Vorwissenschaftlich – eine Begriffsbefragung
Die Gegenaufklärung ist eine historische Epoche, assoziiert etwa mit Joseph Marie, Comte de Maistre, oder Louis Claude de Saint-Martin – also ein Phänomen, das im Wesentlichen Ende des 18. oder Anfang des 19. Jahrhunderts sein Ende fand. So liest es sich auch etwa in der wikipedia; bloß: Ist es nicht gegenaufklärerisch, wie heute dem Denken das Googeln oder eben das Konsultieren der wikipedia vorgezogen wird, wie eine göttliche Verbalinspiration bei Beibehaltung der Struktur bloß ersetzt wurde: durch raffinierte Algorithmen oder eine vorgebliche „Schwarmintelligenz”?
Der souveräne Bürger verkommt so zu etwas, das schon Kant beschrieb: „Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.” Man braucht nicht allzu viel Phantasie, um hier Buch durch google zu ersetzen, oder Seelsorger etwa durch Coach, womit der Bildung noch beim Konsultierten, der seelenlos agieren darf, durch Pseudoaufklärung der Garaus gemacht ward. Vom autonomen Menschen aber bleibt der heteronome Konsument, der sich gängeln läßt, und zwar durch von der Obrigkeit gerne geförderte „Faulheit und Feigheit”…
Das bedeutet nicht, man dürfe nicht mehr wen oder was auch immer konsultieren – die Aufklärung selbst führte zu einer Diversifikation der Fächer und der Heuristiken, die dem Zunehmen der Information entspricht, die man aber nicht fürs Faktum nehmen darf; oder: gerade wörtlich, denn das Faktum – factum – ist gemacht, wie der qua Latinum sprachlich Emanzipierte lesen kann.1
Was heute Wissen sei, das sind – bestenfalls absichtslos – zusammengetragene Informationsdeponien, unverfügbar, wenn man der Bildung ermangelt, die aber wieder zum Herrschaftsdenken wurde, und zwar klammheimlich, indes innerhalb der Herrschaft doch programmatisch. Die Herrschaft ist nicht kompetent, wie das Modewort lautet, doch verfügt sie über jene „Inkompetenzkompensationskompetenz” (Odo Marquard), die das Interieur betreffend Autonomie stiftet und diese in Politik übersetzt. Dem digitalen Metöken erklärt man für verstaubt, was einem selbst dessen Expertise zu günstigen Tarifen sichert und ihn wie die, die es nicht einmal so weit brachten, ausschließt. Seine Ausbildung ist „Halbbildung” im Sinne Adornos: „Integration des gleichwohl weiter Nichtintegrierten”, effizient in ihrem Scheinhumanismus und seinem Pendant von unten, dem „Geist […] mißlungener Identifikation”, der eben dieses Verfehlen natürlich unklar bleibt.
Man könnte fragen, warum die Bildung ihr einst universales Moment aufgab, ob es Resignation vor der Aufklärungsresistenz derer ist, die Untertanen sind und bleiben wollen, oder etwa die Einsicht, daß die Postmoderne, die das Ende versicherbarer Projekte einläutete, auch eine Obergrenze des Kapitals bedeuten zumindest könnte, also Kooperation doch ein Nullsummenspiel werden mag – und man einer instrumentellen Vernunft nicht leicht widersprechen kann, die also das wackere Unternehmertum doch wieder einem Feudalismus nachordnet. Gerade die sich als modern inszenierende Zunft der Elektronikindustrie mag allein darin Vorreiter sein, kaum Mehrwert zu schaffen, weder durch eigentliche Innovation noch das Schaffen von gewissermaßen sozialem Kapital, sondern am Distinktionsdruck innerhalb der erwähnten Digitalmetöken auf recht stupide Art Geld zu verdienen. Wer über die neueste Smartphone-Generation Bescheid wissen will, sollte Bourdieu lesen...
Neu ist, wie sich die Experten selbst verhökern, die einst mit ihrer Bildung integraler Bestandteil modernen Herrschens wurden; vielleicht sind sie es noch, vielleicht kommt die rigorosen Sparer es noch teuer, jenen, die womöglich doch notwendigerweise an der Herrschaft und Bildung als Herrschaftspraxis partizipierten, die Tür zu weisen. Ein Erodieren des „Westens” kann man konstatieren: Ob man einer Führergestalt wie Putin, einer vorgeblichen Vernunft der Alternativlosigkeit oder Allah folgt, ist für Ungebildete nicht oder zufällig zu entscheiden – das Fatum kehrt zurück, als genetischer Optimismus, wonach die Bildung bloß weichen müßte, um 90% der Kinder als hochbegabt einfach nur nicht zu beeinträchtigen, als Praxis ohne Theorie, worin Abläufe (Kompetenzen) das Verstehen ersetzen, als Management, das man als eine Mischung aus Glück und herrschaftlichem Zynismus beschreiben könnte, das aber wie eine spirituelle Qualität gefeiert wird, … Leicht ließe es sich fortsetzen, was Bildungsexperten anempfehlen, seit die Expertenbildung ebensolchen Maßnahmen zum Opfer fiel.
Gerade ein Prestigeprojekt, die österreichische VWA, „Vorwissenschaftliche Arbeit”2, wie man es schon hinreichend fragwürdig nannte, zeigt die Defizite dessen, was sich heute als Ausbildung selbst nicht mehr begreift. Man könnte meinen, hier sei eine Propädeutik zur Wissenschaft gemeint, die sich darin vorläufig vollendet, daß der Schüler erste Fingerübungen in jenem Bereich der intellektuellen Autonomie unternimmt, welche Wissenschaft ist; so entspräche die VWA dem, was gymnasiale Bildung einst war: Hinführung zur Studienreife einerseits, andererseits aber zu einer Mündigkeit, die sich ja nur unter anderem in eben jener Fähigkeit ausdrückt, an einem wissenschaftlichen Diskurs teilzuhaben, um ihn dereinst mitzugestalten.
Doch schon im Vorfeld wird dem entgegengewirkt; gerade diese Eigenständigkeit wird durch eine uniforme Kompetenz, Standards zu erfüllen, aber niemals überzuerfüllen, erdrückt, wobei die antizipierte und folgenlose Aktivität des Schülers gerade darüber hinwegtäuscht, daß unvorhersehbar und folgenreich es einst war, Schüler einfach im Denken zu unterweisen, qua Grammatik, um nur ein Beispiel zu nennen – die Autonomie danach ist nicht lehrbar, doch ist sie, wenn man den Schüler im Vernunftgebrauch verschiedener Paradigmen unterweist und ansonsten „ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich.” (Kant)
Stattdessen aber herrscht betriebsames Erlernen von nicht etwa Paradigmen in ihrer Folgerichtigkeit, sondern praxisnah der Anwendung undurchschauter Routinen – als sei etwa Informatik letztlich magisches Ritual; und die Beschwörungen wären die brav gelernten shortcuts oder hotkeys etc. der Programme, die das, was Informatik wäre, (dem Schüler so: vor-)enthalten, „Kurzschluß in Permanenz” ist eine Wendung Adornos, die einem zu den shortcuts sohin nicht zu Unrecht einfallen mag. Ausbildung ist (jedenfalls: solcherart vermittelt), wie Adorno wußte, Vereitelung eines Nebeneinanders von einerseits ihr und Bildung andererseits, sie macht deren latenten Eigensinn vergessen: „Das halb Verstandene und halb Erfahrene ist nicht Vorstufe der Bildung sondern ihr Todfeind”, was nicht reziprok gilt, da Bildung durchaus Ausbildung ja nicht negierte und ihre Fetischisierung ihr ohnedies fremd ist, jedenfalls, wo Bildung in der Tat Bildung meint: „Bildung, welche […] sich selbst setzt und verabsolutiert, ist schon Halbbildung geworden.”
Vorwissenschaft ist so Wissenschaft, die diese verabsolutiert, während sie sich scheinbar demütig vor ihr mit einem Vor- bescheidet, fetischisiert und destruiert sie sie: Ja, bereits der Name ist Programm. Wissenschaft ist per se keine Technik, keine Methode, sie erfindet Methoden und erprobt von ihr erdachte Techniken, kann also, wie ich mit Derrida schon einmal in Erinnerung rief, „Regeln, Verfahren, Techniken hervorbringen, aber im Grund genommen ist sie keine Methode”, Worte, die Derrida auf die Dekonstruktion bezieht, die aber auch auf unserem Feld gelten: auf einem Terrain des Tastens, der (impliziten) Fragestellungen und ihrer zu bedenkenden3 Tauglichkeit. Sie ist ein Tasten, dem neben Routine das Vortastende, Experimentelle und Vorläufige permanent eignet.
Das unterschlägt die Vorwissenschaft, all das Vortastende nimmt man der Wissenschaft gleichsam durch das ihr mit dem unglücklich gewählten Terminus Vorwissenschaft entzogene Vor-, das einem erst jetzt merklich abgeht, wo es etwas anderes ziert, das aber gar nicht Vorwissenschaft ist, sondern Nichtwissenschaft, wenn Wissenschaft erst um diese Vorläufigkeit, die das Methodenbewußtseins einst umriß, reduziert wird und also eine Technik oder Fertigkeit ist, nein: würde. Darum sagte der Professor oder Assistent zum Studenten gerne „Kollege”, ein sich entfaltendes Problembewußtsein einte beide, als die Wissenschaft noch nicht ECTS-Punkten und einer Verschulung zwecks Effizienz (wovon, inwiefern?) geopfert wurde. Ist aber Wissenschaft, und das ist das gleiche Problem dann auf Hochschulniveau, bloß Kompetenz und nicht Bildung, die mit sozusagen genuiner Inkompetenz wirtschaftet, ist der Lernende vorkompetent: Ein vorkompetenter Schwimmer indes ertrinkt. Wird also eine Vorwissenschaftliche Arbeit dann dennoch vollendet, so zeichnet sie statt Kompetenz eher Präpotenz aus.
Tatsächlich ist selbst das Fragen der Vorwissenschaftlichen Arbeit mittlerweile ausgetrieben worden, man exorzierte die Kompetenz, auf daß die Bildung weiche: Die Fragestellung jeder Arbeit, wie sie zunächst explizit gefordert war, wird mittlerweile als optional bezeichnet, wie auch das Elaborat anders als die biedere Fachbereichsarbeit keinem Fach und keiner Disziplin mehr zugeordnet sein solle – man hat vergessen, daß nicht der Gegenstand, sondern eben doch die innere Epistemologie (zu der etwa auf Serres verwiesen sei4) eines Faches entscheidend ist. Wenn nach einem oft genannten Beispiel ein Schüler zu einem Lehrer, der nicht Biologie unterrichtet, aber Imker ist, geht, um seine Arbeit von diesem betreuen zu lassen, so muss er sich dennoch entscheiden, ob die Arbeit eine biologische ist – oder beispielsweise eine Arbeit zur Metaphorik der Biene im Kontext christlicher Ikonographie, wo die Biene unter anderem die Wiedergeburt versinnbildlicht, also eine etwa philologische, geisteswissenschaftliche Arbeit geplant ist, wofür man als Imker nicht zwingend der eigenete Imker wäre.
Was bleibt von der Bildung? Ein Kompendium der Zitationsregeln simuliert Kompetenz: Das So-und-nicht-anders-macht-man-das einer Anleitung durchzieht die Vorwissenschaft, die es schon darum eben zu nichts Interessantem bringt, von Glücksfällen abgesehen, da selbst der raffinierteste Proponent der Kompetenz nicht verhindern kann, daß Lernende vielleicht in der Tat etwas lernen und nicht nur einüben, Routine nicht für Expertise halten, die sich verortet: auch politisch, übrigens... Man könnte hier auch auf das bekannte Buch Georg Bangens zur schriftlichen Form germanistischer Arbeiten verweisen – das sozusagen der Ernstfall dessen ist, wozu die Zitierregeln in den Broschüren zur Vorwissenschaftlichen Arbeit anhalten.5
Es findet sich in diesem Band minutiös erklärt, wie die Formalia sein sollen, und zwar weitgehend ungeachtet dessen, daß es diesbezüglich verschiedene Usancen auf verschiedenen Instituten und bei verschiedenen Verlagen etc. gibt, besessen von der formaliter ideal gestalteten Wissenschaft, wiewohl (?) Georg Bangen seine eigene Dissertation nie abschloß...
Bildung als Wert für eine Gesellschaft wurde angesprochen; sie macht Strukturen intelligent, die sonst zum alles erstickenden Feudalismus erstarren. Bildung bewahrt aber vor allem sich selbst vor einem solchen rigor mortis, sie operiert mit Routine(n), aber doch immer auch gegen diese, „unicus, multiplex” (Abaelard) ist der Geist, der auch in ihr west. Sie ist Autonomie; das wissenschaftliche Denken samt dessen schulischer Vorbereitung wäre ihr schlechthinniger Ausdruck. Doch der Konjunktiv II könnte heute nicht begründeter sein. Bildung ist wieder das, was man trotz dem vorgeblichen Bemühen anderer erwirbt, sich erstreitet, dem Ausbildungswesen kurzum abtrotzt.
- 1. cf. Martin A. Hainz: Lapsus. Annotationen zu einer Fehler[kultur]wissenschaft Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S.44ff.
- 2. cf. www.ahs-vwa.at
- 3. cf. u.a. http://www.fixpoetry.com/feuilleton/essays/martin-a-hainz/zauber-der-anf...
- 4. cf. etwa Michel Serres: Aufklärungen. Fünf Gespräche mit Bruno Latour, übers.v. Gustav Roßler Berlin: Merve Verlag 2008 (=Internationaler Merve Diskurs 308), passim
- 5. cf. Georg Bangen: Die schriftliche Form germanistischer Arbeiten. Empfehlungen für die Anlage und äußere Gestaltung wissenschaftlicher Manuskripte unter besonderer Berücksichtigung der Titelangaben von Schrifttum Stuttgart [u.a.]: Metzler 91990 (=Sammlung Metzler, Bd 13 · Realien zur Literatur)
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Kommentare
Worum geht es ...
Eigentlich habe ich das Essay mit Genuss und Gewinn gelesen, wäre mir nur der Begriff der vorwissenschaftlichen Arbeit vertraut und sein österreichischer Verwendungszusammenhang bewusst gewesen. Nach dem Recherchieren krumpelt für mich die Argumentation doch ziemlich auf eine Beschwerde über einen - dem stimme ich zu - unschönen, unpassenden oder sogar dummen Begriff (Vorwissenschaft) zusammen. Gewiss: eine Vorwissenschaft kann es nicht geben - wie eben auch keine abgestuften Kriterien wissenschaftlicher Qualität für Seminar- und Bachelore-Arbeiten bzw. Promotionen und gereviewte (hässliche Wörter demonstrieren Hässlichkeit) Zeitschriftenartikel, nur unterschiedlich umfangreich-anspruchsvolle Themenstellungen. Auch DichterIn ist man, ohne es werden zu können: Es gibt eben Zustände/Eigenschaften, die sind nicht per schrittweisem Kompetenzaufbau, sondern nur qua Qualitätssprung bzw. Entscheidung zu erreichen (übrigens zählt auch das Lesen-Können zu ersterem). Bei wohlwollendem Betrachten der neuen österreichischen Matura-Regelarien scheint es mir bei der vorwissenschaftlichen Arbeit aber immer noch um Wissenschaftspropädeutik zu gehen - dem traditionellen Anspruch der gymnasialen Oberstufe. Dass sich dieser Anspruch inzwischen zunehmend auf seltenere und außergewöhnliche Lehrgangselemente konzentriert - wie in Deutschland auf eine besondere (fünfte) Prüfungsleistung im Abitur (die Studien- oder Seminararbeit) empfinde ich ebenfalls auch bedauerlich - und sehe es ebenfalls eher als zynisches Argument, dass auch die Universität bis hin zur Promotion zunehmend verschulte Züge annimmt. Doch die dumm als vorwissenschaftlich benannten zur Wissenschaft hinführenden Studienarbeiten als Problem hervorzuheben, erscheint mir falsch. Sie sind, wenn überhaupt, der Ort der Lösung - der vielleicht letzte Ort im gymnasialen Lehrgang an dem ein ergebnisoffenes, lediglich methodisch und diskursiv kontrolliertes Arbeiten an selbstgewählten Fragen gelebt (erprobt, geübt) werden kann. Dass es dabei - curricular bzw. bewertungstechnisch gesehen - "nur" um den Aufbau bzw. die Vertiefung von Kompetenzen der formal regelgerechten Zitierens und Argumentierens gehen kann, halte ich eher für ehrlich, konsequent und hilfreich: es sind die basics von Wissenschaft, die es WissenschaftlerInnen erlauben auch gewagteren, haltloseren (außerparadigmatischen) Fragestellungen nachzugehen - also nicht nur (verschult-schulkonforme) Normalwissenschaft zu betreiben. Was ich in dieser Situation wichtig finde (und woran ich universitär in meiner Lehre als auch in Schulkooperationen aktuell arbeite), ist es geeignete Themenangebote und Arbeitstrukturen zu entwickeln, die es SchülerInnen und Studierenden ermöglichen, "echtes" wissenschaftliches Arbeiten eigenaktiv zu "erspüren". Meine Hoffnung und Erfahrung ist, dass Facharbeiten in der gymnasialen Oberstufe durchaus einen solchen experimentellen Raum darstellen KÖNNEN.
Krumpeln
Wenn dem Leser ein Text "zusammenkrumpelt", sollte er seine Lektürekompetenz in Frage stellen, anstatt Redundantes hinzuzufügen. Könnte man sagen, wenn einem der Kommentar wiederum dazu "zusammenkrumpelt".
Hass
Ach, wieviel Hass in so wenigen Worten ...
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