Notiz

Eine Meinung zur Kritik

Diskurs: Tristan Marquardt: Zur prekären Lage der Lyrikkritik, signaturen magazin, 24.03.2016

Lyrik-Kritik ist ein Text, ein Gebrauchstext. Texte werden geschrieben, um gelesen zu werden. Gelesen werden sie, wenn sie Erwartungen der Leser erfüllen, die fangen beim Bedürfnis an, nicht gelangweilt zu werden. Die Leser erwarten eine Art von (meist emotionaler) Berührung durch den Text, sie haben informationelle Bedürfnisse und sind in seltenen Fällen auch auf Erkenntnis (im engen Sinn) aus. Das Vehikel für die emotionale Berührung stellt typischerweise die Lese-Erfahrung des Rezensenten dar, das hat vielleicht etwas mit Mode zu tun, ist aber eine Figur, die auch im professionellen Feuilleton das klassisch auktoriale Abhandeln des Gegenstandes weitgehend ersetzt hat.

Für letzteres ist dem Autor sicherlich eine wissenschaftliche Ausbildung hilfreich, möglichst eine Geisteswissenschaftliche. Nur für das letztgenannte schmale Nischenpublikum zählt eine sauber durchdachte Argumentation, zählen Relationen zu anderen Autoren, Vorgängern, zählt die Einordnung in die Geschichte des Fachs, zählen ‚Poetologien’. Es ist sehr schwierig, eine erkenntnisorientierte Kritik so zu schreiben, dass sie ein Publikum findet, in der Lyrik wären das mit Glück – ich schätze mal frei und großzügig: hundert Leser (Musik-Kritik spielt in einer anderen Liga, auch im Indie-Bereich, nicht wahr?).

Die Bedürfnislage des Publikums geht in etwa in diese Richtung - um ein unverfängliches Beispiel aus benachbartem Feld zu wählen: das hier ist ein Splatter-Movie, fünf Jugendliche in der Waldhütte und er erfüllt die Genre-Erwartungen prächtig, selten wurde die Schnitte zwischen Kettensägen und Armsehnen, die Konflikte zwischen angstvollen Frauenaugen und fiesen Holzsplittern so gut verzahnt und zugespitzt wie in diesem Werk. Hat der Autor dies rübergebracht, bisschen was vom Inhalt erzählt und seine Einschätzung erläutert, dann weiß die Masse der Leser, für wen der Film gemacht ist und ob sie ihn sich reinziehen wollen.

Ist der Autor vom Fach, schreibt er vielleicht noch: setzt Masstäbe wie die frühen Rodriguez, schwurbelt Spektakuläres von den Spezialeffekten oder innovativen Raffinessen in der Dramaturgie – und die wenigen anderen Splatter-Spezialisten können mit Glück etwas mit seinen Sätzen anfangen, das breitere Publikum hat er damit bereits aus dem Blick verloren. Will sagen: das Publikum möchte aus einer Lyrik- Kritik eine halbwegs verlässliche Einschätzung gewinnen: würde es mir Spaß machen / mir etwas bringen, das Buch selbst zu lesen? Soll ich es gar kaufen?

Marquardt hat natürlich recht, wenn er die inzestuösen Verquickungen kritisiert: welcher angehende Jung-Lyriker würde seine Träume von einer kook – Veröffentlichung durch eine allzu forsche kook-Kritik riskieren? Kann ein Autor durch Kollegen-Kritik gewinnen? In erster Näherung: nein. Kann er durch Kollegen-Lob gewinnen? Ja. Er kann sich einen Namen machen, Sachkenntnis zeigen, sich vernetzen, dabei sein, wenn einer in seinem Netzwerk sich aufmacht und einen Verlag oder eine Zeitschrift gründet. Mit dem Reüssieren als Autor legt sich in der Regel die Rezensionswut schnell. Rezensenten, die länger dabeibleiben, sind von daher Menschen, die sich genau wie Marquardt es fordert, als Zwitter sehen, fermentierende Dienstleister, denen die eigene Aktivität Kriterien (und Schreibformen) eröffnet, die dem rein feuilletonistischen Berufskritiker nicht zugänglich sind.

Ob dies nun durch Förderstrukturen objektiviert würde? Wäre es richtig, wenn Autoren wie Braun, Buselmeier, Brôcan oder Bleutge vom ‚Verband der Lyrikschaffenden’ oder einer sonstigen Interessenvertretung finanziert wären, statt von SZ und NZZ und anderen? Mich beschliche da leichtes Gruseln.

Und zu fragen ist nach der literarischen Qualität des geforderten Ansatzes, was versteht Marquardt eigentlich unter ‚Professionalisierung’ der Kritik? Ein argumentativer Diskurs über und in Gedichtkritiken, gar ein Regelwerk für korrekte Lyrikkritik wäre in meinen Augen etwa so zeitgemäß wie ein Herbstgedicht voll Farb und Reim. Die Textfläche eines Gedichtbands in einem traditionell Verstandesgebundenen Feuilleton-Format aufzubrühen und öffentlich durch die Zähne zu ziehen: mir erscheint das selten sachgerecht. Jeder Text startet einsam, der Primärtext wie der Sekundärtext.

Journalistische Mängel: stören mich persönlich selten, erklären sich meist aus der Unerfahrenheit des jeweiligen Autors, handwerkliche Defizite lassen sich leichter erkennen und beheben als ein dröge-routinierter Ton. Häufiger stört mich an journalistisch ‚guten’ Texten die Konventionalität des Verständnisses von Sprache und eine vorgeschobene Pseudo-Objektivität. Ein ‚Kritiker’ muss – meine Meinung – als Person in die Bütt steigen, und er muss sich als pars pro toto nehmen, seine Subjektivität ausbreiten und offenlegen, so dass das Publikum abspüren kann, ob es ähnlich tickt, ähnliche Kriterien anlegt. Nur so kann eine Kritik freilassend sein. Ich halte den Nutzen von meinungsbegründenden Argumenten (abgesehen von den oft amüsanten Machtspielchen, die bei dieser Textform meist dicht unter der Oberfläche aufgeführt werden) für sehr begrenzt. Man kann den Sprung in die lyrische Arena qualitativ nicht durch noch so viele sauber aneinandergefügte Sidesteps beschreiben.

Letzte Aktualisierung 26.3.2016

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