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Tschechow, hautnah

Büchner, Camus, Dostojewski, Ionesco, Caragiale und Garcia Lorca, dazu fünfmal
Tschechow und viermal Shakespeare: Zehn Tage lang, vom 28. Oktober bis zum 6. November,
durfte sich Bukarest auch dieses Jahr wieder Rumäniens "Theaterhauptstadt" nennen. I
m
Zentrum der Festspiele stand heuer der international anerkannte Regisseur Andrei
Şerban, der seit 1992 die Theaterabteilung der Columbia University leitet.

Von Irina Wolf
(23. 12. 2011)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren Jobs
im Telekommunikations- und
Forschungsbereich wechselte
sie 1993 in den Außenhandels-
dienst. Seit 2007 schreibt
sie freiberuflich für mehrere
rumänische und deutsch-
sprachige Kulturzeitschriften.

 


 

 


(c) Mihaela Marin

"Iwanow"
(Regie:
Andrei Şerban)

 

 


Der international anerk-
annte Regisseur
Andrei
Şerban
, der 1969 Rumänien
verlassen hat, lebt in New
York und leitet seit 1992
die Theaterabteilung der
Columbia University.
Jeden Sommer kehrt er
nach Rumänien zurück,
um einen Workshop für
Jugendliche abzuhalten
und neue Produktionen
in Szene zu setzen.

 

 


 


(c) Mihaela Marin

"Onkel Wanja"
(Regie:
Andrei Şerban)

 


 

"Tschechow bietet uns
eine einzigartige Darstel-
lung des zeitgenössischen
Menschen. Auf raffinierte
Weise erinnert er uns
daran, dass wir oberfläch-
lich leben, dass wir fünf-
undneunzig Prozent des
Lebens in einer grotesken,
tragikomischen Illusion
verbringen."
(
Andrei Şerban)

 

 

 


(c) Mihaela Marin

"Onkel Wanja"
(Regie:
Andrei Şerban)

 


 

Ähnlich der Onkel Wanja-
Inszenierung platzierte
Regisseur László Bocsárdi
("Der Kaufmann von
Venedig") die Zuschauer
im ersten Akt mitten im
Spielgeschehen. Auf der
Bühne sitzend wurde das
Publikum vom Auftritt der
Schauspieler von hinter
den Sitzreihen, durch den
Vorhang oder vom Gerüst
des Bühnenbildes herab-
kommend immer aufs
Neue überrascht.

 


 


(c) Mihaela Marin

"Onkel Wanja"
(Regie:
Andrei Şerban)

   Der Landarzt Astrow balanciert waghalsig auf dem Balkongeländer, ungesichert, dicht gefolgt von einem Diener mit einem Glas Wasser auf einem Silbertablett. Im Nu wird das Glas überreicht und das Wasser ausgetrunken, wonach beide Schauspieler in Windeseile im Parterre auftauchen. Die Szene aus Tschechows Onkel Wanja spielt im eleganten Odeon-Theater in Bukarest. Dabei "verdreht" Regisseur Andrei Şerban die Rollen: Die Zuschauer sitzen auf der Bühne, während der erste Akt im leeren Theatersaal abläuft. Auf dem Parkett, in den Logen, auf der Galerie – überall wird gespielt. Das Tempo ist rasant, die Stimmung ansteckend. Die Krönung kommt zum Schluss: Langsam öffnet sich die in Europa einzigartige gleitende Decke des Theaters. Die weiteren drei Akte verlaufen dann wieder ausschließlich auf der Bühne, die zu diesem Zweck in drei verschiedene Räume aufgeteilt worden ist. Die Zuschauer bleiben ebenfalls auf der Bühne sitzen, auch wenn sie immer von einem Spielraum zum anderen wechseln. Dabei kommen die durchwegs herausragend agierenden Schauspieler fast auf Tuchfühlung an die Besucher heran.

Ein klassisches Zeichen

   Onkel Wanja war einer der spektakulärsten Beiträge zum Nationaltheaterfestival, das in diesem Jahr seine 21. Auflage erlebte. Zehn Tage lang, vom 28. Oktober bis zum 6. November wurde Bukarest zur "Theaterhauptstadt". An verschiedenen Theaterhäusern und Orten der Stadt fanden Vorstellungen, Buchpräsentationen, Konferenzen und Diskussionen statt. Als besonderes Special wurde unter dem Motto "Der Mensch, dieses merkwürdige Tier" (ein tschechowsches Zitat) eine einzigartige Auswahl herausragender Produktionen wie Drei Schwestern, Onkel Wanja, Platonow, Iwanow und Über die menschliche Liebe, eine Adaption nach der Erzählung "Lebendige Ware" des russischen Schriftstellers, gezeigt. Büchner, Camus, Dostojewski, Ionesco, Caragiale und Garcia Lorca – mit ihnen erstellte Alice Georgescu, die neue Intendantin des Festivals, ein "konzentriertes Abbild der rumänischen Theaterszene der letzten zwölf Monate". Auch die junge Generation von Theatermachern wurde mit einbezogen. Autoren wie Pintilei und das Duo Bozdog-Michailov oder Regisseure wie Kerek, Mărgineanu und Păun – für sie wurde die Sektion "Theater von morgen" geschaffen. Fünfmal Tschechow, viermal Shakespeare auf dem Spielplan, dazu der weltweit gefeierte Regisseur Andrei Şerban – damit setzte Georgescu ein "klassisches Zeichen".

Hommage an Tschechow

   Im Zentrum der Festspiele stand die gewichtige Persönlichkeit von Andrei Şerban, dem die "Fokus"-Sektion gewidmet war. Der international anerkannte Regisseur, der 1969 Rumänien verlassen hat, lebt in New York und leitet seit 1992 die Theaterabteilung der Columbia University. Zu seinen Tutoren zählen Peter Brook und Ellen Stewart. Jeden Sommer kehrt Şerban nach Rumänien zurück, um einen Workshop für Jugendliche abzuhalten und neue Produktionen in Szene zu setzen.

Gleich vier seiner Inszenierungen, davon drei "Tschechow-Visionen", standen auf dem Spielplan. Den Auftakt zum diesjährigen Festival machte das Nationaltheater aus Budapest mit Drei Schwestern, eine der wenigen aus dem Ausland eingeladenen Produktionen (da machte sich wieder einmal die weltweite Finanzkrise deutlich bemerkbar). Tschechow war der krönende Abschluss der Festspiele: Iwanow, vorgestellt vom Bulandra-Theater Bukarest. Zu den Höhepunkten zählten jedoch Onkel Wanja und eine Adaption von Ingmar Bergmans Verfilmung Schreie und Flüstern. Auch öffentliche Proben wurden angeboten. Sechs Stunden lang dauerten sie für Onkel Wanja; knapp zwei Stunden davon nahm der erste Akt in Anspruch. Für die beteiligten Zuschauer ein Hochgenuss, durften sie hier doch tief in die Arbeitswelt von Şerban eintauchen. Dieser gibt selbst zu, dass er sich seit mehreren Jahren mit dem russischen Schriftsteller und Dramatiker beschäftigt. "Tschechow bietet uns eine einzigartige Darstellung des zeitgenössischen Menschen", sagt Andrei Şerban. "Auf raffinierte Weise erinnert er uns daran, dass wir oberflächlich leben, dass wir fünfundneunzig Prozent des Lebens in einer grotesken, tragikomischen Illusion verbringen."

   Während Şerban in Drei Schwestern und Onkel Wanja gerne noch herumexperimentiert, wählt er bei Iwanow eine eher klassische Annäherungsweise. Das Schöne an diesem Theatermacher ist, dass er sich immer aufs Neue erfindet. "Ich habe keinen Stil", bekennt er dann freimütig. In all seinen Inszenierungen ist aber die Notwendigkeit, den gesamten Raum zu verwenden, deutlich sichtbar. Auch in Iwanow wird die Bühne, aber auch die angrenzenden Leitern, der Saal und jede sonst nutzbare Fläche bespielt. Experimentiert wird auch auf der Bühne selbst, die bisweilen von einem durchsichtigen Vorhang zweigeteilt ist, um unser aller "Doppelleben" zu unterstreichen. "Ich bin überzeugt, dass es in jedem von uns zwei Leben gibt", meint Şerban. "Wir haben jedoch Zugang nur zum einen, zum sichtbaren. Das andere Leben, das in uns vorhanden ist, kommt sehr selten zum Vorschein. Wenn wir uns sehr stark verlieben oder wenn ein uns nahestehender Mensch stirbt, dann merken wir dieses andere Verlangen. Das ist auch Iwanows Leiden." Mit Iwanow glaubt der Regisseur die "heutige rumänische Gesellschaft aus politischer Sicht" dargestellt zu haben.

Schreie und Flüstern ist jedoch seine am stärksten an Tschechow gemahnende Inszenierung. "Bergman ist vergleichbar mit Tschechow. Er weist gleichzeitig eine verblüffende Kälte und eine unglaubliche Wärme auf", sagt Şerban über Ingmar Bergman. "Er zeigt uns auch, dass wir in Wirklichkeit in einem Traum leben. Das hoffe ich auch in meinen Inszenierungen zu zeigen." Dabei wird er von der Truppe des Ungarischen Staatstheaters Klausenburg voll unterstützt.

Kunst macht das Unmögliche möglich

   Dass die Truppe des Ungarischen Staatstheaters Klausenburg mittlerweile eine der besten des Landes ist, weiß man spätestens seit 2007, als sie mit Onkel Wanja gleich drei nationale Preise abräumte (beste Produktion, beste Regie und bester Hauptdarsteller). Eine Leistung, die sie 2010 mit Schreie und Flüstern wiederholen konnte. Dennoch war so mancher Besucher über die vom Festival getroffene Auswahl überrascht. Nicht weniger als ein Drittel der Vorstellungen wurden von ungarischsprachigen Gruppen aus Rumänien geboten. "Die ungarischsprachigen Theater des Landes, aber insbesondere die Regisseure, die in diesen Häusern arbeiten, sind von den positiven Seiten beider Kulturen, der rumänischen und der ungarischen, beeinflusst", sagt Alice Georgescu und zählt ein paar Namen von Regisseuren auf: Andrei Şerban, Alexandru Dabija, Victor Ioan Frunză, Mihai Măniuţiu, Vlad Mugur, Silviu Purcărete. "Was die Schauspieler der ungarischsprachigen Theater betrifft, sind sie sehr gut und professionell vorbereitet", bekennt Georgescu. "Tatsache ist: Die ungarischsprachige Theaterschule in Rumänien ist derzeit besser als die rumänische."

Außer dem Ungarischen Staatstheater Klausenburg konnten sich noch das Bewegungstheater "Stúdió M" und das "Tamási Áron"-Theater, beide aus Sfântu Gheorghe sowie die Truppe "Tompa Miklós" des Nationaltheaters Târgu-Mureş behaupten. Letztere bot einen Platonow in einer lebendigen, sich dynamisch entwickelnden, wenn auch klassischen Inszenierung. Beide Truppen aus Sfântu Gheorghe widmeten sich Shakespeare. Das Bewegungstheater brachte eine Tanztheater-Version von Othello, das "Tamási Áron"-Theater dafür den Kaufmann von Venedig in einer originellen Adaption. Ähnlich der Onkel Wanja-Inszenierung platzierte Regisseur László Bocsárdi die Zuschauer im ersten Akt mitten im Spielgeschehen. Auf der Bühne sitzend wurde das Publikum vom Auftritt der Schauspieler von hinter den Sitzreihen, durch den Vorhang oder vom Gerüst des Bühnenbildes herabkommend immer aufs Neue überrascht. Dem noch nicht genug, kam es nach Ende der Pause zu einer weiteren Steigerung: Für den zweiten Akt nutzten die Schauspieler sogar den bislang leer gebliebenen Theatersaal für ihre Vorstellung.

   Zahlreiche weitere Produktionen machten von dieser neuen "verdrehten" Bühnenwelt Gebrauch. Dadurch konnte das Publikum die Aufführungen hautnah miterleben, auch wenn dadurch – als kleines Manko – nicht mehr allzu viel Platz für die Zuschauer blieb. "Kunst macht das Unmögliche möglich und das Mögliche unmöglich", so Andrei Şerban über die Experimentierfreudigkeit der Theatermacher. Dazu, fügt Alice Georgescu hinzu, sei "eine zunehmende Kreativität in den rumänischen Theaterhäusern zu merken", und fährt fort: "Die nationale Theaterszene hat sich zu lange im freien Fall befunden. Seit ungefähr zwei Jahren gibt es Impulse für eine tiefgründige Veränderung. Nun sind die Zeichen einer Wiederbelebung deutlich sichtbar".

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