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Geschichte erlebbar machen

Das Turiner Theaterfestival brachte heuer fast dreißig Produktionen auf die Bühne.
Gemäß dem Motto der Veranstaltung "le vite di tutti" (Das Leben aller) luden die
Organisatoren ihre Künstler dazu ein, sich mit der Auswirkung der weltweiten politischen
Ereignisse auf die italienische Gesellschaft zu beschäftigen. Lässt sich etwa die
Bedeutung eines historischen Zwischenfalls durch die Worte einer jungen
Bloggerin verstehen? Können Kontinente nur durch die eigene Vorstellungskraft
und die Tweets einer Gleichaltrigen bereist werden?

Von Irina Wolf
(04. 08. 2014)

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Irina Wolf
irinawolf10 [at] gmail.com

Irina Wolf wurde in
Bukarest geboren. Nach
Abschluss ihres Informatik-
studiums und mehreren
Jobs im Telekommunikations- und Forschungsbereich
wechselte sie 1993 in den
Außenhandelsdienst. Seit
2007 schreibt sie freiberuflich
für mehrere rumänische und
deutschsprachige Kultur-
zeitschriften.

 

 


(c) Andrea Macchia

"The Walk"
(Cuocolo/Bosetti)

 

 


(c) Andrea Macchia


(c) Andrea Macchia

"Pictures from Gihan"
(Muta Imago)



 


(c) Andrea Macchia

"Super Premium Soft
Double Vanilla Rich"
(chelfitsch)

 

 


(c) Irina Wolf

"Augen des Festivals"
(Andrea Macchia)

 


 

Linktipp
www.festivaldellecolline.it

   Es ist Abend in Turin. Pünktlich zu Ferienbeginn locken hochsommerliche Temperaturen ins Freie. "Das ist meine Stimme. Folgt mir", tönt es in den Kopfhörern der auf der Piazza Castello versammelten Gruppe von Theaterbegeisterten. Mit einem Radio-Empfangsverstärker ausgerüstet, begleite ich Roberta Bosetti durch die Straßen der Stadt. Zur Verwunderung der nichts ahnenden Zuschauer schreite ich an Esstischen und Jugendgruppen vorbei. Ab und zu bleibt unsere 'Stimme' stehen, einmal betritt sie eine Wohnung. Außer den geheimnisvollen Bildern an den Wänden sind die Räume leer. Einen Moment später geht das Licht aus. Im Dunkeln suchen wir die Spuren des verschwundenen Freundes. The Walk heißt die originelle Aufführung des Künstlerpaars Cuocolo/Bosetti, bekannt auch unter dem Namen IRAA Theater. Weltweit beliebt für ihre selbstentwickelten Stücke, die meistens im eigenen Wohnzimmer im australischen Melbourne oder nur 85 km von Turin entfernt, in Vercelli spielen, wagen sich Renato Cuocolo und Roberta Bosetti diesmal hinaus ins Freie. "Sich in Bewegung setzen, bedeutet immer einen Wandel der eigenen Welt", sagt das Künstlerduo über sein neuestes Werk. Auf spannende und zugleich rührende Weise erzählen sie vom verstörenden Erlebnis des Verschwindens eines lieben Freundes.

Auf der Schultafel über das Mittelmeer nach Ägypten

   Eine einzigartige Vorstellung inmitten einer Veranstaltungsreihe der besonderen Art: Vom 1. bis zum 22. Juni bot das Festival delle Colline Torinese, das 2014 bei seiner XIX. Auflage angelangt ist, knapp dreißig hochkarätige Produktionen mal an herkömmlichen, mal an ungewöhnlichen Spielorten. So zum Beispiel in einem Kirchenschiff, dem Sportsaal einer Schule, in verlassenen Gießereien oder Heizwerken der ehemaligen Lancia-Fabrik.

Bekannt für seine Aktualität, hat sich das Festival in den letzten Jahren mit dem facettenreichen Krisenbegriff sowie sozial brennenden Fragen wie Rassismus, Diskriminierung, Emigrantenflut und Freiheitsentzug befasst. Zugleich wurde im Programm deutlich, dass der Trend der experimentellen und innovativen Produktionen auch dieses Jahr seine Fortsetzung fand. Unter dem Motto Das Leben aller (le vite di tutti) luden die Organisatoren Künstler ein, sich mit der Auswirkung der weltweiten politischen Ereignisse auf die italienische Gesellschaft zu beschäftigen. Ist es möglich, die Bedeutung eines historischen Zwischenfalls durch die Worte einer jungen Bloggerin zu verstehen? Können Kontinente nur durch die eigene Vorstellungskraft und die Tweets einer Gleichaltrigen bereist werden?

   Rund um diese Reize legte die Gruppe "Muta Imago" ihre Performance Pictures from Gihan an. "Wir haben versucht, die ägyptische Revolution von 2011 durch die in den sozialen Netzwerken hinterlassenen Spuren der 25-jährigen ägyptischen Journalistin namens Gihan zu erzählen", erklären Riccardo Fazi und Claudia Sorace ihr Vorgehen. Das zwischen Rom und Brüssel pendelnde Künstlerduo, bekannt unter dem Namen "Muta Imago", beschäftigt sich seit seiner Gründung 2004 mit dem Verhältnis von Bühnenraum und Realität, von gelebter Geschichte und künstlich gespiegelten Abbildern.

Mit ihren Inszenierungen konnten Regisseurin Claudia Sorace und Renato Fazi, zugleich Autor und Sound-Designer, in der italienischen Theaterszene einen wichtigen Impuls für eine neue Form des visuellen Theaters setzen. Zum Einsatz kommen Tischlampen, Mikrofone, Laptops, Mobiltelefone, Schatten, Videoprojektionen. Ein Holzbrett, auf dem Sorace, mit Helm und Stiefeln ausgerüstet, wortwörtlich in die Fußstapfen von Mubaraks Armee tritt. Eine Schultafel, vor der sie Schwimmbewegungen nachahmt. Währenddessen zeichnet Fazi mit Kreide auf einer anderen Tafel ein um die Sonne kreisendes Planetensystem. Und immer wieder der Versuch eines Dialogs mit der unsichtbaren Gihan. Mit einfachsten Mitteln, stimmigem Licht und einer aussagekräftigen Soundcollage sind die Geschehnisse rund um den Tahrir-Platz derart verdichtet, dass Verzweiflung, Angst und Hoffnung aufs Intensivste erlebbar werden.

Gepflegtes internationales Ambiente

   Solche aparten Inszenierungen sind das Herzstück der Festspiele. Mit etablierten Namen wie Teatro delle Albe, Fanny & Alexander, Motus, ricci/forte oder Societas Raffaello Sanzio zeigte das Festival "einen repräsentativen Spiegel der zeitgenössischen italienischen Theaterszene" und würdigte erstmals gleich drei international bekannte Autoren: Antonio Latella, Emma Dante und Lucia Calamaro. Jedoch beschränkte sich das Programm nicht nur auf italienische Künstler. Nachdem die zwei Festspieldirektoren, Sergio Areotti und Isabella Lagattolla, im Millenniumsumbruch ihre Fühler ins benachbarte Frankreich ausgestreckt hatten, schritten sie 2003 weiter nach Spanien und anschließend nach Deutschland und Rumänien.

Zum ersten Mal gastierte dieses Jahr einer der bedeutendsten Autoren und Regisseure des jungen japanischen Avantgarde-Theaters, zusammen mit seiner 1997 gegründeten Gruppe "chelfitsch", in Turin. In seinem neuesten Stück Super Premium Soft Double Vanilla Rich – eine Auftragsarbeit des heurigen Mannheimer Festival "Theater der Welt" – parodiert Toshiki Okada einen Ausschnitt aus dem japanischen Alltagsleben: die ungehemmte Konsumlust. Die in einem 24 Stunden lang geöffneten Convenience-Laden angesiedelte Performance untersucht durch eine raffinierte Mischung aus Bach-Musik und fantasievoller Entkoppelung von Gestik und Gesprochenem die im Kapitalismus tief verwurzelte Mittelklasse.

Auch in der europäischen Gegenwartsdramatik spielt das Festival delle Coline Torinese eine wichtige Rolle. Als Mitglied des Netzwerkes "Fabulamundi. Playwriting Europe" schlug es drei Stücke aus diesem internationalen Autorenprojekt vor, unter anderem Die Unsicherheit der Sachlage von Philipp Löhle, einem der Spitzenautoren der neuen Dramaturgie Deutschlands und Luft aus Stein der ebenfalls aus Deutschland stammenden Autorin Anne Habermehl.

   Spezielle Workshops, zugeschnitten auf die Studierenden der "Scuola Holden – Storytelling and Performing Arts" sowie ein umfangreiches Rahmenprogramm mit Filmprojektionen und Publikumsgesprächen, ergänzten das Festivalangebot. Besonders beeindruckend fand ich die Ausstellung Augen des Festivals (occhi di festival) von Andrea Macchia, die neben Stückausschnitten auch ein sich über mehrere Wände ausbreitendes Augen-Puzzle zeigte. "Es war mir wichtig, die vorjährige XVIII. Auflage durch die Augen der beteiligten Künstler darzustellen, denn Volljährigkeit bedeutet für mich Verantwortungsübernahme", meint der sympathische Fotograf. Ein außergewöhnlicher Weg, die Zeit anzuhalten und kurzlebige, Aufsehen erregende Theaterfragmente zu verewigen.

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