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Göttliche Dialoge: Ein Festival feiert Geburtstag

Wenn Rodrigo Garcia davon erzählt, wie er seine Stücke inszeniert, gefriert den
Zuhörern das Blut in den Adern. Der Spanier ist bekannt für seine
schockierenden
Szenen von nackten Körpern, gequälten Tieren und verbrannten Büchern. Doch nicht nur
ihm bot das größte rumänische Theaterfestival ein würdiges Forum: Zehn Tage lang
zeigten 2500 Künstler aus über siebzig Ländern, wie kreativ und spannend
das Leben auf der Bühne sein kann.

Von Irina Wolf
(02. 09. 2013)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.

 

 




(c) Irina Wolf

Straßentheatergruppe
"Les Goulus"

 

 

 

"Kunst darf nicht prüde
sein. Die Zuschauer sollen
jedes Mal etwas sehen,
womit sie nie vorher konfrontiert waren."
(Rodrigo Garcia)

 

 

 

Linktipp
www.sibfest.ro

 

 

 


(c) Irina Wolf

 

 

 

Zehn Tage lang spannen-
des und abwechslungs-
reiches Programm, eine
breite Unterhaltungspalette,
ein reger Gedankenaus-
tausch, kreative Kommu-
nikation und hochqualitati-
ver interkultureller Dialog.
Das war Sibiu 2013!

 

   In ein lebhaftes Gespräch vertieft, hört sie nicht auf die sich nähernden Gestalten. Erst als diese sich über sie beugen, zuckt sie zusammen. Blitzschnell kommt der Kuss. Sie schaut auf: drei gottähnliche Menschen blicken auf sie. Die nur in Sandalen und kurze Röcke gekleideten Männer gehören zur französischen Straßengruppe Les Goulus. Mit ihren Pfeilen und Bögen versuchen sie, "ins Herz der Dame zu treffen" und dadurch ihre Liebe zu erwecken. Dass diese Vorstellung – inmitten der Fußgängerzone im rumänischen Sibiu (Hermannstadt) – durchaus für einige Erheiterung sorgte, verwundert nicht. Les Coupidons war freilich nur eine von vielen vergleichbaren Straßenveranstaltungen, die Anfang Juni Tausende Besucher in Sibius Innenstadt lockte. Das vor zwanzig Jahren in der entzückenden mittelalterlichen Stadt in Siebenbürgen gegründete Festival fand 2013 unter dem Motto Dialog statt. Was 1994 als bescheidene Theaterveranstaltung begann, ist heute ein internationales Großereignis. Schon 2007, als Sibiu (neben Luxemburg) den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt trug, nahmen  2500 Künstler aus über siebzig Ländern an den Festspielen teil. Das überaus vielfältige Angebot der heurigen Jubiläumsedition umfasste Theateraufführungen, Tanz-, Zirkus-, Musik- und Straßenvorstellungen. Dazu gehörten noch zahlreiche Konferenzen, Lesungen, Buchpräsentationen, Ausstellungen und Filmabende.

Im Dialog mit weltweit bekannten Künstlern

   Dass es dem wie immer energiegeladenen Intendanten Constantin Chiriac gelingt, die Erwartungen der Zuschauer jedes Mal aufs Neue zu übertreffen, scheint schier unmöglich. Und doch schafft er es immer wieder, die Besucher zu überraschen. Schon seit mehreren Jahren ist er bemüht, viele bekannte Persönlichkeiten anlässlich des Festivals zu begrüßen. Peter Stein, Jan Lauwers, Eugenio Barba sind nur einige der großen Namen, deren Werke bisher in Sibiu zu bewundern waren. Damit soll einerseits der Geschmack des Publikums geschärft, andererseits den rumänischen Künstlern ermöglicht werden, mit den neuesten Formen und Konzepten der internationalen Theaterszene in Kontakt zu bleiben.

Auch für dieses Jahr ließ sich der Intendant etwas Besonderes einfallen. So wurde für das 20-jährige Jubiläum des Festivals, das vom 7. bis 16. Juni stattfand, den Theaterschulen eine eigene Sektion gewidmet. Pünktlich um Mitternacht zeigten Jugendliche der Schauspielschulen und -akademien aus Kanada, Großbritannien, Kroatien, Serbien, den USA und Rumänien vielversprechende Aufführungen. Andererseits nahmen sie tagsüber an den zahlreichen Workshops und Seminaren teil. Die Fülle von Themen erstreckte sich von szenischem Schreiben über Stimm- und Bewegungsübungen bis hin zu Masken- und Musikeinsatz. Als Workshopleiter bzw. Konferenzvortragende konnten mehrere international bekannte Künstler gewonnen werden, unter anderem Iwan Wyrypajew (russischer Dramatiker, Schauspieler und Regisseur), Esteve Soler (katalanischer Dramatiker), Declan Donnellan (britischer Theaterregisseur), Erhard Stiefel, Duccio Bellugi-Vannuccini und Jean-Jacques Lemêtre (Maskenbildner bzw. Musiker des berühmten französischen Theaterkollektivs Théâtre du Soleil).

Für mich persönlich war die Begegnung mit Rodrigo Garcia von besonderer Bedeutung. Garcia zählt zu den kontroversesten zeitgenössischen Kunstschaffenden. Der seit 1986 in Spanien niedergelassene gebürtige Argentinier, Regisseur und Autor, ist bekannt für seine provokanten Texte. Besonders intensive Diskussionen rufen aber seine Inszenierungen hervor: Schockierende Szenen von nackten Körpern, gequälten Tieren und verbrannten Büchern gehören zu seinen ästhetisch am häufigsten eingesetzten Mitteln. "Heutzutage wird zu wenig gelesen. Durch die Misshandlung von Büchern versuche ich darauf aufmerksam zu machen", sagt Garcia, und fährt fort: "Kunst darf nicht prüde sein. Die Zuschauer sollen jedes Mal etwas sehen, womit sie nie vorher konfrontiert waren".

Vereinte europäische Theaterfestivals

   Dass das Nationaltheater "Radu Stanca" aus Sibiu weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist, weiß man spätestens seit dessen Teilnahme 2009 am Internationalen Theaterfestival Edinburgh mit der Megaproduktion Faust (Regie Silviu Purcărete). Der grandiose Erfolg führte 2012 zur Koproduktion Gulliver’s Reisen, ebenfalls in Purcăretes Regie. Constantin Chiriac, zugleich Direktor des Nationaltheaters, hat sich weitaus höhere Ziele gesteckt. So wird beim Avignon-Theaterfestival 2014 Gianina Cărbunarius neuestes Stück Solitaritate aufgeführt. Die im deutschsprachigen Raum bekannteste rumänische Dramatikerin hat sich diesmal dem Roma-Problem zugewandt. Die originelle Koproduktion zwischen dem Odéon-Théâtre de l’Europe, dem Nationaltheater der französischen Gemeinde aus Belgien und dem Nationaltheater "Radu Stanca" ist im Rahmen des EU-finanzierten Projektes Cities on Stage entstanden und feierte Vorpremiere in Sibiu.

Natürlich fehlte es nicht an außerordentlichen Aufführungen. Sie sorgten für volle Säle. Sei es eine fünfstündige klassische Theatervorstellung (Dante Alighieris Göttliche Komödie unter der Leitung des litauischen Regisseurs Eimuntas Nekrošius), eine Tanzproduktion (Sasha Waltz mit der eigenen Choreographie Continu), ein Puppentheater (The Table von Blind Summit Theatre, auch bei den Wiener Festwochen 2013 auf dem Programm) oder Figurentheater (Salto Lamento aus Tübingen) es war für jeden Geschmack etwas dabei. Zehn Tage lang spannendes und abwechslungsreiches Programm, eine breite Unterhaltungspalette, ein reger Gedankenaustausch, kreative Kommunikation und hochqualitativer interkultureller Dialog. Das war Sibiu 2013!

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