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Kritik

Die Geschichte lehrt. Lehrt die Geschichte?

Hamburg

„Die Geschichte lehrt […]“ So beginnt der 1708 Seiten in zwei Bänden umfassende historische Roman „Die Drei Reiche“, in dem die Zeit nach dem Zusammenbruch der großen, mit dem Imperium Romanum vergleichbaren Hàn-Dynastie dargestellt wird. Bereits nach der Lektüre des ersten Kapitels wird deutlich, dass der Blick der handelnden Mächtigen die Perspektive des Autors ist. Es ist ein kalter, das Einzelschicksal in die große Zahl auflösender Blick, der befremdet:

In dem Monat, als Zhang Liang und Zhang Bei [Rebellen, RS] mit ihren besiegten Truppen abzogen, versperrte Cao Cao ihnen den Weg. Seine Leute töteten die Rebellen reihenweise und hieben mehr als zehntausend Köpfe ab. [Bd. 1: 27]

Abgesehen davon, dass 一陣 yìzhén im militärischen Zusammenhang wohl eher „die gesamten Schlachtreihen“ bedeutet und nicht „reihenweise“, zeigt, dass der Blick auf den individuellen Rebellen und sein Schicksal nicht von Interesse ist. Daran ist nichts Neues zu lernen, es ist einfach das Wesen militärischer Gewalt bis hin zu den Tornados der Bundeswehr in Incirlik, die schon einmal Zielphotos1 eines angeblich von Terroristen bewohnten Hauses an die Bomber der USA liefern, das sich dann als von mindestens 30 Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, bewohnte ehemalige Schule herausstellt oder bis zu einem Herrn Klein, der 91 Dorfbewohner, die sich unentgeltlich Benzin verschaffen wollen, mitsamt einem von den Taliban-Rebellen entführten Tanklastzug wegbomben lässt.

Was vielleicht dennoch heute zu lernen wäre, ist, dass der historische Prozess im angeblich so pazifistischen Altchina nicht weniger mit Massakern vonstattenging, als in anderen Breiten des Globus und in der Gegenwart.
Die Arbeit wird auf dem Vorsatzblatt des ersten Bandes als „Erste Gesamtübersetzung ins Deutsche bezeichnet“ und zwar nach der Textfassung des Literaturkritikers der frühen Qíng-Dynastie 毛宗崗 Máo Zōnggāng aus Sūzhōu, 1632–1704. In der mir vorliegenden Ausgabe ebendieses Herausgebers2 beginnt das zweite Kapitel mit einer Reflexion über die Temperamente handelnder Figuren, die ausgelassen ist, immerhin 18 Textzeilen. Es mag Gründe für diese Auslassung geben, dann sollten sie im Nachwort oder in einer Fußnote mitgeteilt werden, fehlt die Begründung, ist der Begriff der „Gesamtübersetzung“ jedenfalls fragwürdig. Die Annahme liegt nahe, dass es mehrere solcher Auslassungen gibt, für eine Kurzkritik jedoch ein mühsames und zeitaufwendiges Unterfangen, alle aufzuspüren. Es fällt auf, dass die von Eva Schestag in ihrer Literaturliste nicht genannte Übersetzung von Yu Sumei3 aus dem Jahre 2014 (!) ebenfalls diese Auslassung aufweist, allerdings nicht den Anspruch der Gesamtübersetzung erhebt.

Zwischenüberlegung zur Frage der Vorgängerübersetzungen:

In gewisser Weise gleichen wir Übersetzer nach einer mindestens ein Jahrhundert langen Geschichte der Sinologie den Solisten oder Dirigenten unter den Musikern. Sie werden die konservierten Interpretationen ihrer Vorgänger kennen, wenn sie sich zu ihren Interpretationen aufmachen und so verhält es sich auch bei Sinologen oder sollte sich doch so verhalten. Viele der großen Werke liegen in Übersetzungen in mehrere europäische Sprachen vor, die selbstverständlich einen wichtigen Teil der Rezeption eines Werkes darstellen. In meiner Sicht gebietet es die wissenschaftliche Fairness, die Übersetzungen mindestens in die Literaturangaben, handele es sich auch um eine „Auswahl“, aufzunehmen, zumal wenn es sich wie im genannten Fall um eine rezente Arbeit handelt und die meisten deutschen Leser Englisch zu lesen vermögen.

Der große Übersetzer des 水滸傳 Shuǐhúzhuàn „An den Ufern der Flüsse4“ ins Französische Jaques Dars, 1941–2010, listet in seiner Bibliographie unter „Traductions“ acht Titel, darunter auch eine japanische Übersetzung, auf. Das ist in meinem Verständnis guter Stil; eine Erstbesteigung des Mount Everest ist seit den Herren Norgay und Hillary nicht mehr möglich. Will man Erstübersetzer sein, sollte man sich entsprechende „unbestiegene Berge“ auswählen.

Übersetzungskritik muss vom Wort ausgehen und was läge in diesen Tagen näher, als den besten Satz Martin Luthers zu zitieren: „Das Wort sie sollen lassen stahn …“. Zu Beginn des zweiten Kapitels möchte 張非 Zhāng Fēi den kaiserlichen Beamten 董卓 Dǒng Zhuō töten, aber seine beiden Schwurbrüder wenden sich dagegen. Bei Eva Schestag sagt Zhāng Fēi [S. 30]: „Wenn ich diesen Knecht nicht töte …“ Nun ist 廝 in der Epik der Míng-Zeit eine äußerst häufige pejorative Bezeichnung, die mit „Knecht“ recht schwach übersetzt ist, „Kerl“ oder „Schuft“ wäre treffender, Yu Sumei hat als kräftige Entsprechung wretch [Vol. 1, S. 22]. In zahlreichen Fällen übersetzt Eva Schestak für mein Empfinden nicht präzise genug. Im genannten Kontext heißt es von den beiden Schwurbrüdern: „Xuande und Guan Yu versuchten, ihren Bruder davon abzuhalten […]“. Chinesisch: 玄德與關羽急止之 Xuán Dé und Guān Yǔ beeilten sich ihn abzuhalten … „versuchten“ ist eine zu schwache Wiedergabe des Wortes 急 . Und weiter [ebenda]: „Du darfst ihn nicht ohne Befehl töten“. 擅 shàn gleich „ohne Befehl“? Wörtlich: Du solltest nicht deine Kompetenzen überschreiten …, dann: Maße dir nicht an, ihn zu töten ... Nach Kurzem löst sich der Dissens auf und Eva Schestag legt Zhāng Fēi eine schöne deutsche Wendung [ebenda] in den Mund: „Wenn es so ist, ist mein Zorn schon verraucht.“ So schön, so ungenau: 恨 hèn ist ein anderer Affekt als Zorn: Hass oder abgeschwächt Abneigung, Ärger, Missfallen. Wenn es sich so verhält, legt sich mein Missfallen (oder Ärger). Im Folgenden lässt Eva Schestag die pejorative Bezeichnung der Rebellen als „Diebe, Gesindel, Lumpen“ 賊 zéi unberücksichtigt, der kurze Satz 與賊對敵 bleibt unübersetzt. Es handelt sich hier nicht um pedantisch herausgesuchte Geringfügigkeiten, sondern es ist zu befürchten, dass sich die mangelnde Präzision fortsetzt.

Wer sich für die Zeit nach dem Zusammenbruch der großen Hàn-Dynastie mit ihren Kämpfen um ein neues Machtzentrum interessiert, mag sich den Text vornehmen, er wird in der Regel den Originaltext nicht neben die Übersetzung platzieren. Den Sinologen stört, nein ärgert die mangelnde Genauigkeit, 氣 ist nun wirklich einer der Kardinalbegriffe der chinesischen Geistesgeschichte und als Chi gar in unsere Sprache übernommen worden
5. Im Kampf setzen die Rebellen 黑氣 schwarzes Qì hēiqì ein, es wird bei Eva Schestag zu einem „Gebilde aus schwarzem Rauch“, ein Gebilde aus Rauch? Weniger umständlich und genauer wäre: „ein schwarzes Fluidum senkte sich vom Himmel herab …“.

Selbstverständlich ist die Arbeit eine mit großer Mühe verbundere Leistung, der Blick des sinologischen Übersetzers unterscheidet sich allerdings von dem des allgemein an chinesischer Literatur interessierten Publikums, er ist ein fachlich geprägter. Ich hätte mir in vieler Hinsicht größere sinologische Solidität gewünscht.

  • 1. http://www.tagesspiegel.de/politik/syrien-bundeswehr-machte-vor-toedlich...
  • 2. (明) 羅關中 原著,(清) 毛宗崗 評改: 三國演義 上海古籍出版社,上海 1994, ISBN 7-5325-0335-6
  • 3. Yu Sumei [Übers.]: Luo Guanzhong, “The three Kingdoms”, (Vol. 1-3), edited by Ronald C. Iverson, Tuttle Publishing, Tokyo, Rutland Verm., Singapore 2014 ISBN 978-0-8048-4393-5
  • 4. Der Autor des besprochenen Werkes 羅關中 Luò Guànzhōng soll nach einigen auch an diesem Roman beteiligt gewesen sein.
  • 5. Im Online-Duden werden sogar die beiden Schreibweisen Qi und Chi aufgelistet. Die Bedeutung wird mit „Lebensenergie“ angegeben.
Luo Guanzhong
Die Drei Reiche
Aus dem Klassischen Chinesischen von Eva Schestag
S. Fischer
99,00 Euro
ISBN:
978-3-10-027041-2

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