Der
Landarzt Astrow balanciert waghalsig auf dem Balkongeländer, ungesichert,
dicht gefolgt von einem Diener mit einem Glas Wasser auf einem
Silbertablett. Im Nu wird das Glas überreicht und das Wasser ausgetrunken,
wonach beide Schauspieler in Windeseile im Parterre auftauchen. Die Szene
aus Tschechows Onkel Wanja spielt im eleganten Odeon-Theater in
Bukarest. Dabei "verdreht" Regisseur Andrei Şerban die Rollen: Die Zuschauer
sitzen auf der Bühne, während der erste Akt im leeren Theatersaal abläuft.
Auf dem Parkett, in den Logen, auf der Galerie – überall wird gespielt. Das
Tempo ist rasant, die Stimmung ansteckend. Die Krönung kommt zum Schluss:
Langsam öffnet sich die in Europa einzigartige gleitende Decke des Theaters.
Die weiteren drei Akte verlaufen dann wieder ausschließlich auf der Bühne,
die zu diesem Zweck in drei verschiedene Räume aufgeteilt worden ist. Die
Zuschauer bleiben ebenfalls auf der Bühne sitzen, auch wenn sie immer von
einem Spielraum zum anderen wechseln. Dabei kommen die durchwegs
herausragend agierenden Schauspieler fast auf Tuchfühlung an die Besucher
heran.
Ein klassisches Zeichen
Onkel
Wanja war einer der
spektakulärsten Beiträge zum Nationaltheaterfestival, das in diesem Jahr
seine 21. Auflage erlebte. Zehn Tage lang, vom 28. Oktober bis zum 6.
November wurde Bukarest zur "Theaterhauptstadt". An verschiedenen
Theaterhäusern und Orten der Stadt fanden Vorstellungen, Buchpräsentationen,
Konferenzen und Diskussionen statt. Als besonderes Special wurde unter dem
Motto "Der Mensch, dieses merkwürdige Tier" (ein tschechowsches Zitat) eine
einzigartige Auswahl herausragender Produktionen wie Drei Schwestern,
Onkel Wanja, Platonow, Iwanow und Über die
menschliche Liebe, eine Adaption nach der Erzählung "Lebendige Ware" des
russischen Schriftstellers, gezeigt. Büchner, Camus, Dostojewski, Ionesco,
Caragiale und Garcia Lorca – mit ihnen erstellte Alice Georgescu, die neue
Intendantin des Festivals, ein "konzentriertes Abbild der rumänischen
Theaterszene der letzten zwölf Monate". Auch die junge Generation von
Theatermachern wurde mit einbezogen. Autoren wie Pintilei und das Duo
Bozdog-Michailov oder Regisseure wie Kerek, Mărgineanu und Păun – für sie
wurde die Sektion "Theater von morgen" geschaffen. Fünfmal Tschechow,
viermal Shakespeare auf dem Spielplan, dazu der weltweit gefeierte Regisseur
Andrei Şerban – damit setzte Georgescu ein "klassisches Zeichen".
Hommage an
Tschechow
Im
Zentrum der Festspiele stand die gewichtige Persönlichkeit von Andrei
Şerban, dem die "Fokus"-Sektion gewidmet war. Der international anerkannte
Regisseur, der 1969 Rumänien verlassen hat, lebt in New York und leitet seit
1992 die Theaterabteilung der Columbia University. Zu seinen Tutoren zählen
Peter Brook und Ellen Stewart. Jeden Sommer kehrt Şerban nach Rumänien
zurück, um einen Workshop für Jugendliche abzuhalten und neue Produktionen
in Szene zu setzen.
Gleich vier seiner
Inszenierungen, davon drei "Tschechow-Visionen", standen auf dem Spielplan.
Den Auftakt zum diesjährigen Festival machte das Nationaltheater aus
Budapest mit Drei Schwestern, eine der wenigen aus dem Ausland
eingeladenen Produktionen (da machte sich wieder einmal die weltweite
Finanzkrise deutlich bemerkbar). Tschechow war der krönende Abschluss der
Festspiele: Iwanow, vorgestellt vom Bulandra-Theater Bukarest. Zu den
Höhepunkten zählten jedoch Onkel Wanja und eine Adaption von Ingmar
Bergmans Verfilmung Schreie und Flüstern. Auch öffentliche Proben
wurden angeboten. Sechs Stunden lang dauerten sie für Onkel Wanja;
knapp zwei Stunden davon nahm der erste Akt in Anspruch. Für die beteiligten
Zuschauer ein Hochgenuss, durften sie hier doch tief in die Arbeitswelt von
Şerban eintauchen. Dieser gibt selbst zu, dass er sich seit mehreren Jahren
mit dem russischen Schriftsteller und Dramatiker beschäftigt. "Tschechow
bietet uns eine einzigartige Darstellung des zeitgenössischen Menschen",
sagt Andrei Şerban. "Auf raffinierte Weise erinnert er uns daran, dass wir
oberflächlich leben, dass wir fünfundneunzig Prozent des Lebens in einer
grotesken, tragikomischen Illusion verbringen."
Während
Şerban
in Drei Schwestern und Onkel Wanja gerne noch
herumexperimentiert, wählt er bei Iwanow eine eher klassische
Annäherungsweise. Das Schöne an diesem Theatermacher ist, dass er sich immer
aufs Neue erfindet. "Ich habe keinen Stil", bekennt er dann freimütig. In
all seinen Inszenierungen ist aber die Notwendigkeit, den gesamten Raum zu
verwenden, deutlich sichtbar. Auch in Iwanow wird die Bühne, aber
auch die angrenzenden Leitern, der Saal und jede sonst nutzbare Fläche
bespielt. Experimentiert wird auch auf der Bühne selbst, die bisweilen von
einem durchsichtigen Vorhang zweigeteilt ist, um unser aller "Doppelleben"
zu unterstreichen. "Ich bin überzeugt, dass es in jedem von uns zwei Leben
gibt", meint Şerban. "Wir haben jedoch Zugang nur zum einen, zum sichtbaren.
Das andere Leben, das in uns vorhanden ist, kommt sehr selten zum Vorschein.
Wenn wir uns sehr stark verlieben oder wenn ein uns nahestehender Mensch
stirbt, dann merken wir dieses andere Verlangen. Das ist auch Iwanows
Leiden." Mit Iwanow glaubt der Regisseur die "heutige rumänische
Gesellschaft aus politischer Sicht" dargestellt zu haben.
Schreie und Flüstern
ist jedoch seine am stärksten an Tschechow gemahnende Inszenierung. "Bergman
ist vergleichbar mit Tschechow. Er weist gleichzeitig eine verblüffende
Kälte und eine unglaubliche Wärme auf", sagt Şerban über Ingmar Bergman. "Er
zeigt uns auch, dass wir in Wirklichkeit in einem Traum leben. Das hoffe ich
auch in meinen Inszenierungen zu zeigen." Dabei wird er von der Truppe des
Ungarischen Staatstheaters Klausenburg voll unterstützt.
Kunst macht das Unmögliche
möglich
Dass
die Truppe des Ungarischen Staatstheaters Klausenburg mittlerweile eine der
besten des Landes ist, weiß man spätestens seit 2007, als sie mit Onkel
Wanja gleich drei nationale Preise abräumte (beste Produktion, beste
Regie und bester Hauptdarsteller). Eine Leistung, die sie 2010 mit
Schreie und Flüstern wiederholen konnte. Dennoch war so mancher Besucher
über die vom Festival getroffene Auswahl überrascht. Nicht weniger als ein
Drittel der Vorstellungen wurden von ungarischsprachigen Gruppen aus
Rumänien geboten. "Die ungarischsprachigen Theater des Landes, aber
insbesondere die Regisseure, die in diesen Häusern arbeiten, sind von den
positiven Seiten beider Kulturen, der rumänischen und der ungarischen,
beeinflusst", sagt Alice Georgescu und zählt ein paar Namen von Regisseuren
auf: Andrei Şerban, Alexandru Dabija, Victor Ioan Frunză, Mihai Măniuţiu,
Vlad Mugur, Silviu Purcărete. "Was die Schauspieler der ungarischsprachigen
Theater betrifft, sind sie sehr gut und professionell vorbereitet", bekennt
Georgescu. "Tatsache ist: Die ungarischsprachige Theaterschule in Rumänien
ist derzeit besser als die rumänische."
Außer dem Ungarischen
Staatstheater Klausenburg konnten sich noch das Bewegungstheater "Stúdió M"
und das "Tamási Áron"-Theater, beide aus Sfântu Gheorghe sowie die Truppe
"Tompa Miklós" des Nationaltheaters Târgu-Mureş behaupten. Letztere bot
einen Platonow in einer lebendigen, sich dynamisch entwickelnden,
wenn auch klassischen Inszenierung. Beide Truppen aus Sfântu Gheorghe
widmeten sich Shakespeare. Das Bewegungstheater brachte eine
Tanztheater-Version von Othello, das "Tamási Áron"-Theater dafür den
Kaufmann von Venedig in einer originellen Adaption. Ähnlich der
Onkel Wanja-Inszenierung platzierte Regisseur László Bocsárdi die
Zuschauer im ersten Akt mitten im Spielgeschehen. Auf der Bühne sitzend
wurde das Publikum vom Auftritt der Schauspieler von hinter den Sitzreihen,
durch den Vorhang oder vom Gerüst des Bühnenbildes herabkommend immer aufs
Neue überrascht. Dem noch nicht genug, kam es nach Ende der Pause zu einer
weiteren Steigerung: Für den zweiten Akt nutzten die Schauspieler sogar den
bislang leer gebliebenen Theatersaal für ihre Vorstellung.
Zahlreiche
weitere Produktionen machten von dieser neuen "verdrehten" Bühnenwelt
Gebrauch. Dadurch konnte das Publikum die Aufführungen hautnah miterleben,
auch wenn dadurch – als
kleines Manko – nicht mehr allzu viel
Platz für die Zuschauer blieb. "Kunst macht das Unmögliche möglich und das
Mögliche unmöglich", so Andrei Şerban über die Experimentierfreudigkeit der
Theatermacher. Dazu, fügt Alice Georgescu hinzu, sei "eine zunehmende
Kreativität in den rumänischen Theaterhäusern zu merken", und fährt fort:
"Die nationale Theaterszene hat sich zu lange im freien Fall befunden. Seit
ungefähr zwei Jahren gibt es Impulse für eine tiefgründige Veränderung. Nun
sind die Zeichen einer Wiederbelebung deutlich sichtbar".