Es
ist Abend in Turin. Pünktlich zu Ferienbeginn locken
hochsommerliche Temperaturen ins Freie. "Das ist meine Stimme. Folgt mir",
tönt es in den Kopfhörern der auf der Piazza Castello versammelten
Gruppe von Theaterbegeisterten. Mit einem Radio-Empfangsverstärker
ausgerüstet, begleite ich Roberta Bosetti durch die Straßen der Stadt.
Zur Verwunderung der nichts ahnenden Zuschauer schreite ich an Esstischen und
Jugendgruppen vorbei. Ab und zu bleibt unsere 'Stimme' stehen, einmal betritt sie
eine Wohnung. Außer den geheimnisvollen Bildern an den Wänden sind die Räume
leer. Einen Moment später geht das Licht aus. Im Dunkeln suchen wir die
Spuren des verschwundenen Freundes. The Walk heißt die originelle
Aufführung des Künstlerpaars Cuocolo/Bosetti, bekannt auch unter dem Namen
IRAA Theater. Weltweit beliebt für ihre selbstentwickelten Stücke, die
meistens im eigenen Wohnzimmer
–
im australischen Melbourne oder nur 85 km von Turin entfernt, in Vercelli
–
spielen, wagen sich Renato Cuocolo und Roberta Bosetti diesmal hinaus ins
Freie. "Sich in Bewegung setzen, bedeutet immer einen Wandel der eigenen
Welt", sagt das Künstlerduo über sein neuestes Werk. Auf spannende und
zugleich rührende Weise erzählen sie vom verstörenden Erlebnis des
Verschwindens eines lieben Freundes.
Auf der
Schultafel über das Mittelmeer nach Ägypten
Eine
einzigartige Vorstellung inmitten einer Veranstaltungsreihe der besonderen
Art: Vom 1. bis zum 22. Juni bot das Festival delle Colline Torinese, das
2014 bei seiner XIX. Auflage angelangt ist, knapp dreißig hochkarätige
Produktionen
– mal an herkömmlichen, mal an ungewöhnlichen Spielorten.
So zum
Beispiel in einem Kirchenschiff, dem Sportsaal einer Schule, in verlassenen
Gießereien oder Heizwerken der ehemaligen Lancia-Fabrik.
Bekannt für
seine Aktualität, hat sich das Festival in den letzten Jahren
mit dem facettenreichen Krisenbegriff sowie sozial brennenden Fragen wie
Rassismus, Diskriminierung, Emigrantenflut und Freiheitsentzug befasst.
Zugleich wurde im Programm deutlich, dass der Trend der experimentellen und
innovativen Produktionen auch dieses Jahr seine Fortsetzung fand. Unter dem
Motto Das Leben aller (le vite di tutti) luden die
Organisatoren Künstler ein, sich mit der Auswirkung der weltweiten
politischen Ereignisse auf die italienische Gesellschaft zu beschäftigen.
Ist es möglich, die Bedeutung eines historischen Zwischenfalls durch die
Worte einer jungen Bloggerin zu verstehen? Können Kontinente nur durch die
eigene Vorstellungskraft und die Tweets einer Gleichaltrigen bereist werden?
Rund um diese Reize legte die Gruppe "Muta Imago" ihre Performance
Pictures from Gihan an. "Wir haben versucht, die ägyptische Revolution von
2011 durch die in den sozialen Netzwerken hinterlassenen Spuren der
25-jährigen ägyptischen Journalistin namens Gihan zu erzählen", erklären
Riccardo Fazi und Claudia Sorace ihr Vorgehen. Das zwischen Rom und Brüssel
pendelnde Künstlerduo, bekannt unter dem Namen "Muta Imago", beschäftigt
sich seit seiner Gründung 2004 mit dem Verhältnis von Bühnenraum und
Realität, von gelebter Geschichte und künstlich gespiegelten Abbildern.
Mit
ihren Inszenierungen konnten Regisseurin Claudia Sorace und Renato Fazi,
zugleich Autor und Sound-Designer, in der italienischen Theaterszene einen
wichtigen Impuls für eine neue Form des visuellen Theaters setzen.
Zum Einsatz kommen Tischlampen, Mikrofone, Laptops, Mobiltelefone, Schatten, Videoprojektionen.
Ein Holzbrett, auf dem Sorace, mit Helm und Stiefeln ausgerüstet, wortwörtlich
in die Fußstapfen von Mubaraks Armee tritt. Eine Schultafel, vor der sie
Schwimmbewegungen nachahmt. Währenddessen zeichnet Fazi mit Kreide auf einer
anderen Tafel ein um die Sonne kreisendes Planetensystem. Und immer wieder
der Versuch eines Dialogs mit der unsichtbaren Gihan. Mit einfachsten
Mitteln, stimmigem Licht und einer aussagekräftigen Soundcollage sind die
Geschehnisse rund um den Tahrir-Platz derart verdichtet, dass Verzweiflung,
Angst und Hoffnung aufs Intensivste erlebbar werden.
Gepflegtes internationales Ambiente
Solche
aparten Inszenierungen sind das Herzstück
der Festspiele. Mit etablierten Namen wie
Teatro delle Albe, Fanny & Alexander, Motus, ricci/forte oder
Societas Raffaello Sanzio zeigte das Festival "einen
repräsentativen Spiegel der zeitgenössischen italienischen Theaterszene" und
würdigte erstmals gleich drei international bekannte Autoren: Antonio
Latella, Emma Dante und Lucia Calamaro. Jedoch beschränkte sich das Programm
nicht nur auf italienische Künstler. Nachdem die zwei Festspieldirektoren,
Sergio Areotti und Isabella Lagattolla, im Millenniumsumbruch ihre Fühler
ins benachbarte Frankreich ausgestreckt hatten, schritten sie 2003 weiter
nach Spanien und anschließend nach Deutschland und Rumänien.
Zum ersten Mal
gastierte dieses Jahr einer der bedeutendsten Autoren und Regisseure des
jungen japanischen Avantgarde-Theaters, zusammen mit seiner 1997 gegründeten
Gruppe "chelfitsch", in Turin. In seinem neuesten Stück Super Premium
Soft Double Vanilla Rich – eine Auftragsarbeit des heurigen Mannheimer
Festival "Theater der Welt" – parodiert Toshiki Okada einen Ausschnitt aus
dem japanischen Alltagsleben: die ungehemmte Konsumlust. Die in einem 24
Stunden lang geöffneten Convenience-Laden angesiedelte Performance
untersucht durch eine raffinierte Mischung aus Bach-Musik und fantasievoller
Entkoppelung von Gestik und Gesprochenem die im Kapitalismus tief
verwurzelte Mittelklasse.
Auch in der
europäischen Gegenwartsdramatik spielt das Festival delle Coline Torinese
eine wichtige Rolle. Als Mitglied des Netzwerkes "Fabulamundi. Playwriting
Europe" schlug es drei Stücke aus diesem internationalen Autorenprojekt vor,
unter anderem Die Unsicherheit der Sachlage von Philipp Löhle, einem
der Spitzenautoren der neuen Dramaturgie Deutschlands und Luft aus Stein
der ebenfalls aus Deutschland stammenden Autorin Anne Habermehl.
Spezielle
Workshops, zugeschnitten auf die Studierenden der "Scuola Holden –
Storytelling and Performing Arts" sowie ein umfangreiches Rahmenprogramm mit
Filmprojektionen und Publikumsgesprächen, ergänzten das Festivalangebot.
Besonders beeindruckend fand ich die Ausstellung Augen des Festivals
(occhi di festival) von Andrea Macchia, die neben Stückausschnitten
auch ein sich über mehrere Wände ausbreitendes Augen-Puzzle zeigte. "Es war
mir wichtig, die vorjährige XVIII. Auflage durch die Augen der beteiligten
Künstler darzustellen, denn Volljährigkeit bedeutet für mich
Verantwortungsübernahme", meint der sympathische Fotograf. Ein
außergewöhnlicher Weg, die Zeit anzuhalten und kurzlebige, Aufsehen erregende
Theaterfragmente zu verewigen.