin Chiriac gelingt,
die Erwartungen der Zuschauer jedes Mal aufs Neue zu übertreffen,
scheint schier unmöglich. Und doch schafft er es immer wieder, die Besucher
zu überraschen. Schon seit mehreren Jahren ist er bemüht, viele bekannte
Persönlichkeiten anlässlich des Festivals zu begrüßen. Peter Stein, Jan
Lauwers, Eugenio Barba sind nur einige der großen Namen, deren Werke bisher
in Sibiu zu bewundern waren. Damit soll einerseits der Geschmack des
Publikums geschärft, andererseits den rumänischen Künstlern ermöglicht
werden, mit den neuesten Formen und Konzepten der internationalen
Theaterszene in Kontakt zu bleiben.
Auch für dieses
Jahr ließ sich der Intendant etwas Besonderes einfallen. So wurde für das
20-jährige Jubiläum des Festivals, das vom 7. bis 16. Juni stattfand, den
Theaterschulen eine eigene Sektion gewidmet. Pünktlich um Mitternacht
zeigten Jugendliche der Schauspielschulen und -akademien aus Kanada,
Großbritannien, Kroatien, Serbien, den USA und Rumänien vielversprechende
Aufführungen. Andererseits nahmen sie tagsüber an den zahlreichen Workshops
und Seminaren teil. Die Fülle von Themen erstreckte sich von szenischem
Schreiben über Stimm- und Bewegungsübungen bis hin zu Masken- und
Musikeinsatz. Als Workshopleiter bzw. Konferenzvortragende konnten mehrere
international bekannte Künstler gewonnen werden, unter anderem Iwan
Wyrypajew (russischer Dramatiker, Schauspieler und Regisseur), Esteve Soler
(katalanischer Dramatiker), Declan Donnellan (britischer Theaterregisseur),
Erhard Stiefel, Duccio Bellugi-Vannuccini und Jean-Jacques Lemêtre
(Maskenbildner bzw. Musiker des berühmten französischen Theaterkollektivs
Théâtre du Soleil).
Für mich
persönlich war die Begegnung mit Rodrigo Garcia von besonderer Bedeutung.
Garcia zählt zu den kontroversesten zeitgenössischen Kunstschaffenden. Der
seit 1986 in Spanien niedergelassene gebürtige Argentinier, Regisseur und
Autor, ist bekannt für seine provokanten Texte. Besonders intensive
Diskussionen rufen aber seine Inszenierungen hervor: Schockierende Szenen
von nackten Körpern, gequälten Tieren und verbrannten Büchern gehören zu
seinen ästhetisch am häufigsten eingesetzten Mitteln. "Heutzutage wird zu
wenig gelesen. Durch die Misshandlung von Büchern versuche ich darauf
aufmerksam zu machen", sagt Garcia, und fährt fort: "Kunst darf nicht prüde
sein. Die Zuschauer sollen jedes Mal etwas sehen, womit sie nie vorher
konfrontiert waren".
Vereinte europäische Theaterfestivals
Dass
das Nationaltheater "Radu Stanca" aus Sibiu weit über die Landesgrenzen
hinaus bekannt ist, weiß man spätestens seit dessen Teilnahme 2009 am
Internationalen Theaterfestival Edinburgh mit der Megaproduktion Faust
(Regie Silviu Purcărete). Der grandiose Erfolg führte 2012 zur Koproduktion
Gulliver’s Reisen, ebenfalls in Purcăretes Regie. Constantin Chiriac,
zugleich Direktor des Nationaltheaters, hat sich weitaus höhere Ziele
gesteckt. So wird beim Avignon-Theaterfestival 2014 Gianina Cărbunarius
neuestes Stück Solitaritate aufgeführt. Die im deutschsprachigen Raum
bekannteste rumänische Dramatikerin hat sich diesmal dem Roma-Problem
zugewandt. Die originelle Koproduktion zwischen dem Odéon-Théâtre de
l’Europe, dem Nationaltheater der französischen Gemeinde aus Belgien und dem
Nationaltheater "Radu Stanca" ist im Rahmen des EU-finanzierten Projektes
Cities on Stage entstanden und feierte Vorpremiere in Sibiu.
Natürlich fehlte
es nicht an außerordentlichen Aufführungen. Sie sorgten für volle Säle. Sei
es eine fünfstündige klassische Theatervorstellung (Dante Alighieris
Göttliche Komödie unter der Leitung des litauischen Regisseurs Eimuntas
Nekrošius), eine Tanzproduktion (Sasha Waltz mit der eigenen Choreographie
Continu), ein Puppentheater (The Table von Blind Summit
Theatre, auch bei den Wiener Festwochen 2013 auf dem Programm) oder
Figurentheater (Salto Lamento aus Tübingen)
−
es war für jeden Geschmack etwas dabei. Zehn Tage lang spannendes und
abwechslungsreiches Programm, eine breite Unterhaltungspalette, ein reger
Gedankenaustausch, kreative Kommunikation und hochqualitativer
interkultureller Dialog. Das war Sibiu 2013!