Vier
Uhr früh
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die Ampel ist eben auf Rot umgesprungen. Von der elektronischen Werbetafel
nebenan leuchtet es gleichfalls rot auf: "TESZT
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Euroregionales Theaterfestival Timişoara
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vom 24. bis 31. Mai 2013". Letzteres ist der Grund meiner achtstündigen
Nachtreise mit dem Eurolines-Bus von Wien nach Temeswar. Die zweitgrößte
Stadt Rumäniens (300.000 Einwohner) in der historischen Region Banat
spiegelt seit über zwei Jahrhunderten einen Vielvölkerstaat wider. Das
repräsentative Theaterhaus im Stadtzentrum, ein 1875 vollendeter Bau der
berühmten Architekten Fellner & Helmer, beherbergt Sprechtheater in drei
verschiedenen Sprachen (Rumänisch, Deutsch und Ungarisch) sowie die
Temeswarer Nationaloper.
Ungarisches Theater im Banat – damals und heute
Erste
Erwähnungen des ungarischsprachigen Theaters in Temeswar gehen schon auf das
18. Jahrhundert zurück. Damals bespielten ungarische Schauspielgruppen aus
Klausenburg, Budapest, Košice, Székesfehérvár und Miskolc die Stadt in
West-Rumänien. Durch einen Erlass des Bukarester Ministerrates wurde 1953
eine ungarische Sektion im Temeswarer Staatstheater gegründet. Vier Jahre
später erlangte das Haus seine Selbstständigkeit als "Ungarisches
Staatstheater Temeswar". Seit 1990 trägt es den Namen des ungarischen Autors
Csiky Gergely.
Seine erste
große Blütezeit erlebte das ungarische Theater im Banat unter der Leitung
von Krecsányi Ignác. Von 1888 bis zu seiner Pensionierung 1914 entstanden
zahlreiche hochqualitative Inszenierungen. Aus Anlass des diesjährigen 60.
Jubiläums des Hauses wurde Krecsányi eine ausführliche Ausstellung im Foyer
des Theaters gewidmet. Heute präsentiert sich das Theater als attraktive
Bühne für die ungarische Minderheit, aber auch für die rumänische
Bevölkerung, für die es jeden Abend eine Simultanübersetzung mittels
Kopfhörer gibt. Eines der Anliegen von Balázs Attila, seit 2007 Direktor des
Theaters, ist die Öffnung des Hauses, um die Stadtbevölkerung einzubeziehen.
Infolgedessen hat er – auf Anweisung seiner literarischen Referentin,
Daniela Magiaru – in dieser Saison eine Workshop-Reihe unter dem Titel
"Jenseits der Bühne" initiiert. Dadurch wurde das Theater zu einem Ort des
Treffens zwischen Schauspielern und Personen unterschiedlichster Herkunft,
Kultur und Ausbildung. Weiterhin ist der Direktor bemüht, namhafte
Regisseure zu engagieren. Auf diese Weise soll das junge, dynamische
Ensemble (Durchschnittsalter 30 bis 35 Jahre) weiterentwickelt werden.
Vor allem aber zielt sein Streben auf eine rasche Vernetzung des
ungarischen Staatstheaters mit nationalen und internationalen
Theaterhäusern, darunter mit denen aus Ungarn und Serbien. Diese Entwicklung
ist nicht ganz zufällig, befindet sich Temeswar doch im Dreiländereck
Rumänien-Serbien-Ungarn.
Der
Regisseur im Fokus
So
ist das ungarische Staatstheater "Csiky Gergely" 2007 erstmals zum
Veranstalter der Festspiele TESZT geworden. "Temesvári Eurorégiós Színházi
Találkozó", kurz TESZT, steht laut Balázs Attila für Hartnäckigkeit –
Erfahrung – Solidarität – Höhenflug – Temeswar. "Eine Handvoll Menschen
versucht jährlich, die denkwürdigsten Inszenierungen der DKMT-Euroregion
(Donau-Kreisch-Marosch-Theiß) auszuwählen. Dank der Hartnäckigkeit,
Erfahrung und Solidarität dieser Personen können wir Jahr für Jahr Ende Mai,
acht Tage lang, zu einem Höhenflug ansetzen, uns einen Überblick über das
Theater der Region verschaffen und unseren Dialog in Temeswar fortsetzen",
so der Festival-Intendant.
Obwohl die
diesjährige sechste Auflage kein Motto hatte, war doch eine klare Absicht
zu erkennen: Der Fokus lag auf den Regisseuren. Balázs Attila dazu:
"Mit der Eröffnungsaufführung Friedenszeiten des gastgebenden
Theaters ist die Richtung leicht festzustellen. Regie führte Szabolcs Hajdu,
weltbekannt für seine Filmregie. Darüber hinaus ist er auch als Autor und
Darsteller seinem eigenen Stück verpflichtet". Der Eingriff des Spielleiters war
unschwer auch in der Aufführung des ungarischen Theaters aus Novi Sad (Serbien)
erkennbar. Opera ultima, ein heiteres Bühnenwerk nach den
bekanntesten Stücken des französischen Schriftstellers Pierre-Augustin Caron
de Beaumarchais, entpuppte sich als Parodie aus Der Barbier von
Sevilla und Die Hochzeit des Figaro. Mit der Umschreibung der
zweiten Oper zu einem klassischen Theaterstück wagte Regisseur Kokan
Mladenović ein kühnes Experiment und setzte damit ein maßgebendes Zeichen.
Besonders auffallend war die Intervention des Spielleiters während der
Vorstellung Die Möwe, eine Produktion des serbischen Nationaltheaters
aus Novi Sad. In dieser sechsstündigen Aufführung stand der
slowenische Regisseur Tomi Janežič pausenlos auf der Bühne und erteilte
Anweisungen an die Schauspieler.
Aller
guten Dinge sind drei
Zum
Festivalauftakt zeigte das gastgebende Theater Friedenszeiten, eine
Eigenproduktion, dessen Text im Laufe eines monatelangen
Improvisations-Workshops entstand. Das Stück handelt von dem Schriftsteller
Langermann Sándor, der eine Auftragsarbeit für ein Theaterhaus erhält. Doch
nicht nur ein innerer Konflikt, auch unerwartete äußere Ereignisse (Tod und
Beerdigung des Vaters, Familienstreit) machen ihm zu schaffen. Somit ist ein
Abschluss des Auftrags von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der
Schriftsteller wird zum Opfer einer sich schleichend entwickelnden
unheilbaren Krankheit. Eindringlich wirken die knappen zwei Stunden. Die
einfühlsame, außergewöhnliche Handlung lebt vor allem durch die grandiose
schauspielerische Leistung des Hauptdarstellers (Szabó Domokos) und des
ebenso eindrucksvollen Ensembles. Für die überzeugende szenische Umsetzung
der Geschichte sorgen das detailreiche Bühnenbild von Iuliana Vâlsan sowie
das raffinierte Licht von Nagy András.
Zwei weitere
qualitativ hochwertige Produktionen wurden ebenfalls vom gastgebenden
Theater geboten: Gardenia und Die Bauernoper. Die junge
polnische Autorin Elzbieta Chowanik (geb. 1982) hat in Gardenia eine
bewegende Geschichte gesponnen. Die vier Generationen umfassende
Familiensaga deckt den Zeitraum von 1920 bis 1982 ab. Im Mittelpunkt stehen
die überaus schwierigen Mutter-Tochter-, Mutter-Großmutter-,
Großmutter-Urgroßmutter-, letztendlich
Mutter-Tochter-Großmutter-Urgroßmutter-Beziehungen und das Frauenbild im
Allgemeinen (die verlassene Frau, die sich prostituierende Frau, die von
Alkoholproblemen geplagte Frau). Mühelos gelingt der Autorin und dem ebenso
jungen Regisseur Koltai M. Gábor eine Gratwanderung zwischen Burleske und
Drama. Auch hier zeichnet Iuliana Vâlsan für das prägende Bühnenbild
verantwortlich.
Anders die zum
Abschluss der Festspiele von Szikszai Rémusz gezeigte Bauernoper, ein
Stück von Béla Pintér und Benedek Darvas. Während eilig geplanten
Hochzeitsvorbereitungen entfaltet sich die spannende Geschichte einer Oper
gespickt mit Rezitativ, Arien, Country- und Rockmusik der 70er Jahre sowie
authentischen Volksliedern aus der Klausenburger Gegend in Siebenbürgen. Als
beste ungarische Theaterproduktion der vergangenen Jahre gefeiert, bedeutete
Die Bauernoper für die Béla-Pintér-Company den internationalen
Durchbruch und ist seit 2004 auf zahlreichen internationalen Festivals zu
Gast.
Temeswar – auf dem Weg zur Europäischen Kulturhauptstadt 2021
Das
reichhaltige Programm umfasste ebenfalls je eine Produktion der beiden
ortsansässigen Theater sowie Produktionen aus Ungarn (Budapest, Nyíregyháza)
und Serbien (Belgrad, Kelebija, Subotica), alle übertitelt oder simultan
übersetzt. Zum ersten Mal nahmen das Nationaltheater aus Szeged (Ungarn) und
das ungarische Theater "Kamara" aus Zenta (Serbien) an den Festspielen teil.
Nicht nur die Vorstellungen im großen Theatersaal oder auf der kleineren
Studiobühne waren sehr gut besucht, sondern auch die drei
Ethno-Jazz-Konzerte am Unirii Platz, ein beliebter Treffpunkt der
Temeswarer. Ergänzt wurde das Festivalprogramm von Publikumsgesprächen zu
einzelnen Inszenierungen mit Regisseur und Mitgliedern des Ensembles, die
sich manchmal bis in die Nacht ausdehnten. Ob mit experimentellem Theater
oder Inszenierungen klassischer Stücke, Künstlertreffen oder Festgala,
spiegelt TESZT die Multikulturalität der westrumänischen Region Banat. Auch
ein Tanztheater aus Frankreich nahm an den Festspielen teil, ein klarer
Erfolg des Direktors im Streben nach mehr Internationalität, auch im
Hinblick auf die Bewerbung Temeswars um den Titel "Kulturhauptstadt Europas
2021".